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Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 2. Solingen, 1844.

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neue Narrheit, die alte Deutschheit wieder aufbringen
wollen." Wohl pries man auf dem Lehrstuhl die großen
Antiken, hielt aber dafür, nur diese seien würdig und
werth der Turnkunst und der Freiheit der That. Und
sind auch die Zeiten der Zöpfe vorüber, wo die Wissen-
schaft und die Schule sich krampfhaft an das hellenische
und lateinische Alterthum festklammerte, um vom Leben
und von der Gegenwart nicht berührt zu werden, so ist
aber doch noch nicht Alles neu geworden. Der
Turnkunst stehen in dem entarteten Volksleben noch so
mächtige Hindernisse entgegen, daß es schwer hält, letz-
tere aus dem Wege zu räumen. Diese Hindernisse sind
hauptsächlich: Verachtung des Leiblichen und Ueberschätzung
des Geistigen, Bequemlichkeitsliebe und Vergnügungssucht.
Gegen sie wollen wir nicht zu Felde ziehen: das hieße
solchen Leutlein zu viel Ehre erweisen. Wir wenden
uns vorerst gegen die alten Jungfern unter beiden Ge-
schlechtern.

1. Jm Jahre 1836 war in einer größern Ge-
sellschaft in Berlin auch die Rede auf das Turnen der
Mädchen gekommen. Eine großgewachsene alte Jungfer
v. Sch. meinte: sie würde lieber sterben als turnen,
"man bekäme ja große Hände davon."

Hiergegen wäre nnn mancherlei einzuwenden gewesen,
was man am wenigsten 40 -- 50jährigen Jungfrauen
gesagt, z. B. daß sie in diese Gefahr niemals kommen
könnten, da sie schon ganz stattliche Hände hätten u. s. w.
Jndeß soll mir dies jetzt wie damals Gelegenheit geben
zu untersuchen, ob die Turnkunst starke, d. h. große
Hände
bewirke. Wir wollen diese Frage um so mehr
beantworten, als sie auch noch neuerdings in einem Ber-
liner Blatte aufgeworfen worden.

Frage ich zuerst die Erfahrung, so muß ich dies
durchaus verneinen. Und doch ist meine Erfahrung so
sehr klein nicht, da sie einige tausend Schüler zählt, und
in Königsberg 153 Mädchen vom 5. -- 20. Jahre.
Und vor Allem müßten denn doch die Turnlehrer selbst

neue Narrheit, die alte Deutſchheit wieder aufbringen
wollen.“ Wohl pries man auf dem Lehrſtuhl die großen
Antiken, hielt aber dafür, nur dieſe ſeien würdig und
werth der Turnkunſt und der Freiheit der That. Und
ſind auch die Zeiten der Zöpfe vorüber, wo die Wiſſen-
ſchaft und die Schule ſich krampfhaft an das helleniſche
und lateiniſche Alterthum feſtklammerte, um vom Leben
und von der Gegenwart nicht berührt zu werden, ſo iſt
aber doch noch nicht Alles neu geworden. Der
Turnkunſt ſtehen in dem entarteten Volksleben noch ſo
mächtige Hinderniſſe entgegen, daß es ſchwer hält, letz-
tere aus dem Wege zu räumen. Dieſe Hinderniſſe ſind
hauptſächlich: Verachtung des Leiblichen und Ueberſchätzung
des Geiſtigen, Bequemlichkeitsliebe und Vergnügungsſucht.
Gegen ſie wollen wir nicht zu Felde ziehen: das hieße
ſolchen Leutlein zu viel Ehre erweiſen. Wir wenden
uns vorerſt gegen die alten Jungfern unter beiden Ge-
ſchlechtern.

1. Jm Jahre 1836 war in einer größern Ge-
ſellſchaft in Berlin auch die Rede auf das Turnen der
Mädchen gekommen. Eine großgewachſene alte Jungfer
v. Sch. meinte: ſie würde lieber ſterben als turnen,
„man bekäme ja große Hände davon.“

Hiergegen wäre nnn mancherlei einzuwenden geweſen,
was man am wenigſten 40 — 50jährigen Jungfrauen
geſagt, z. B. daß ſie in dieſe Gefahr niemals kommen
könnten, da ſie ſchon ganz ſtattliche Hände hätten u. ſ. w.
Jndeß ſoll mir dies jetzt wie damals Gelegenheit geben
zu unterſuchen, ob die Turnkunſt ſtarke, d. h. große
Hände
bewirke. Wir wollen dieſe Frage um ſo mehr
beantworten, als ſie auch noch neuerdings in einem Ber-
liner Blatte aufgeworfen worden.

Frage ich zuerſt die Erfahrung, ſo muß ich dies
durchaus verneinen. Und doch iſt meine Erfahrung ſo
ſehr klein nicht, da ſie einige tauſend Schüler zählt, und
in Königsberg 153 Mädchen vom 5. — 20. Jahre.
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[68/0072] neue Narrheit, die alte Deutſchheit wieder aufbringen wollen.“ Wohl pries man auf dem Lehrſtuhl die großen Antiken, hielt aber dafür, nur dieſe ſeien würdig und werth der Turnkunſt und der Freiheit der That. Und ſind auch die Zeiten der Zöpfe vorüber, wo die Wiſſen- ſchaft und die Schule ſich krampfhaft an das helleniſche und lateiniſche Alterthum feſtklammerte, um vom Leben und von der Gegenwart nicht berührt zu werden, ſo iſt aber doch noch nicht Alles neu geworden. Der Turnkunſt ſtehen in dem entarteten Volksleben noch ſo mächtige Hinderniſſe entgegen, daß es ſchwer hält, letz- tere aus dem Wege zu räumen. Dieſe Hinderniſſe ſind hauptſächlich: Verachtung des Leiblichen und Ueberſchätzung des Geiſtigen, Bequemlichkeitsliebe und Vergnügungsſucht. Gegen ſie wollen wir nicht zu Felde ziehen: das hieße ſolchen Leutlein zu viel Ehre erweiſen. Wir wenden uns vorerſt gegen die alten Jungfern unter beiden Ge- ſchlechtern. 1. Jm Jahre 1836 war in einer größern Ge- ſellſchaft in Berlin auch die Rede auf das Turnen der Mädchen gekommen. Eine großgewachſene alte Jungfer v. Sch. meinte: ſie würde lieber ſterben als turnen, „man bekäme ja große Hände davon.“ Hiergegen wäre nnn mancherlei einzuwenden geweſen, was man am wenigſten 40 — 50jährigen Jungfrauen geſagt, z. B. daß ſie in dieſe Gefahr niemals kommen könnten, da ſie ſchon ganz ſtattliche Hände hätten u. ſ. w. Jndeß ſoll mir dies jetzt wie damals Gelegenheit geben zu unterſuchen, ob die Turnkunſt ſtarke, d. h. große Hände bewirke. Wir wollen dieſe Frage um ſo mehr beantworten, als ſie auch noch neuerdings in einem Ber- liner Blatte aufgeworfen worden. Frage ich zuerſt die Erfahrung, ſo muß ich dies durchaus verneinen. Und doch iſt meine Erfahrung ſo ſehr klein nicht, da ſie einige tauſend Schüler zählt, und in Königsberg 153 Mädchen vom 5. — 20. Jahre. Und vor Allem müßten denn doch die Turnlehrer ſelbſt

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Zitationshilfe: Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 2. Solingen, 1844, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_turnkunst02_1844/72>, abgerufen am 03.05.2024.