Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Otto-Peters, Louise: Ein Bauernsohn. Leipzig, 1849.

Bild:
<< vorherige Seite

sieht, wie ein Tag nach dem andern hingeht, der die
Trennung näher bringt.

So sinnend stand er auf dem Vorsprung der Ruine,
von dem aus man hinab in das Thal sehen konnte. Da
gewahrte er plötzlich, wie Mutter Eva den Berg zu ihm
herauf kam. Er sprang ihr hastig entgegen, um sie vol-
lends zu führen. Gleich wie er ihr guten Abend bot
und die Hand hinstreckte, sah er, daß sie rothgeweinte
Augen hatte. Er dachte bei sich, gewiß hat sie geweint,
weil ich heute noch nicht hinabgekommen bin und sie mich
den ganzen Tag nicht gesehen hat, aber wie soll es dann
erst werden, wenn sie mich gar nicht mehr sieht? Er
fühlte ein tiefes Mitleiden mit dem Schmerz seiner Mut-
ter, und wie sie jetzt müde, ein Wenig still stand, um
zum weiteren Steigen Athem zu schöpfen, so nahm er
sie lächelnd in seine beiden starken Arme und trug sie
vollends hinauf. Sie wußte erst lange gar Nichts zu
sprechen und sagte nur immer, ihn liebkosend, recht aus
Herzensgrunde: "Johannes, mein liebes Johanneslein!"

Nach einer Weile, als er nur von dem schönen Herbst-
wetter gesprochen und dann sich entschuldigt hatte, daß
er heute nicht zu ihr hinabgekommen, er sei eben just so
im Schreiben gewesen, daß er sich nicht habe entschließen
können, eher aufzuhören als eben jetzt, da es angefangen
zu dämmern, sagte Mutter Eva ernsthaft:

ſieht, wie ein Tag nach dem andern hingeht, der die
Trennung naͤher bringt.

So ſinnend ſtand er auf dem Vorſprung der Ruine,
von dem aus man hinab in das Thal ſehen konnte. Da
gewahrte er ploͤtzlich, wie Mutter Eva den Berg zu ihm
herauf kam. Er ſprang ihr haſtig entgegen, um ſie vol-
lends zu fuͤhren. Gleich wie er ihr guten Abend bot
und die Hand hinſtreckte, ſah er, daß ſie rothgeweinte
Augen hatte. Er dachte bei ſich, gewiß hat ſie geweint,
weil ich heute noch nicht hinabgekommen bin und ſie mich
den ganzen Tag nicht geſehen hat, aber wie ſoll es dann
erſt werden, wenn ſie mich gar nicht mehr ſieht? Er
fuͤhlte ein tiefes Mitleiden mit dem Schmerz ſeiner Mut-
ter, und wie ſie jetzt muͤde, ein Wenig ſtill ſtand, um
zum weiteren Steigen Athem zu ſchoͤpfen, ſo nahm er
ſie laͤchelnd in ſeine beiden ſtarken Arme und trug ſie
vollends hinauf. Sie wußte erſt lange gar Nichts zu
ſprechen und ſagte nur immer, ihn liebkoſend, recht aus
Herzensgrunde: „Johannes, mein liebes Johanneslein!“

Nach einer Weile, als er nur von dem ſchoͤnen Herbſt-
wetter geſprochen und dann ſich entſchuldigt hatte, daß
er heute nicht zu ihr hinabgekommen, er ſei eben juſt ſo
im Schreiben geweſen, daß er ſich nicht habe entſchließen
koͤnnen, eher aufzuhoͤren als eben jetzt, da es angefangen
zu daͤmmern, ſagte Mutter Eva ernſthaft:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0261" n="253"/>
&#x017F;ieht, wie ein Tag nach dem andern hingeht, der die<lb/>
Trennung na&#x0364;her bringt.</p><lb/>
        <p>So &#x017F;innend &#x017F;tand er auf dem Vor&#x017F;prung der Ruine,<lb/>
von dem aus man hinab in das Thal &#x017F;ehen konnte. Da<lb/>
gewahrte er plo&#x0364;tzlich, wie Mutter Eva den Berg zu ihm<lb/>
herauf kam. Er &#x017F;prang ihr ha&#x017F;tig entgegen, um &#x017F;ie vol-<lb/>
lends zu fu&#x0364;hren. Gleich wie er ihr guten Abend bot<lb/>
und die Hand hin&#x017F;treckte, &#x017F;ah er, daß &#x017F;ie rothgeweinte<lb/>
Augen hatte. Er dachte bei &#x017F;ich, gewiß hat &#x017F;ie geweint,<lb/>
weil ich heute noch nicht hinabgekommen bin und &#x017F;ie mich<lb/>
den ganzen Tag nicht ge&#x017F;ehen hat, aber wie &#x017F;oll es dann<lb/>
er&#x017F;t werden, wenn &#x017F;ie mich gar nicht mehr &#x017F;ieht? Er<lb/>
fu&#x0364;hlte ein tiefes Mitleiden mit dem Schmerz &#x017F;einer Mut-<lb/>
ter, und wie &#x017F;ie jetzt mu&#x0364;de, ein Wenig &#x017F;till &#x017F;tand, um<lb/>
zum weiteren Steigen Athem zu &#x017F;cho&#x0364;pfen, &#x017F;o nahm er<lb/>
&#x017F;ie la&#x0364;chelnd in &#x017F;eine beiden &#x017F;tarken Arme und trug &#x017F;ie<lb/>
vollends hinauf. Sie wußte er&#x017F;t lange gar Nichts zu<lb/>
&#x017F;prechen und &#x017F;agte nur immer, ihn liebko&#x017F;end, recht aus<lb/>
Herzensgrunde: &#x201E;Johannes, mein liebes Johanneslein!&#x201C;</p><lb/>
        <p>Nach einer Weile, als er nur von dem &#x017F;cho&#x0364;nen Herb&#x017F;t-<lb/>
wetter ge&#x017F;prochen und dann &#x017F;ich ent&#x017F;chuldigt hatte, daß<lb/>
er heute nicht zu ihr hinabgekommen, er &#x017F;ei eben ju&#x017F;t &#x017F;o<lb/>
im Schreiben gewe&#x017F;en, daß er &#x017F;ich nicht habe ent&#x017F;chließen<lb/>
ko&#x0364;nnen, eher aufzuho&#x0364;ren als eben jetzt, da es angefangen<lb/>
zu da&#x0364;mmern, &#x017F;agte Mutter Eva ern&#x017F;thaft:</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[253/0261] ſieht, wie ein Tag nach dem andern hingeht, der die Trennung naͤher bringt. So ſinnend ſtand er auf dem Vorſprung der Ruine, von dem aus man hinab in das Thal ſehen konnte. Da gewahrte er ploͤtzlich, wie Mutter Eva den Berg zu ihm herauf kam. Er ſprang ihr haſtig entgegen, um ſie vol- lends zu fuͤhren. Gleich wie er ihr guten Abend bot und die Hand hinſtreckte, ſah er, daß ſie rothgeweinte Augen hatte. Er dachte bei ſich, gewiß hat ſie geweint, weil ich heute noch nicht hinabgekommen bin und ſie mich den ganzen Tag nicht geſehen hat, aber wie ſoll es dann erſt werden, wenn ſie mich gar nicht mehr ſieht? Er fuͤhlte ein tiefes Mitleiden mit dem Schmerz ſeiner Mut- ter, und wie ſie jetzt muͤde, ein Wenig ſtill ſtand, um zum weiteren Steigen Athem zu ſchoͤpfen, ſo nahm er ſie laͤchelnd in ſeine beiden ſtarken Arme und trug ſie vollends hinauf. Sie wußte erſt lange gar Nichts zu ſprechen und ſagte nur immer, ihn liebkoſend, recht aus Herzensgrunde: „Johannes, mein liebes Johanneslein!“ Nach einer Weile, als er nur von dem ſchoͤnen Herbſt- wetter geſprochen und dann ſich entſchuldigt hatte, daß er heute nicht zu ihr hinabgekommen, er ſei eben juſt ſo im Schreiben geweſen, daß er ſich nicht habe entſchließen koͤnnen, eher aufzuhoͤren als eben jetzt, da es angefangen zu daͤmmern, ſagte Mutter Eva ernſthaft:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/otto_bauernsohn_1849
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/otto_bauernsohn_1849/261
Zitationshilfe: Otto-Peters, Louise: Ein Bauernsohn. Leipzig, 1849, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/otto_bauernsohn_1849/261>, abgerufen am 25.11.2024.