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Jean Paul: Flegeljahre. Bd. 4. Tübingen, 1805.

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Fällt und klagt mich jemand an, Bruder, so
verficht mich nicht; wahrlich, sobald man mich
haßt, so frag' ich wenig darnach, ob man mich
um drei Stufen stärker hasse oder nicht; und wie
viele Menschen verdienen es denn überhaupt, daß
man sich von ihnen lieben lässet? Mich ausge¬
nommen, nicht zwei, und kaum.

Wir beide waren uns einander ganz aufge¬
than, so wie zugethan ohnehin; uns so durch¬
sichtig, wie eine Glasthür; aber Bruder, ver¬
gebens schreibe ich aussen ans Glas meinen Cha¬
rakter mit leserlichen Charakteren: du kannst doch
innen, weil sie umgekehrt erscheinen, nichts lesen
und sehen, als das Umgekehrte. Und so bekommt
die ganze Welt fast immer sehr lesbare, aber
umgekehrte Schrift zu lesen.

Wozu sollen wir denn mit einander und von
einander Plagen haben? Du, als liebender Dich¬
ter, als dichtender Liebhaber, hältst deine künfti¬
gen so leicht aus, als ein Vogel das Erdbeben --
und ich meine so leicht, als eine Winterlandschaft
den Hagel. Aber warum war ich so dumm, und
trank täglich eine Flasche Burgunder weniger, ja

Faͤllt und klagt mich jemand an, Bruder, ſo
verficht mich nicht; wahrlich, ſobald man mich
haßt, ſo frag' ich wenig darnach, ob man mich
um drei Stufen ſtaͤrker haſſe oder nicht; und wie
viele Menſchen verdienen es denn uͤberhaupt, daß
man ſich von ihnen lieben laͤſſet? Mich ausge¬
nommen, nicht zwei, und kaum.

Wir beide waren uns einander ganz aufge¬
than, ſo wie zugethan ohnehin; uns ſo durch¬
ſichtig, wie eine Glasthuͤr; aber Bruder, ver¬
gebens ſchreibe ich auſſen ans Glas meinen Cha¬
rakter mit leſerlichen Charakteren: du kannſt doch
innen, weil ſie umgekehrt erſcheinen, nichts leſen
und ſehen, als das Umgekehrte. Und ſo bekommt
die ganze Welt faſt immer ſehr lesbare, aber
umgekehrte Schrift zu leſen.

Wozu ſollen wir denn mit einander und von
einander Plagen haben? Du, als liebender Dich¬
ter, als dichtender Liebhaber, haͤltſt deine kuͤnfti¬
gen ſo leicht aus, als ein Vogel das Erdbeben —
und ich meine ſo leicht, als eine Winterlandſchaft
den Hagel. Aber warum war ich ſo dumm, und
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[296/0302] Faͤllt und klagt mich jemand an, Bruder, ſo verficht mich nicht; wahrlich, ſobald man mich haßt, ſo frag' ich wenig darnach, ob man mich um drei Stufen ſtaͤrker haſſe oder nicht; und wie viele Menſchen verdienen es denn uͤberhaupt, daß man ſich von ihnen lieben laͤſſet? Mich ausge¬ nommen, nicht zwei, und kaum. Wir beide waren uns einander ganz aufge¬ than, ſo wie zugethan ohnehin; uns ſo durch¬ ſichtig, wie eine Glasthuͤr; aber Bruder, ver¬ gebens ſchreibe ich auſſen ans Glas meinen Cha¬ rakter mit leſerlichen Charakteren: du kannſt doch innen, weil ſie umgekehrt erſcheinen, nichts leſen und ſehen, als das Umgekehrte. Und ſo bekommt die ganze Welt faſt immer ſehr lesbare, aber umgekehrte Schrift zu leſen. Wozu ſollen wir denn mit einander und von einander Plagen haben? Du, als liebender Dich¬ ter, als dichtender Liebhaber, haͤltſt deine kuͤnfti¬ gen ſo leicht aus, als ein Vogel das Erdbeben — und ich meine ſo leicht, als eine Winterlandſchaft den Hagel. Aber warum war ich ſo dumm, und trank taͤglich eine Flaſche Burgunder weniger, ja

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Zitationshilfe: Jean Paul: Flegeljahre. Bd. 4. Tübingen, 1805, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_flegeljahre04_1805/302>, abgerufen am 06.05.2024.