Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].des Widersinnes kam man auf den Gedanken, tragische Ballets zu geben. Eines derselben hieß Clari und fand ungemeinen Beifall: einem ehrwürdigen weißköpfigen Müller wird seine einzige Tochter Clari verführt; er will sie erschießen und legt schon die Flinte an, versöhnt sich aber mit ihr unter vielen Thränen. Talleyrand sagte, als eines Abends davon die Rede war, in seinem tiefsten Basse: c'est un ballet, ou il faut pleurer! Ueber das Theater im allgemeinen ließ sich die Wahrnehmung machen, daß in Frankreich die Fächer weit strenger geschieden sind als bei uns. Talma gab nur antike oder Heldenrollen, es würde ihm nie eingefallen sein, in einem modernen bürgerlichen Schauspiele aufzutreten; Mademoiselle Mars würde nie eine Rolle in einem Stücke von Corneille oder Racine übernommen haben; ihre jüngere, wegen ihrer abschreckenden Häslichkeit berüchtigte Kollegin, Mademoiselle Duchesnois arbeitete nur im tragischen Fache als Athalie, Semiramis, Sophonisbe u. s. w. Durch diese Einrichtung, welche dem schematisirenden Karakter der Franzosen entspricht, werden die einzelnen Fächer auf eine höhere Vollkommenheit gehoben, als vielleicht bei andern Nationen, aber einen Garrick oder Ludwig Devrient haben die Franzosen nie gehabt. Neben allen diesen rauschenden Vergnügungen gingen meine Studien ihren stillen Gang, darum ist nicht viel davon zu berichten. Um einen guten englischen Lehrer zu erhalten, glaubte ich mich an niemand besseres wenden zu können, als an Madame Waldron, die mit ihren Landsleuten vielfache Beziehungen unterhielt. Sie empfahl mir des Widersinnes kam man auf den Gedanken, tragische Ballets zu geben. Eines derselben hieß Clari und fand ungemeinen Beifall: einem ehrwürdigen weißköpfigen Müller wird seine einzige Tochter Clari verführt; er will sie erschießen und legt schon die Flinte an, versöhnt sich aber mit ihr unter vielen Thränen. Talleyrand sagte, als eines Abends davon die Rede war, in seinem tiefsten Basse: c’est un ballet, où il faut pleurer! Ueber das Theater im allgemeinen ließ sich die Wahrnehmung machen, daß in Frankreich die Fächer weit strenger geschieden sind als bei uns. Talma gab nur antike oder Heldenrollen, es würde ihm nie eingefallen sein, in einem modernen bürgerlichen Schauspiele aufzutreten; Mademoiselle Mars würde nie eine Rolle in einem Stücke von Corneille oder Racine übernommen haben; ihre jüngere, wegen ihrer abschreckenden Häslichkeit berüchtigte Kollegin, Mademoiselle Duchesnois arbeitete nur im tragischen Fache als Athalie, Semiramis, Sophonisbe u. s. w. Durch diese Einrichtung, welche dem schematisirenden Karakter der Franzosen entspricht, werden die einzelnen Fächer auf eine höhere Vollkommenheit gehoben, als vielleicht bei andern Nationen, aber einen Garrick oder Ludwig Devrient haben die Franzosen nie gehabt. Neben allen diesen rauschenden Vergnügungen gingen meine Studien ihren stillen Gang, darum ist nicht viel davon zu berichten. Um einen guten englischen Lehrer zu erhalten, glaubte ich mich an niemand besseres wenden zu können, als an Madame Waldron, die mit ihren Landsleuten vielfache Beziehungen unterhielt. Sie empfahl mir <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0462" n="454"/> des Widersinnes kam man auf den Gedanken, tragische Ballets zu geben. Eines derselben hieß Clari und fand ungemeinen Beifall: einem ehrwürdigen weißköpfigen Müller wird seine einzige Tochter Clari verführt; er will sie erschießen und legt schon die Flinte an, versöhnt sich aber mit ihr unter vielen Thränen. Talleyrand sagte, als eines Abends davon die Rede war, in seinem tiefsten Basse: c’est un ballet, où il faut pleurer! </p><lb/> <p>Ueber das Theater im allgemeinen ließ sich die Wahrnehmung machen, daß in Frankreich die Fächer weit strenger geschieden sind als bei uns. Talma gab nur antike oder Heldenrollen, es würde ihm nie eingefallen sein, in einem modernen bürgerlichen Schauspiele aufzutreten; Mademoiselle Mars würde nie eine Rolle in einem Stücke von Corneille oder Racine übernommen haben; ihre jüngere, wegen ihrer abschreckenden Häslichkeit berüchtigte Kollegin, Mademoiselle Duchesnois arbeitete nur im tragischen Fache als Athalie, Semiramis, Sophonisbe u. s. w. Durch diese Einrichtung, welche dem schematisirenden Karakter der Franzosen entspricht, werden die einzelnen Fächer auf eine höhere Vollkommenheit gehoben, als vielleicht bei andern Nationen, aber einen Garrick oder Ludwig Devrient haben die Franzosen nie gehabt.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Neben allen diesen rauschenden Vergnügungen gingen meine Studien ihren stillen Gang, darum ist nicht viel davon zu berichten. Um einen guten englischen Lehrer zu erhalten, glaubte ich mich an niemand besseres wenden zu können, als an Madame Waldron, die mit ihren Landsleuten vielfache Beziehungen unterhielt. Sie empfahl mir </p> </div> </body> </text> </TEI> [454/0462]
des Widersinnes kam man auf den Gedanken, tragische Ballets zu geben. Eines derselben hieß Clari und fand ungemeinen Beifall: einem ehrwürdigen weißköpfigen Müller wird seine einzige Tochter Clari verführt; er will sie erschießen und legt schon die Flinte an, versöhnt sich aber mit ihr unter vielen Thränen. Talleyrand sagte, als eines Abends davon die Rede war, in seinem tiefsten Basse: c’est un ballet, où il faut pleurer!
Ueber das Theater im allgemeinen ließ sich die Wahrnehmung machen, daß in Frankreich die Fächer weit strenger geschieden sind als bei uns. Talma gab nur antike oder Heldenrollen, es würde ihm nie eingefallen sein, in einem modernen bürgerlichen Schauspiele aufzutreten; Mademoiselle Mars würde nie eine Rolle in einem Stücke von Corneille oder Racine übernommen haben; ihre jüngere, wegen ihrer abschreckenden Häslichkeit berüchtigte Kollegin, Mademoiselle Duchesnois arbeitete nur im tragischen Fache als Athalie, Semiramis, Sophonisbe u. s. w. Durch diese Einrichtung, welche dem schematisirenden Karakter der Franzosen entspricht, werden die einzelnen Fächer auf eine höhere Vollkommenheit gehoben, als vielleicht bei andern Nationen, aber einen Garrick oder Ludwig Devrient haben die Franzosen nie gehabt.
Neben allen diesen rauschenden Vergnügungen gingen meine Studien ihren stillen Gang, darum ist nicht viel davon zu berichten. Um einen guten englischen Lehrer zu erhalten, glaubte ich mich an niemand besseres wenden zu können, als an Madame Waldron, die mit ihren Landsleuten vielfache Beziehungen unterhielt. Sie empfahl mir
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Zitationshilfe: | Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/462>, abgerufen am 10.06.2024. |