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Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802.

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schmecken ließ. Ich bin selbst Ursach, daß
Eros so wild und unbeständig geworden ist.
Aber mich reut es dennoch nicht, denn jene
Stunden, die ich in seinen Armen zubrachte,
haben mich zur Unsterblichen gemacht. Ich
glaubte unter seinen feurigen Liebkosungen
zu zerschmelzen. Wie ein himmlischer Räu¬
ber schien er mich grausam vernichten und
stolz über sein bebendes Opfer triumphiren
zu wollen. Wir erwachten spät aus dem
verbotenen Rausche, in einem sonderbar ver¬
tauschten Zustande. Lange silberweiße Flü¬
gel bedeckten seine weißen Schultern, und
die reihende Fülle und Biegung seiner Ge¬
stalt. Die Kraft, die ihn so plötzlich aus ei¬
nem Knaben zum Jünglinge quellend getrie¬
ben, schien sich ganz in die glänzenden
Schwingen gezogen zu haben, und er war
wieder zum Knaben geworden. Die stille
Glut seines Gesichts war in das tändelnde

ſchmecken ließ. Ich bin ſelbſt Urſach, daß
Eros ſo wild und unbeſtändig geworden iſt.
Aber mich reut es dennoch nicht, denn jene
Stunden, die ich in ſeinen Armen zubrachte,
haben mich zur Unſterblichen gemacht. Ich
glaubte unter ſeinen feurigen Liebkoſungen
zu zerſchmelzen. Wie ein himmliſcher Räu¬
ber ſchien er mich grauſam vernichten und
ſtolz über ſein bebendes Opfer triumphiren
zu wollen. Wir erwachten ſpät aus dem
verbotenen Rauſche, in einem ſonderbar ver¬
tauſchten Zuſtande. Lange ſilberweiße Flü¬
gel bedeckten ſeine weißen Schultern, und
die reihende Fülle und Biegung ſeiner Ge¬
ſtalt. Die Kraft, die ihn ſo plötzlich aus ei¬
nem Knaben zum Jünglinge quellend getrie¬
ben, ſchien ſich ganz in die glänzenden
Schwingen gezogen zu haben, und er war
wieder zum Knaben geworden. Die ſtille
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[310/0318] ſchmecken ließ. Ich bin ſelbſt Urſach, daß Eros ſo wild und unbeſtändig geworden iſt. Aber mich reut es dennoch nicht, denn jene Stunden, die ich in ſeinen Armen zubrachte, haben mich zur Unſterblichen gemacht. Ich glaubte unter ſeinen feurigen Liebkoſungen zu zerſchmelzen. Wie ein himmliſcher Räu¬ ber ſchien er mich grauſam vernichten und ſtolz über ſein bebendes Opfer triumphiren zu wollen. Wir erwachten ſpät aus dem verbotenen Rauſche, in einem ſonderbar ver¬ tauſchten Zuſtande. Lange ſilberweiße Flü¬ gel bedeckten ſeine weißen Schultern, und die reihende Fülle und Biegung ſeiner Ge¬ ſtalt. Die Kraft, die ihn ſo plötzlich aus ei¬ nem Knaben zum Jünglinge quellend getrie¬ ben, ſchien ſich ganz in die glänzenden Schwingen gezogen zu haben, und er war wieder zum Knaben geworden. Die ſtille Glut ſeines Geſichts war in das tändelnde

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Zitationshilfe: Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802/318>, abgerufen am 22.11.2024.