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Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].

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Antwort erregte Bestürzung und Unwillen; man versicherte, Chelius' eigne Mutter habe ihm mit dem Fluche gedroht, weil er "den heiligen Sand" zum Tode bringen wolle. Der Scharfrichter von Heidelberg, in dessen Gerichtsbarkeit Mannheim gehört, verweigerte ganz entschieden die Vollstreckung des Urtheils und erklärte sich bereit, seine einträgliche Stelle niederzulegen. Man requirirte den Scharfrichter von Speyer, der nicht so menschenfreundliche Skrupel hegte wie sein heidelberger Kollege. Mehrere Male ward der Tag der Hinrichtung angesetzt, aber wieder verschoben.

Endlich kam die bestimmte Nachricht, die Vollstreckung werde am 20. Mai 1820 stattfinden, und wir fuhren an einem kalten regnerischen Morgen hinüber, um dem traurigen Schauspiel beizuwohnen. Dicht vor Mannheim sahen wir das schwarzbehangene Schaffot aufgerichtet; in der Mitte der Bühne stand ein Stuhl mit niedriger Lehne, ein starkes Picket Soldaten umgab das Gerüst, einige Hundert Menschen standen zum Theil unter Regenschirmen auf der Wiese. Bald nach unsrer Ankunft bewegte sich der Zug aus der Stadt heran; es war 51/2 Uhr früh. Sand bestieg die Bühne, begleitet von einem Geistlichen und einigen Gerichtspersonen. Er konnte sich kaum auf den Füßen halten und sah sehr blaß aus; er trug eine helle Jacke und dunkle Beinkleider; sein langes Haar wallte über den Rücken hinab, und wurde von dem Scharfrichter kurz abgeschnitten, was einige Zeit erforderte. Während dieser Operation schien Sand zum Volke sprechen zu wollen; wir glaubten einige Worte zu vernehmen, aber plötzlich fiel ein heftiger andauernder Trommelwirbel ein, der jeden Laut verschlang. Mit einer ungeduldigen Be-

Antwort erregte Bestürzung und Unwillen; man versicherte, Chelius’ eigne Mutter habe ihm mit dem Fluche gedroht, weil er „den heiligen Sand“ zum Tode bringen wolle. Der Scharfrichter von Heidelberg, in dessen Gerichtsbarkeit Mannheim gehört, verweigerte ganz entschieden die Vollstreckung des Urtheils und erklärte sich bereit, seine einträgliche Stelle niederzulegen. Man requirirte den Scharfrichter von Speyer, der nicht so menschenfreundliche Skrupel hegte wie sein heidelberger Kollege. Mehrere Male ward der Tag der Hinrichtung angesetzt, aber wieder verschoben.

Endlich kam die bestimmte Nachricht, die Vollstreckung werde am 20. Mai 1820 stattfinden, und wir fuhren an einem kalten regnerischen Morgen hinüber, um dem traurigen Schauspiel beizuwohnen. Dicht vor Mannheim sahen wir das schwarzbehangene Schaffot aufgerichtet; in der Mitte der Bühne stand ein Stuhl mit niedriger Lehne, ein starkes Picket Soldaten umgab das Gerüst, einige Hundert Menschen standen zum Theil unter Regenschirmen auf der Wiese. Bald nach unsrer Ankunft bewegte sich der Zug aus der Stadt heran; es war 5½ Uhr früh. Sand bestieg die Bühne, begleitet von einem Geistlichen und einigen Gerichtspersonen. Er konnte sich kaum auf den Füßen halten und sah sehr blaß aus; er trug eine helle Jacke und dunkle Beinkleider; sein langes Haar wallte über den Rücken hinab, und wurde von dem Scharfrichter kurz abgeschnitten, was einige Zeit erforderte. Während dieser Operation schien Sand zum Volke sprechen zu wollen; wir glaubten einige Worte zu vernehmen, aber plötzlich fiel ein heftiger andauernder Trommelwirbel ein, der jeden Laut verschlang. Mit einer ungeduldigen Be-

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[358/0366] Antwort erregte Bestürzung und Unwillen; man versicherte, Chelius’ eigne Mutter habe ihm mit dem Fluche gedroht, weil er „den heiligen Sand“ zum Tode bringen wolle. Der Scharfrichter von Heidelberg, in dessen Gerichtsbarkeit Mannheim gehört, verweigerte ganz entschieden die Vollstreckung des Urtheils und erklärte sich bereit, seine einträgliche Stelle niederzulegen. Man requirirte den Scharfrichter von Speyer, der nicht so menschenfreundliche Skrupel hegte wie sein heidelberger Kollege. Mehrere Male ward der Tag der Hinrichtung angesetzt, aber wieder verschoben. Endlich kam die bestimmte Nachricht, die Vollstreckung werde am 20. Mai 1820 stattfinden, und wir fuhren an einem kalten regnerischen Morgen hinüber, um dem traurigen Schauspiel beizuwohnen. Dicht vor Mannheim sahen wir das schwarzbehangene Schaffot aufgerichtet; in der Mitte der Bühne stand ein Stuhl mit niedriger Lehne, ein starkes Picket Soldaten umgab das Gerüst, einige Hundert Menschen standen zum Theil unter Regenschirmen auf der Wiese. Bald nach unsrer Ankunft bewegte sich der Zug aus der Stadt heran; es war 5½ Uhr früh. Sand bestieg die Bühne, begleitet von einem Geistlichen und einigen Gerichtspersonen. Er konnte sich kaum auf den Füßen halten und sah sehr blaß aus; er trug eine helle Jacke und dunkle Beinkleider; sein langes Haar wallte über den Rücken hinab, und wurde von dem Scharfrichter kurz abgeschnitten, was einige Zeit erforderte. Während dieser Operation schien Sand zum Volke sprechen zu wollen; wir glaubten einige Worte zu vernehmen, aber plötzlich fiel ein heftiger andauernder Trommelwirbel ein, der jeden Laut verschlang. Mit einer ungeduldigen Be-

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Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/366>, abgerufen am 11.06.2024.