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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795.

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Seufzer des Menschen anzureden und der wankende
Ton wand sich zu tief in ein weiches Herz. -- Da
standen beide an einem vom Gebüsche dunkel über¬
bauten Grabe -- auf dem Grabe lag ein schwarzer
Marmor, auf dem ein überschleiertes blutloses wei¬
ßes Herz und die bleichen Worte standen: es ruht.
-- Es war darunter das Aschenherz von der Gelieb¬
ten des Lords, die im 23ten Jahre der Ruhe in die
Arme fiel -- Nie schauderte Viktor so: nie sah er
auf einem Gesicht eine solche chaotische wechselnde
Welt von fliehenden, kommenden, kämpfenden, ver¬
gehenden Empfindungen; nie starrte ein solches Eis
der Stirne und Augen über krampfhaften Lippen --
und ein Vater sah so aus und ein Sohn empfand
es nach.

"Ich bin unglücklich" sagte langsam sein Vater:
eine beissende bittere Thräne brannte am Augapfel;
er stockte ein wenig und stellte die fünf ofnen Fin¬
ger auf sein Herz als wollt' ers ergreifen und her¬
ausziehen und blickte auf das steinerne blasse als
wollt' er sagen: warum ruht meines nicht auch?
-- Der gute sterbende Viktor, zermalmet von lieben¬
dem Jammer, zerrinnend in Mitleid wollte an den
theuern verheerten Busen fallen und wollte mehr
als den Seufzer sagen: "o Gott, mein guter Va¬
"ter!" aber der Lord hielt ihn sanft von sich ab
und die Gallenzähre wurde unvergossen vom Auge

Seufzer des Menſchen anzureden und der wankende
Ton wand ſich zu tief in ein weiches Herz. — Da
ſtanden beide an einem vom Gebuͤſche dunkel uͤber¬
bauten Grabe — auf dem Grabe lag ein ſchwarzer
Marmor, auf dem ein uͤberſchleiertes blutloſes wei¬
ßes Herz und die bleichen Worte ſtanden: es ruht.
— Es war darunter das Aſchenherz von der Gelieb¬
ten des Lords, die im 23ten Jahre der Ruhe in die
Arme fiel — Nie ſchauderte Viktor ſo: nie ſah er
auf einem Geſicht eine ſolche chaotiſche wechſelnde
Welt von fliehenden, kommenden, kaͤmpfenden, ver¬
gehenden Empfindungen; nie ſtarrte ein ſolches Eis
der Stirne und Augen uͤber krampfhaften Lippen —
und ein Vater ſah ſo aus und ein Sohn empfand
es nach.

»Ich bin ungluͤcklich« ſagte langſam ſein Vater:
eine beiſſende bittere Thraͤne brannte am Augapfel;
er ſtockte ein wenig und ſtellte die fuͤnf ofnen Fin¬
ger auf ſein Herz als wollt' ers ergreifen und her¬
ausziehen und blickte auf das ſteinerne blaſſe als
wollt' er ſagen: warum ruht meines nicht auch?
— Der gute ſterbende Viktor, zermalmet von lieben¬
dem Jammer, zerrinnend in Mitleid wollte an den
theuern verheerten Buſen fallen und wollte mehr
als den Seufzer ſagen: »o Gott, mein guter Va¬
»ter!« aber der Lord hielt ihn ſanft von ſich ab
und die Gallenzaͤhre wurde unvergoſſen vom Auge

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[287/0298] Seufzer des Menſchen anzureden und der wankende Ton wand ſich zu tief in ein weiches Herz. — Da ſtanden beide an einem vom Gebuͤſche dunkel uͤber¬ bauten Grabe — auf dem Grabe lag ein ſchwarzer Marmor, auf dem ein uͤberſchleiertes blutloſes wei¬ ßes Herz und die bleichen Worte ſtanden: es ruht. — Es war darunter das Aſchenherz von der Gelieb¬ ten des Lords, die im 23ten Jahre der Ruhe in die Arme fiel — Nie ſchauderte Viktor ſo: nie ſah er auf einem Geſicht eine ſolche chaotiſche wechſelnde Welt von fliehenden, kommenden, kaͤmpfenden, ver¬ gehenden Empfindungen; nie ſtarrte ein ſolches Eis der Stirne und Augen uͤber krampfhaften Lippen — und ein Vater ſah ſo aus und ein Sohn empfand es nach. »Ich bin ungluͤcklich« ſagte langſam ſein Vater: eine beiſſende bittere Thraͤne brannte am Augapfel; er ſtockte ein wenig und ſtellte die fuͤnf ofnen Fin¬ ger auf ſein Herz als wollt' ers ergreifen und her¬ ausziehen und blickte auf das ſteinerne blaſſe als wollt' er ſagen: warum ruht meines nicht auch? — Der gute ſterbende Viktor, zermalmet von lieben¬ dem Jammer, zerrinnend in Mitleid wollte an den theuern verheerten Buſen fallen und wollte mehr als den Seufzer ſagen: »o Gott, mein guter Va¬ »ter!« aber der Lord hielt ihn ſanft von ſich ab und die Gallenzaͤhre wurde unvergoſſen vom Auge

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Zitationshilfe: Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/298>, abgerufen am 17.06.2024.