Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].

Bild:
<< vorherige Seite

Calais liegt ganz flach; man hat daher nirgend einen etwas weiteren Umblick; wir gingen durch die schmutzigen Straßen bis zum Hafendamme, den das ruhige Meer umspielte. Die Flut war gerade im Steigen: 3 oder 4 parallele Striche im Wasser bezeichneten die langsam heranrollenden Wogenmassen. Diese unaufhörliche, unausbleibliche, unwiderstehliche Meeresbewegung ist gewiß das grosartigste Naturphänomen auf unsrer kleinen Erde. Wenn man bedenkt, daß Sonne und Mond in ihren bestimmten Entfernungen, mit ihren bestimmten Größen- und Massenverhältnissen diese bestimmte Hebung und Senkung des Meeres verursachen, so ist dies schon wunderbar genug: wenn man ferner überlegt, wie milde die Einwirkung dieser beiden Himmelskörper abgemessen ist, daß selbst bei ihren vereinigten Kräften eine selten eintretende Springflut nur wenig schadet, daß demnach das unbändige Weltmeer, zwei Drittel der Erdkugel bedeckend, von unsichtbarer Hand im Zügel gehalten, die Wohnungen der Menschen achten und schonen muß, so kann man nur die Beschränktheit derjenigen belächeln, die diesen ganzen komplizirten Mechanismus dem Zufalle beimessen wollen.

Solchen kosmogonischen Betrachtungen mich zu überlassen, fand ich Zeit genug: denn am Morgen des 17. März war das englische Packetboot Lord Dunkan (Dampfschiffe kamen nur wenige in Gebrauch) zum Auslaufen bereit, und schaukelte uns bei ganz ruhigem Meere in wenig Stunden nach dem nahen Albion hinüber, dessen milchweiße Kreidefelsen sich aus der glatten Fläche emporhoben. Von Seekrankheit spürte niemand etwas, außer ein paar sehr fein organisirten Damen, die in der Kajüte mit Leben und Tod rangen.

Calais liegt ganz flach; man hat daher nirgend einen etwas weiteren Umblick; wir gingen durch die schmutzigen Straßen bis zum Hafendamme, den das ruhige Meer umspielte. Die Flut war gerade im Steigen: 3 oder 4 parallele Striche im Wasser bezeichneten die langsam heranrollenden Wogenmassen. Diese unaufhörliche, unausbleibliche, unwiderstehliche Meeresbewegung ist gewiß das grosartigste Naturphänomen auf unsrer kleinen Erde. Wenn man bedenkt, daß Sonne und Mond in ihren bestimmten Entfernungen, mit ihren bestimmten Größen- und Massenverhältnissen diese bestimmte Hebung und Senkung des Meeres verursachen, so ist dies schon wunderbar genug: wenn man ferner überlegt, wie milde die Einwirkung dieser beiden Himmelskörper abgemessen ist, daß selbst bei ihren vereinigten Kräften eine selten eintretende Springflut nur wenig schadet, daß demnach das unbändige Weltmeer, zwei Drittel der Erdkugel bedeckend, von unsichtbarer Hand im Zügel gehalten, die Wohnungen der Menschen achten und schonen muß, so kann man nur die Beschränktheit derjenigen belächeln, die diesen ganzen komplizirten Mechanismus dem Zufalle beimessen wollen.

Solchen kosmogonischen Betrachtungen mich zu überlassen, fand ich Zeit genug: denn am Morgen des 17. März war das englische Packetboot Lord Dunkan (Dampfschiffe kamen nur wenige in Gebrauch) zum Auslaufen bereit, und schaukelte uns bei ganz ruhigem Meere in wenig Stunden nach dem nahen Albion hinüber, dessen milchweiße Kreidefelsen sich aus der glatten Fläche emporhoben. Von Seekrankheit spürte niemand etwas, außer ein paar sehr fein organisirten Damen, die in der Kajüte mit Leben und Tod rangen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p>
          <pb facs="#f0490" n="482"/>
        </p><lb/>
        <p>Calais liegt ganz flach; man hat daher nirgend einen etwas weiteren Umblick; wir gingen durch die schmutzigen Straßen bis zum Hafendamme, den das ruhige Meer umspielte. Die Flut war gerade im Steigen: 3 oder 4 parallele Striche im Wasser bezeichneten die langsam heranrollenden Wogenmassen. Diese unaufhörliche, unausbleibliche, unwiderstehliche Meeresbewegung ist gewiß das grosartigste Naturphänomen auf unsrer kleinen Erde. Wenn man bedenkt, daß Sonne und Mond in ihren bestimmten Entfernungen, mit ihren bestimmten Größen- und Massenverhältnissen diese bestimmte Hebung und Senkung des Meeres verursachen, so ist dies schon wunderbar genug: wenn man ferner überlegt, wie milde die Einwirkung dieser beiden Himmelskörper abgemessen ist, daß selbst bei ihren vereinigten Kräften eine selten eintretende Springflut nur wenig schadet, daß demnach das unbändige Weltmeer, zwei Drittel der Erdkugel bedeckend, von unsichtbarer Hand im Zügel gehalten, die Wohnungen der Menschen achten und schonen muß, so kann man nur die Beschränktheit derjenigen belächeln, die diesen ganzen komplizirten Mechanismus dem Zufalle beimessen wollen. </p><lb/>
        <p>Solchen kosmogonischen Betrachtungen mich zu überlassen, fand ich Zeit genug: denn am Morgen des 17. März war das englische Packetboot Lord Dunkan (Dampfschiffe kamen nur wenige in Gebrauch) zum Auslaufen bereit, und schaukelte uns bei ganz ruhigem Meere in wenig Stunden nach dem nahen Albion hinüber, dessen milchweiße Kreidefelsen sich aus der glatten Fläche emporhoben. Von Seekrankheit spürte niemand etwas, außer ein paar sehr fein organisirten Damen, die in der Kajüte mit Leben und Tod rangen.
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[482/0490] Calais liegt ganz flach; man hat daher nirgend einen etwas weiteren Umblick; wir gingen durch die schmutzigen Straßen bis zum Hafendamme, den das ruhige Meer umspielte. Die Flut war gerade im Steigen: 3 oder 4 parallele Striche im Wasser bezeichneten die langsam heranrollenden Wogenmassen. Diese unaufhörliche, unausbleibliche, unwiderstehliche Meeresbewegung ist gewiß das grosartigste Naturphänomen auf unsrer kleinen Erde. Wenn man bedenkt, daß Sonne und Mond in ihren bestimmten Entfernungen, mit ihren bestimmten Größen- und Massenverhältnissen diese bestimmte Hebung und Senkung des Meeres verursachen, so ist dies schon wunderbar genug: wenn man ferner überlegt, wie milde die Einwirkung dieser beiden Himmelskörper abgemessen ist, daß selbst bei ihren vereinigten Kräften eine selten eintretende Springflut nur wenig schadet, daß demnach das unbändige Weltmeer, zwei Drittel der Erdkugel bedeckend, von unsichtbarer Hand im Zügel gehalten, die Wohnungen der Menschen achten und schonen muß, so kann man nur die Beschränktheit derjenigen belächeln, die diesen ganzen komplizirten Mechanismus dem Zufalle beimessen wollen. Solchen kosmogonischen Betrachtungen mich zu überlassen, fand ich Zeit genug: denn am Morgen des 17. März war das englische Packetboot Lord Dunkan (Dampfschiffe kamen nur wenige in Gebrauch) zum Auslaufen bereit, und schaukelte uns bei ganz ruhigem Meere in wenig Stunden nach dem nahen Albion hinüber, dessen milchweiße Kreidefelsen sich aus der glatten Fläche emporhoben. Von Seekrankheit spürte niemand etwas, außer ein paar sehr fein organisirten Damen, die in der Kajüte mit Leben und Tod rangen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wolfgang Virmond: Bereitstellung der Texttranskription. (2014-01-07T13:04:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2014-01-07T13:04:32Z)
Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Sign. Av 4887-1) (2014-01-07T13:04:32Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • Kolumnentitel: nicht übernommen
  • Kustoden: nicht übernommen
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Silbentrennung: aufgelöst
  • Zeilenumbrüche markiert: nein



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/490
Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/490>, abgerufen am 23.06.2024.