Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].

Bild:
<< vorherige Seite

in natura zu sehn. Durch die Fürsorge meines Vaters wurde ich in den Stand gesetzt, meine Reisekasse von neuem zu füllen, und am 15. März 1821 rollten wir auf der Malleposte von Paris nach Calais. Mit uns fuhr ein junger Engländer, in dem man alsbald den feingebildeten Mann erkannte, weil er das französisehe mit seltener Reinheit sprach. Im Wagen war ein gedruckter Zettel angeheftet, worauf die Worte: II est defendu aux postillions, de rien demander aux voyageurs. Der Engländer las die Schrift mit Aufmerksamkeit, zog ein Bleistift hervor, und setzte vor "rien" ein "ne." Darauf prüfte ich auch die Weisung, sah den Engländer an und strich lächelnd das "ne" wieder aus. Nun kamen wir in ein lebhaftes Gespräch. Er behauptete, im zweiten Theile des Satzes müsse eine Negation stehn: ich bewies ihm, die Negation stecke in dem "defendu" des ersten Theiles; in diesem Zusammenhange bedeute "rien" nicht "nichts", sondern "etwas"; es sei aus dem lateinischen "rem" entstanden. Dies leuchtete ihm endlich ein, da auch in andern Sprachen eine doppelte Negation zur Affirmation wird. Unser Gefährte hieß Williams: er reiste für ein bedeutendes londoner Handlungshaus, und war uns in England von dem grösten Nutzen.

Die Poststraße von Paris nach Calais ging damals über Boulogne. Bei diesem letzten Orte erblickten wir von einer Höhe herab zum ersten Male das offne Meer, das in erhabner Ruhe ausgebreitet lag. Für uns Landratten, Graf Medem und mich, hatte der Anblick etwas bezauberndes, der Seemensch Williams, der das Meer schon wer weiß wie oft befahren, fand gar nichts außerordentliches daran.

in natura zu sehn. Durch die Fürsorge meines Vaters wurde ich in den Stand gesetzt, meine Reisekasse von neuem zu füllen, und am 15. März 1821 rollten wir auf der Malleposte von Paris nach Calais. Mit uns fuhr ein junger Engländer, in dem man alsbald den feingebildeten Mann erkannte, weil er das französisehe mit seltener Reinheit sprach. Im Wagen war ein gedruckter Zettel angeheftet, worauf die Worte: II est défendu aux postillions, de rien demander aux voyageurs. Der Engländer las die Schrift mit Aufmerksamkeit, zog ein Bleistift hervor, und setzte vor „rien“ ein „ne.“ Darauf prüfte ich auch die Weisung, sah den Engländer an und strich lächelnd das „ne“ wieder aus. Nun kamen wir in ein lebhaftes Gespräch. Er behauptete, im zweiten Theile des Satzes müsse eine Negation stehn: ich bewies ihm, die Negation stecke in dem „defendu“ des ersten Theiles; in diesem Zusammenhange bedeute „rien“ nicht „nichts“, sondern „etwas“; es sei aus dem lateinischen „rem“ entstanden. Dies leuchtete ihm endlich ein, da auch in andern Sprachen eine doppelte Negation zur Affirmation wird. Unser Gefährte hieß Williams: er reiste für ein bedeutendes londoner Handlungshaus, und war uns in England von dem grösten Nutzen.

Die Poststraße von Paris nach Calais ging damals über Boulogne. Bei diesem letzten Orte erblickten wir von einer Höhe herab zum ersten Male das offne Meer, das in erhabner Ruhe ausgebreitet lag. Für uns Landratten, Graf Medem und mich, hatte der Anblick etwas bezauberndes, der Seemensch Williams, der das Meer schon wer weiß wie oft befahren, fand gar nichts außerordentliches daran.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0489" n="481"/>
in natura zu sehn. Durch die Fürsorge meines Vaters wurde ich in den Stand gesetzt, meine Reisekasse von neuem zu füllen, und am 15. März 1821 rollten wir auf der Malleposte von Paris nach Calais. Mit uns fuhr ein junger Engländer, in dem man alsbald den feingebildeten Mann erkannte, weil er das französisehe mit seltener Reinheit sprach. Im Wagen war ein gedruckter Zettel angeheftet, worauf die Worte: II est défendu aux postillions, de rien demander aux voyageurs. Der Engländer las die Schrift mit Aufmerksamkeit, zog ein Bleistift hervor, und setzte vor &#x201E;rien&#x201C; ein &#x201E;ne.&#x201C; Darauf prüfte ich auch die Weisung, sah den Engländer an und strich lächelnd das &#x201E;ne&#x201C; wieder aus. Nun kamen wir in ein lebhaftes Gespräch. Er behauptete, im zweiten Theile des Satzes müsse eine Negation stehn: ich bewies ihm, die Negation stecke in dem &#x201E;defendu&#x201C; des ersten Theiles; in diesem Zusammenhange bedeute &#x201E;rien&#x201C; nicht &#x201E;nichts&#x201C;, sondern &#x201E;etwas&#x201C;; es sei aus dem lateinischen &#x201E;rem&#x201C; entstanden. Dies leuchtete ihm endlich ein, da auch in andern Sprachen eine doppelte Negation zur Affirmation wird. Unser Gefährte hieß Williams: er reiste für ein bedeutendes londoner Handlungshaus, und war uns in England von dem grösten Nutzen. </p><lb/>
        <p>Die Poststraße von Paris nach Calais ging damals über Boulogne. Bei diesem letzten Orte erblickten wir von einer Höhe herab zum ersten Male das offne Meer, das in erhabner Ruhe ausgebreitet lag. Für uns Landratten, Graf Medem und mich, hatte der Anblick etwas bezauberndes, der Seemensch Williams, der das Meer schon wer weiß wie oft befahren, fand gar nichts außerordentliches daran.
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[481/0489] in natura zu sehn. Durch die Fürsorge meines Vaters wurde ich in den Stand gesetzt, meine Reisekasse von neuem zu füllen, und am 15. März 1821 rollten wir auf der Malleposte von Paris nach Calais. Mit uns fuhr ein junger Engländer, in dem man alsbald den feingebildeten Mann erkannte, weil er das französisehe mit seltener Reinheit sprach. Im Wagen war ein gedruckter Zettel angeheftet, worauf die Worte: II est défendu aux postillions, de rien demander aux voyageurs. Der Engländer las die Schrift mit Aufmerksamkeit, zog ein Bleistift hervor, und setzte vor „rien“ ein „ne.“ Darauf prüfte ich auch die Weisung, sah den Engländer an und strich lächelnd das „ne“ wieder aus. Nun kamen wir in ein lebhaftes Gespräch. Er behauptete, im zweiten Theile des Satzes müsse eine Negation stehn: ich bewies ihm, die Negation stecke in dem „defendu“ des ersten Theiles; in diesem Zusammenhange bedeute „rien“ nicht „nichts“, sondern „etwas“; es sei aus dem lateinischen „rem“ entstanden. Dies leuchtete ihm endlich ein, da auch in andern Sprachen eine doppelte Negation zur Affirmation wird. Unser Gefährte hieß Williams: er reiste für ein bedeutendes londoner Handlungshaus, und war uns in England von dem grösten Nutzen. Die Poststraße von Paris nach Calais ging damals über Boulogne. Bei diesem letzten Orte erblickten wir von einer Höhe herab zum ersten Male das offne Meer, das in erhabner Ruhe ausgebreitet lag. Für uns Landratten, Graf Medem und mich, hatte der Anblick etwas bezauberndes, der Seemensch Williams, der das Meer schon wer weiß wie oft befahren, fand gar nichts außerordentliches daran.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wolfgang Virmond: Bereitstellung der Texttranskription. (2014-01-07T13:04:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2014-01-07T13:04:32Z)
Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Sign. Av 4887-1) (2014-01-07T13:04:32Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • Kolumnentitel: nicht übernommen
  • Kustoden: nicht übernommen
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Silbentrennung: aufgelöst
  • Zeilenumbrüche markiert: nein



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/489
Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/489>, abgerufen am 10.06.2024.