Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].als ein religionsloser den Werth der drei wetteifernden Volksüberzeugungen wohl nach dem praktischen Erfolge, nach dem Wohlgefallen vor ihm und vor den Menschen beurtheilen. Der Patriarch sei keine Karrikatur, sondern das getreue Spiegelbild eines orthodoxen, unduldsamen Pfaffen, wie es deren zu allen Zeiten, und am meisten im Mittelalter gegeben habe. An der vielbewunderten Antwort des Klosterbruders Bonafides: Wär's denn sonst gehorchen? fand Paul das auszusetzen, daß man zwar "ohne viel zu klügeln", doch aber cum grano salis gehorchen müsse. Aus Lessings Briefwechsel mit Ramler und Nicolai ersah ich, wie nahe mein Grosvater mit jenen beiden Männern befreundet gewesen war, und dies veranlaßte mich, nun auch seine Schriften zur Hand zu nehmen. Die "Freuden des jungen Werther" machten durch ihre prosaische Nüchternheit einen niederschlagenden Eindruck. Sie zeigten aber auch, daß Göthes geniale Arbeit nicht bloß auf die Jugend der Zeit einen tiefen Eindruck gemacht. Nicolai war 16 Jahre älter als Göthe, und hielt es, als Oberaufseher der Litteratur, für seine Pflicht, die jungen Leute vor dem schädlichen Einflusse des Werther zu warnen. Der "Feyne kleyne Almanach" hat es eigentlich auf eine Verspottung von Herders Stimmen der Völker in Liedern abgesehn. Er enthält eine Anzahl deutscher Volkslieder, zu denen Lessing das unvergleichliche Stück von Jungfer Lieschens Fingerhut beisteuern wollte. Ueber den Ursprung der Melodien ist im Büchlein selbst nichts angegeben; zu meiner grösten Verwunderung fand ich in einem Exemplare die handschriftliche Notiz, daß sie fast sämmtlich von Nicolai und von seinem Sohne Samuel herrühren. Das Titelkupfer ist ein wahres Kleinod: es gehört zu Chodowieckis als ein religionsloser den Werth der drei wetteifernden Volksüberzeugungen wohl nach dem praktischen Erfolge, nach dem Wohlgefallen vor ihm und vor den Menschen beurtheilen. Der Patriarch sei keine Karrikatur, sondern das getreue Spiegelbild eines orthodoxen, unduldsamen Pfaffen, wie es deren zu allen Zeiten, und am meisten im Mittelalter gegeben habe. An der vielbewunderten Antwort des Klosterbruders Bonafides: Wär’s denn sonst gehorchen? fand Paul das auszusetzen, daß man zwar „ohne viel zu klügeln“, doch aber cum grano salis gehorchen müsse. Aus Lessings Briefwechsel mit Ramler und Nicolai ersah ich, wie nahe mein Grosvater mit jenen beiden Männern befreundet gewesen war, und dies veranlaßte mich, nun auch seine Schriften zur Hand zu nehmen. Die „Freuden des jungen Werther“ machten durch ihre prosaische Nüchternheit einen niederschlagenden Eindruck. Sie zeigten aber auch, daß Göthes geniale Arbeit nicht bloß auf die Jugend der Zeit einen tiefen Eindruck gemacht. Nicolai war 16 Jahre älter als Göthe, und hielt es, als Oberaufseher der Litteratur, für seine Pflicht, die jungen Leute vor dem schädlichen Einflusse des Werther zu warnen. Der „Feyne kleyne Almanach“ hat es eigentlich auf eine Verspottung von Herders Stimmen der Völker in Liedern abgesehn. Er enthält eine Anzahl deutscher Volkslieder, zu denen Lessing das unvergleichliche Stück von Jungfer Lieschens Fingerhut beisteuern wollte. Ueber den Ursprung der Melodien ist im Büchlein selbst nichts angegeben; zu meiner grösten Verwunderung fand ich in einem Exemplare die handschriftliche Notiz, daß sie fast sämmtlich von Nicolai und von seinem Sohne Samuel herrühren. Das Titelkupfer ist ein wahres Kleinod: es gehört zu Chodowieckis <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0284" n="276"/> als ein religionsloser den Werth der drei wetteifernden Volksüberzeugungen wohl nach dem praktischen Erfolge, nach dem Wohlgefallen vor ihm und vor den Menschen beurtheilen. Der Patriarch sei keine Karrikatur, sondern das getreue Spiegelbild eines orthodoxen, unduldsamen Pfaffen, wie es deren zu allen Zeiten, und am meisten im Mittelalter gegeben habe. An der vielbewunderten Antwort des Klosterbruders Bonafides: Wär’s denn sonst gehorchen? fand Paul das auszusetzen, daß man zwar „ohne viel zu klügeln“, doch aber cum grano salis gehorchen müsse. </p><lb/> <p>Aus Lessings Briefwechsel mit Ramler und Nicolai ersah ich, wie nahe mein Grosvater mit jenen beiden Männern befreundet gewesen war, und dies veranlaßte mich, nun auch seine Schriften zur Hand zu nehmen. Die „Freuden des jungen Werther“ machten durch ihre prosaische Nüchternheit einen niederschlagenden Eindruck. Sie zeigten aber auch, daß Göthes geniale Arbeit nicht bloß auf die Jugend der Zeit einen tiefen Eindruck gemacht. Nicolai war 16 Jahre älter als Göthe, und hielt es, als Oberaufseher der Litteratur, für seine Pflicht, die jungen Leute vor dem schädlichen Einflusse des Werther zu warnen. </p><lb/> <p>Der „Feyne kleyne Almanach“ hat es eigentlich auf eine Verspottung von Herders Stimmen der Völker in Liedern abgesehn. Er enthält eine Anzahl deutscher Volkslieder, zu denen Lessing das unvergleichliche Stück von Jungfer Lieschens Fingerhut beisteuern wollte. Ueber den Ursprung der Melodien ist im Büchlein selbst nichts angegeben; zu meiner grösten Verwunderung fand ich in einem Exemplare die handschriftliche Notiz, daß sie fast sämmtlich von Nicolai und von seinem Sohne Samuel herrühren. Das Titelkupfer ist ein wahres Kleinod: es gehört zu Chodowieckis </p> </div> </body> </text> </TEI> [276/0284]
als ein religionsloser den Werth der drei wetteifernden Volksüberzeugungen wohl nach dem praktischen Erfolge, nach dem Wohlgefallen vor ihm und vor den Menschen beurtheilen. Der Patriarch sei keine Karrikatur, sondern das getreue Spiegelbild eines orthodoxen, unduldsamen Pfaffen, wie es deren zu allen Zeiten, und am meisten im Mittelalter gegeben habe. An der vielbewunderten Antwort des Klosterbruders Bonafides: Wär’s denn sonst gehorchen? fand Paul das auszusetzen, daß man zwar „ohne viel zu klügeln“, doch aber cum grano salis gehorchen müsse.
Aus Lessings Briefwechsel mit Ramler und Nicolai ersah ich, wie nahe mein Grosvater mit jenen beiden Männern befreundet gewesen war, und dies veranlaßte mich, nun auch seine Schriften zur Hand zu nehmen. Die „Freuden des jungen Werther“ machten durch ihre prosaische Nüchternheit einen niederschlagenden Eindruck. Sie zeigten aber auch, daß Göthes geniale Arbeit nicht bloß auf die Jugend der Zeit einen tiefen Eindruck gemacht. Nicolai war 16 Jahre älter als Göthe, und hielt es, als Oberaufseher der Litteratur, für seine Pflicht, die jungen Leute vor dem schädlichen Einflusse des Werther zu warnen.
Der „Feyne kleyne Almanach“ hat es eigentlich auf eine Verspottung von Herders Stimmen der Völker in Liedern abgesehn. Er enthält eine Anzahl deutscher Volkslieder, zu denen Lessing das unvergleichliche Stück von Jungfer Lieschens Fingerhut beisteuern wollte. Ueber den Ursprung der Melodien ist im Büchlein selbst nichts angegeben; zu meiner grösten Verwunderung fand ich in einem Exemplare die handschriftliche Notiz, daß sie fast sämmtlich von Nicolai und von seinem Sohne Samuel herrühren. Das Titelkupfer ist ein wahres Kleinod: es gehört zu Chodowieckis
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wolfgang Virmond: Bereitstellung der Texttranskription.
(2014-01-07T13:04:32Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2014-01-07T13:04:32Z)
Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz: Bereitstellung der Bilddigitalisate (Sign. Av 4887-1)
(2014-01-07T13:04:32Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |