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Ohr, Julie: Die Studentin der Gegenwart. München-Gern, 1909.

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milie nehmen zu müssen; die Scheu, ins öffentliche Ge-
rede zu kommen, die Angst vor Unziemlichkeiten seitens
der Kommilitonen hält sie vor jeder Annäherung zurück.
Und so ist man in denjenigen Jahren zurückhaltend
und meidet einander, in denen die beste Gelegenheit ge-
geben ist, sich unbeeinflußt kennen zu lernen. Es sind die
Jahre eines sorgenfreien Arbeitens, wo weder die Kon-
kurrenz, noch die Stellung Einfluß hat.

An dieser Stelle muß noch allerlei über das Zusam-
mensein der Geschlechter an der Universität gesagt werden
und damit ein Thema berührt werden, das sehr heikel
ist, über das jeder seine eigene Meinung hat. Es
wird viel von Kameradschaftlichkeit und Kollegialität
gesprochen. Jch möchte die Kameradschaftlichkeit defi-
nieren als den zwanglosen Verkehr, der jede belästigende
Formalität ablegt, Offenheit, bereitwillige Hilfe in jeder
Lebenslage. Kameradschaftlichkeit fordert einen kindlichen,
natürlichen Sinn, schließt jede Koketterie und jeden Flirt
aus. Sie kann bei jungen Menschen verschiedenen Ge-
schlechts wohl vorkommen und bedeutet in ihrem Leben
eine Quelle der Erfrischung und der Lebensfreudigkeit.

Kameradschaftlichkeit fehlt leider noch sehr an unsern
Hochschulen. Dazu sind die Vorbedingungen durch die
Erziehung zu schlecht beschaffen. Wie ist es möglich, wenn
zwanzig Jahre vorher die Geschlechter systematisch ge-
trennt wurden, gerade in einem Alter, wo der sexuelle
Trieb richtig zu erwachen beginnt, den möglichen und na-
türlichen Ton zu finden? Wie ist es möglich, wenn man
an dem einzigen Orte der Zusammenkunft beider Ge-
schlechter, im Gesellschaftsraum, zu Flirt und Tändelei
geradezu erzogen wird, auf einmal den richtigen Ton, den
Ernst der gemeinsamen Arbeit in Kursen, Seminarien,
Laboratorien zu finden, wo doch die Studierenden manch-

milie nehmen zu müssen; die Scheu, ins öffentliche Ge-
rede zu kommen, die Angst vor Unziemlichkeiten seitens
der Kommilitonen hält sie vor jeder Annäherung zurück.
Und so ist man in denjenigen Jahren zurückhaltend
und meidet einander, in denen die beste Gelegenheit ge-
geben ist, sich unbeeinflußt kennen zu lernen. Es sind die
Jahre eines sorgenfreien Arbeitens, wo weder die Kon-
kurrenz, noch die Stellung Einfluß hat.

An dieser Stelle muß noch allerlei über das Zusam-
mensein der Geschlechter an der Universität gesagt werden
und damit ein Thema berührt werden, das sehr heikel
ist, über das jeder seine eigene Meinung hat. Es
wird viel von Kameradschaftlichkeit und Kollegialität
gesprochen. Jch möchte die Kameradschaftlichkeit defi-
nieren als den zwanglosen Verkehr, der jede belästigende
Formalität ablegt, Offenheit, bereitwillige Hilfe in jeder
Lebenslage. Kameradschaftlichkeit fordert einen kindlichen,
natürlichen Sinn, schließt jede Koketterie und jeden Flirt
aus. Sie kann bei jungen Menschen verschiedenen Ge-
schlechts wohl vorkommen und bedeutet in ihrem Leben
eine Quelle der Erfrischung und der Lebensfreudigkeit.

Kameradschaftlichkeit fehlt leider noch sehr an unsern
Hochschulen. Dazu sind die Vorbedingungen durch die
Erziehung zu schlecht beschaffen. Wie ist es möglich, wenn
zwanzig Jahre vorher die Geschlechter systematisch ge-
trennt wurden, gerade in einem Alter, wo der sexuelle
Trieb richtig zu erwachen beginnt, den möglichen und na-
türlichen Ton zu finden? Wie ist es möglich, wenn man
an dem einzigen Orte der Zusammenkunft beider Ge-
schlechter, im Gesellschaftsraum, zu Flirt und Tändelei
geradezu erzogen wird, auf einmal den richtigen Ton, den
Ernst der gemeinsamen Arbeit in Kursen, Seminarien,
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[20/0019] milie nehmen zu müssen; die Scheu, ins öffentliche Ge- rede zu kommen, die Angst vor Unziemlichkeiten seitens der Kommilitonen hält sie vor jeder Annäherung zurück. Und so ist man in denjenigen Jahren zurückhaltend und meidet einander, in denen die beste Gelegenheit ge- geben ist, sich unbeeinflußt kennen zu lernen. Es sind die Jahre eines sorgenfreien Arbeitens, wo weder die Kon- kurrenz, noch die Stellung Einfluß hat. An dieser Stelle muß noch allerlei über das Zusam- mensein der Geschlechter an der Universität gesagt werden und damit ein Thema berührt werden, das sehr heikel ist, über das jeder seine eigene Meinung hat. Es wird viel von Kameradschaftlichkeit und Kollegialität gesprochen. Jch möchte die Kameradschaftlichkeit defi- nieren als den zwanglosen Verkehr, der jede belästigende Formalität ablegt, Offenheit, bereitwillige Hilfe in jeder Lebenslage. Kameradschaftlichkeit fordert einen kindlichen, natürlichen Sinn, schließt jede Koketterie und jeden Flirt aus. Sie kann bei jungen Menschen verschiedenen Ge- schlechts wohl vorkommen und bedeutet in ihrem Leben eine Quelle der Erfrischung und der Lebensfreudigkeit. Kameradschaftlichkeit fehlt leider noch sehr an unsern Hochschulen. Dazu sind die Vorbedingungen durch die Erziehung zu schlecht beschaffen. Wie ist es möglich, wenn zwanzig Jahre vorher die Geschlechter systematisch ge- trennt wurden, gerade in einem Alter, wo der sexuelle Trieb richtig zu erwachen beginnt, den möglichen und na- türlichen Ton zu finden? Wie ist es möglich, wenn man an dem einzigen Orte der Zusammenkunft beider Ge- schlechter, im Gesellschaftsraum, zu Flirt und Tändelei geradezu erzogen wird, auf einmal den richtigen Ton, den Ernst der gemeinsamen Arbeit in Kursen, Seminarien, Laboratorien zu finden, wo doch die Studierenden manch-

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Zitationshilfe: Ohr, Julie: Die Studentin der Gegenwart. München-Gern, 1909, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ohr_studentin_1909/19>, abgerufen am 24.04.2024.