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Sonntags-Blatt. Nr. 35. Berlin, 29. August 1869.

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[Beginn Spaltensatz] seiner Lorbeerbäume, in dem Blüthenschmucke seiner Pomeranzen= und
Granatbäume so friedlich da, wie nur je. Und doch auch wieder nicht so
friedlich. War denn heute ein so hoher Festtag, daß so viele Menschen
durch die immergrünen, dunklen Laubgänge dem harmonischen Glockengeläute
entgegenzogen, das tief aus dem Blüthenwalde durch die stille Morgenluft
daherzitterte? Das Glockengeläute erklang allerdings von dem schlanken
Thürmchen des tief im Grün versteckten, der heiligen Lucia gewidmeten
Nonnenklosters herüber; aber kein hoher Festtag war es, den die harmoni-
schen Töne einläuteten. Es war nichts als ein schlichter Sonntagsmorgen,
aber dennoch eilten hunderte von Menschen dem Rufe entgegen, verließen
sogar ihre leichte Sonntagsmorgenarbeit, ihm zu folgen.

Ein Wunder war's, ein unbeschreiblich hohes Wunder, welches die weiten
Hallen der Klosterkirche an einem gewöhnlichen Sonntagmorgen Kopf an
Kopf mit Andächtigen füllte, aber ein Wunder eigenthümlichster Art. Von
dem hohen Chore herab strömten an allen Sonn= und Feiertagen die herr-
lichen Harmonieen der alten italienischen Tonmeister herab, Harmonieen,
welche wie nichts in der Welt die Herzen der Hörer zu feierlicher, weihe-
voller Andacht stimmen. Wie lindernder Balsam legen sie sich um das
wunde Herz, daß es sich wie auf überirdischen Klängen emporgetragen fühlt
zu dem Throne des Ewigen. Santa Lucia war weit und breit berühmt
durch die herrlichen Ausführungen dieser Meisterwerke, und allsonntäglich
beugten sich die Häupter vieler Andächtigen und lauschten diesen feierlichen
Klängen. Die Superiorin hielt viel darauf, diesen Ruf ihres Klosters zu
wahren und nichts kam dem Eifer gleich, mit welchem die frommen Schwe-
stern sich der Ausübung dieser heiligen Gesänge hingaben.

Am genannten Tage aber stand etwas ganz Besonderes in Aussicht,
etwas Wunderbares, das schon seit einigen Sonntagen Alles mit Staunen
erfüllt hatte, so daß die Nachricht davon wie ein Lauffeuer durch die ganze
umliegende Gegend geflogen war. Es war ein Kind unter den Sänge-
rinnen erschienen, ein kleines zartes Mädchen von noch nicht zwölf Jahren,
das aber mit einer so wunderbaren Stimme begabt war, wie noch Niemand
je zuvor gehört hatte. Der Vater dieses Wundermädchens war ein unbe-
mittelter Beamter in dem nahen Sinigaglia und hatte, was bei solchen
Leuten auch nicht gerade zu den Seltenheiten gehört, eine starke Familie.
Was blieb ihm übrig, als für ein Unterkommen seiner Nachkommen zu sor-
gen, das ihm in seinen Verhältnissen möglichst wenig schwer fiel. So
mußte die kleine Angelica in das Kloster der Santa Lucia wandern, um
dort zunächst von den Nonnen erzogen, später aber selbst als eine solche
eingekleidet zu werden. Jn den Sternen stand es jedoch anders geschrieben.
Die wunderbar süße Stimme des Kindes, die das Agnus Dei mit einer
so rührenden Einfachheit ertönen ließ, daß auch das harte Herz des ver-
stocktesten Weltkindes anfing weich zu werden, konnte zu Zeiten eine Kraft
entwickeln, daß sie durch den ganzen gut besetzten Nonnenchor nachdrücklich
sich vernehmlich machte. Wie eine tönende Glocke erschallte die mächtige
Stimme aus der zarten, schmächtigen Kindesbrust, daß es vielen unbegreif-
lich und nicht mit rechten Dingen zuzugehen schien. Größer und größer
wurde die Menge, welche sich des Sonntags zur Messe drängte, die " ma-
ravigliosa Angelica" zu hören, das schmächtige Kind mit den brennenden
Augen vor den frommen Schwestern stehen zu sehen; Jeder wollte sich über-
zeugen, daß es ein leibhaftiges Kind sei und kein Spuk, keine künstliche
Figur, welche ein Uhrwerk zum Tönen bringe.

Nur Sr. Hochehrwürden der Bischof, unter dessen Hirtenstabe die
Lämmer von Santa Lucia standen, nahm Anstoß an diesen Wallfahrten;
seinem frommen Gewissen war es ein Gräuel, zu sehen, wie nicht das Wort
Gottes die Menge anzog, sondern der Gesang eines Mädchens, das noch
nicht einmal die Weihe empfangen hatte. Er ließ dem Kloster daher die
strenge Weisung zugehen, fortan die kleine Angelica nicht mehr auszustellen,
sie keine Solis mehr singen zu lassen, sondern sie nur im Singchore zu
verwenden, wie die musicirenden Nonnen überhaupt.

Dieser Befehl mußte natürlich respektirt werden, stimmte aber keines-
wegs mit den Ansichten der Schwester Superiorin überein; denn der Got-
teskasten von Lucia befand sich bei diesem noch nie dagewesenen Andrange
gar zu wohl, als daß da eine solche Aenderung erwünscht gewesen wäre.
Die würdige Matrone wußte sich zu helfen: Angelica erschien fortan nicht
mehr vor den Nonnen, sondern stand in zweiter Reihe hinter ihnen, sonst
blieb Alles beim Alten, und das Wunder wurde durch diese halbe Unsicht-
barkeit der kleinen Sängerin wo möglich noch um einen Grad geheim-
nißvoller.

Es konnte aber nicht fehlen, daß das Gerücht von dem wunderbaren
Gesange der Kleinen auch Kunst= und Sachverständige herbeizog, welche
ihre gespannten Erwartungen noch bei weitem übertroffen sahen. Es konnte
nicht fehlen, daß diese Leute sich an den Vater wendeten und ihm die ein-
dringlichsten Vorstellungen machten, eine solche Wunderblume nicht in den
düstern Mauern eines Klosters verkommen zu lassen. Es half aber lange
Zeit nichts. Der Alte war ein strenggläubiger Römer, der, von der Heilig-
keit des geistlichen Berufes vollkommen durchdrungen, sich nichts Besseres
denken konnte, als daß sein Kind eine Nonne werde. Und nun, -- sein
Kind eine Theaterprinzessin? Nimmermehr! Endlich aber faßte ein welt-
und menschenkundiger Kopf die Angelegenheit von einer Seite an, welche
selbst dem strenggläubigen Vater einleuchtete. Er stellte vor, wie es doch
ein Vater vor Gott, vor sich selbst, und vor allen Dingen vor seiner Fa-
milie nicht verantworten könne, ein Mittel unbenutzt zu lassen, das gleich-
sam Gott seiner Unwürdigkeit in den Schooß geworfen habe, ein Mittel,
das ihn in den Stand setzte, sich aus den kümmerlichen Verhältnissen her-
aus zu arbeiten und seiner Familie eine sorgenlose Existenz zu verschaffen.
Dieses Mittel sei ihm in der Stimme seiner Tochter Angelica gegeben und
es hieße Gott versuchen, diesen Fingerzeig von der Hand zu weisen. Was
diese kluge Auslegung auch noch nicht ganz bewirkte, das thaten schließlich
die unablässigen Vorstellungen der Verwandten, das thaten die Thränen
der kleinen Angelica selber; sie wollte ja auch lieber der heiligen Euterpe,
als der heiligen Lucia dienen. Kurz, nach ungefähr zwei Jahren gab der
[Spaltenumbruch] Vater endlich nach und gestattete einen Versuch zur Ausbildung dieser
wunderbaren Stimme.

Angelica kam nun nach Mailand zu dem berühmten Sänger und Ge-
sangmeister Marchesi. Dem Vater pochte das Herz gewaltig, als er vor
den strengen Meister trat; er wußte, daß derselbe keine Nachsicht kannte
und in seinem Urtheile sich nur streng von der Wahrheit leiten ließ. Er
fürchtete diesen Urtheilsspruch, denn ein abmahnendes Wort würde ihm er-
schienen sein wie eine Strafe von Gott für den Fürwitz, daß er eine dem
Himmel schon zugesicherte Braut dem weltlichen Tand, noch obenein dem
Bühnenflitter zu überliefern versucht hatte. Nicht so Angelica. Voll und
offen blickte sie mit ihren großen, brennenden Augen in das strenge Antlitz
des Meisters, aber ohne eine Spur von Furcht, ohne nur im Geringsten
einen Zweifel an dem Gelingen der Probe in sich aufsteigen zu fühlen.
Und siehe da, schon nach den ersten Paar Tönen glätteten sich die Falten
auf der Stirn des Gestrengen, das Antlitz wurde freundlicher und freund-
licher, und endlich sprang er auf und schloß das Kind entzückt in seine Arme.
Ja, das war eine Stimme, wie er sie sich zur Ausbildung schon lange ge-
wünscht hatte, das war eine Stimme, deren Besitzerin ja auch seinen Na-
men mit durch die Welt tragen mußte.

Abermals waren zwei Jahre vergangen. Die Opernsaison in Venedig
hatte so eben begonnen, und die altehrwürdige Dogenstadt befand sich in
einer fast unglaublichen Aufregung. Ein Mädchen hatte zum ersten Male
die Bühne betreten, eine Sängerin von noch nicht vollendeten siebzehn
Jahren, eine Sängerin aber mit einer solchen Wunderstimme, wie sie noch
Niemand gehört hatte. Athemlos lauschte die Menge diesen entzückenden
Klängen, und ein Sturm von Begeisterung folgte ihnen, wie er selbst in
dem heißblütigen Jtalien zu den größten Seltenheiten gehört. " Evviva!
Evviva! Evviva Angelica! Evviva Angelica Catalani
!" erscholl es ohne
Aufhören. Tag für Tag, Abend für Abend wiederholten sich die stürmisch-
sten Scenen, und das junge Mädchen fiel entzückt dem Vater in die Arme.
Das war es ja, was sie mit Siegesgewißheit geträumt hatte, und auch des
Vaters Augen feuchteten sich, denn in diesen Augenblicken fühlte er nichts
von Vorwürfen, die sein Gewissen ob der begangenen Sünde ihm hätte
machen können.

Jm Sturme flog die junge Angelica Catalani von Triumph zu
Triumph; ihr Ruf füllte die Welt und neben ihr erblaßten auch die be-
rühmtesten Namen. Wie oft mag die fromme Schwester Superiorin zu
Santa Lucia bei diesem die Welt durchfliegenden Ruhme ihrer ehemaligen
Novize mit Sehnsucht an den damals so stattlich gefüllten Gotteskasten
zurückgedacht haben!



Der Verfassungseid eines Königs.
Ein Stück vergessener Geschichte
von
C. Nissel.
( Schluß. )

Aber diese einzelne Dissonanz verklang ungehört und unbeachtet in dem
rauschenden Konzert der Gewalt. Die heilige Allianz richtete den blut-
befleckten Thron der Bourbonen in Neapel in dem vollen Glanz des Ab-
solutismus wieder auf. Am 23. März 1821 zog eine österreichische Heeres-
Abtheilung in der Hauptstadt Neapel ein, und die sofort niedergesetzten
Blutgerichte begannen ihre Thätigkeit.

Ferdinand's vertrautester Freund und Rathgeber war der, wegen seiner
Unthaten in der Verbannung lebende Fürst von Canosa geworden, der mit
der Rache des Königs seine eigene stillen konnte. Der Kongreß hatte dem
König zwar Mäßigung vorgeschrieben und ihm den Rath ertheilt, nur die
Anstifter und Haupträdelsführer der Revolution zu bestrafen, dieselben
Männer, die Ferdinand wegen ihrer patriotischen Hingabe an das Vater-
land belobt und mit Würden bekleidet hatte; aber dieser Vorschlag mißfiel
Canosa, und der König bestürmte deshalb die Mächte des Kongresses so
lange mit Bitten, bis sie ihm völlig freie Hand zu schalten und zu walten
gaben. Die strengsten Beschlüsse wurden nun gefaßt. Jedes politische
Vergehen sollte streng bestraft, jede Verletzung der Regierung gerächt
werden. Jedoch nicht bloß die letzten Vorgänge sollten die Ursache geben,
sondern, um den Körper des Staates gründlich zu reinigen und durch Entsetzen
die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit zu vertilgen, sollte bis auf
die Bewegung von 1793 zurückgegangen werden, obgleich zur Sühne der-
selben bereits ein Meer von Blut geflossen. Alle früheren Verträge und
Begnadigungen sollten aufgehoben und bei dem noch zu langsamen und
milden Vorgang der ordentlichen Gerichte dem Ermessen des Königs jedes
Urtheil anheimgegeben werden. Angesichts dieser Dinge erhob der General
Rossarol auf Sicilien noch einmal die Fahne des Aufstandes, doch ohne
Unterstützung gelassen, mußte er flüchten und lieferte der Rachgier Ferdi-
nand 's nur eine Anzahl neuer Opfer. Das Waffentragen wurde mit dem
Tode bestraft, das Versammlungsrecht aufgehoben, Universitäten, Gelehrten-
und andere Schulen geschlossen. Alle in der letzten Zeit erlassenen Gesetze
hob Ferdinand auf und erhob dafür die unbeschränkte Willkür zum Gesetz.
Kein Tag verging ohne Hinrichtungen. Seinen Wiedereinzug in Neapel,
als Vorläufer des Königs, feierte Canosa durch ein Schauspiel, das die
Neapolitaner mit Entsetzen erfüllte. Jn kriegerischem Aufzuge marschirte
eine Abtheilung Oesterreicher durch die volkreiche Toledostraße, in deren
Mitte Polizeidiener einen Mann eskortirten, der auf einem Esel saß, bis
zum Gürtel nackt und von da abwärts in grobe Leinwand gekleidet war.
Die Hände waren ihm gefesselt, am Halse trug er die Abzeichen des
Carbonaribundes, und auf dem Kopf eine schwarz=blau=rothe Mütze, vorn
mit der Jnschrift "Carbonaro". Hinter ihm der schritt der Henker, in der
einen Hand eine Trompete, in der andern Hand eine Lederpeitsche, deren
Streifen mit Nägeln durchflochten waren; bei jedem Trompetenstoß, die
fast ohne Pausen erfolgten, erhielt der Unglückliche einen Schlag mit der
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] seiner Lorbeerbäume, in dem Blüthenschmucke seiner Pomeranzen= und
Granatbäume so friedlich da, wie nur je. Und doch auch wieder nicht so
friedlich. War denn heute ein so hoher Festtag, daß so viele Menschen
durch die immergrünen, dunklen Laubgänge dem harmonischen Glockengeläute
entgegenzogen, das tief aus dem Blüthenwalde durch die stille Morgenluft
daherzitterte? Das Glockengeläute erklang allerdings von dem schlanken
Thürmchen des tief im Grün versteckten, der heiligen Lucia gewidmeten
Nonnenklosters herüber; aber kein hoher Festtag war es, den die harmoni-
schen Töne einläuteten. Es war nichts als ein schlichter Sonntagsmorgen,
aber dennoch eilten hunderte von Menschen dem Rufe entgegen, verließen
sogar ihre leichte Sonntagsmorgenarbeit, ihm zu folgen.

Ein Wunder war's, ein unbeschreiblich hohes Wunder, welches die weiten
Hallen der Klosterkirche an einem gewöhnlichen Sonntagmorgen Kopf an
Kopf mit Andächtigen füllte, aber ein Wunder eigenthümlichster Art. Von
dem hohen Chore herab strömten an allen Sonn= und Feiertagen die herr-
lichen Harmonieen der alten italienischen Tonmeister herab, Harmonieen,
welche wie nichts in der Welt die Herzen der Hörer zu feierlicher, weihe-
voller Andacht stimmen. Wie lindernder Balsam legen sie sich um das
wunde Herz, daß es sich wie auf überirdischen Klängen emporgetragen fühlt
zu dem Throne des Ewigen. Santa Lucia war weit und breit berühmt
durch die herrlichen Ausführungen dieser Meisterwerke, und allsonntäglich
beugten sich die Häupter vieler Andächtigen und lauschten diesen feierlichen
Klängen. Die Superiorin hielt viel darauf, diesen Ruf ihres Klosters zu
wahren und nichts kam dem Eifer gleich, mit welchem die frommen Schwe-
stern sich der Ausübung dieser heiligen Gesänge hingaben.

Am genannten Tage aber stand etwas ganz Besonderes in Aussicht,
etwas Wunderbares, das schon seit einigen Sonntagen Alles mit Staunen
erfüllt hatte, so daß die Nachricht davon wie ein Lauffeuer durch die ganze
umliegende Gegend geflogen war. Es war ein Kind unter den Sänge-
rinnen erschienen, ein kleines zartes Mädchen von noch nicht zwölf Jahren,
das aber mit einer so wunderbaren Stimme begabt war, wie noch Niemand
je zuvor gehört hatte. Der Vater dieses Wundermädchens war ein unbe-
mittelter Beamter in dem nahen Sinigaglia und hatte, was bei solchen
Leuten auch nicht gerade zu den Seltenheiten gehört, eine starke Familie.
Was blieb ihm übrig, als für ein Unterkommen seiner Nachkommen zu sor-
gen, das ihm in seinen Verhältnissen möglichst wenig schwer fiel. So
mußte die kleine Angelica in das Kloster der Santa Lucia wandern, um
dort zunächst von den Nonnen erzogen, später aber selbst als eine solche
eingekleidet zu werden. Jn den Sternen stand es jedoch anders geschrieben.
Die wunderbar süße Stimme des Kindes, die das Agnus Dei mit einer
so rührenden Einfachheit ertönen ließ, daß auch das harte Herz des ver-
stocktesten Weltkindes anfing weich zu werden, konnte zu Zeiten eine Kraft
entwickeln, daß sie durch den ganzen gut besetzten Nonnenchor nachdrücklich
sich vernehmlich machte. Wie eine tönende Glocke erschallte die mächtige
Stimme aus der zarten, schmächtigen Kindesbrust, daß es vielen unbegreif-
lich und nicht mit rechten Dingen zuzugehen schien. Größer und größer
wurde die Menge, welche sich des Sonntags zur Messe drängte, die „ ma-
ravigliosa Angelica“ zu hören, das schmächtige Kind mit den brennenden
Augen vor den frommen Schwestern stehen zu sehen; Jeder wollte sich über-
zeugen, daß es ein leibhaftiges Kind sei und kein Spuk, keine künstliche
Figur, welche ein Uhrwerk zum Tönen bringe.

Nur Sr. Hochehrwürden der Bischof, unter dessen Hirtenstabe die
Lämmer von Santa Lucia standen, nahm Anstoß an diesen Wallfahrten;
seinem frommen Gewissen war es ein Gräuel, zu sehen, wie nicht das Wort
Gottes die Menge anzog, sondern der Gesang eines Mädchens, das noch
nicht einmal die Weihe empfangen hatte. Er ließ dem Kloster daher die
strenge Weisung zugehen, fortan die kleine Angelica nicht mehr auszustellen,
sie keine Solis mehr singen zu lassen, sondern sie nur im Singchore zu
verwenden, wie die musicirenden Nonnen überhaupt.

Dieser Befehl mußte natürlich respektirt werden, stimmte aber keines-
wegs mit den Ansichten der Schwester Superiorin überein; denn der Got-
teskasten von Lucia befand sich bei diesem noch nie dagewesenen Andrange
gar zu wohl, als daß da eine solche Aenderung erwünscht gewesen wäre.
Die würdige Matrone wußte sich zu helfen: Angelica erschien fortan nicht
mehr vor den Nonnen, sondern stand in zweiter Reihe hinter ihnen, sonst
blieb Alles beim Alten, und das Wunder wurde durch diese halbe Unsicht-
barkeit der kleinen Sängerin wo möglich noch um einen Grad geheim-
nißvoller.

Es konnte aber nicht fehlen, daß das Gerücht von dem wunderbaren
Gesange der Kleinen auch Kunst= und Sachverständige herbeizog, welche
ihre gespannten Erwartungen noch bei weitem übertroffen sahen. Es konnte
nicht fehlen, daß diese Leute sich an den Vater wendeten und ihm die ein-
dringlichsten Vorstellungen machten, eine solche Wunderblume nicht in den
düstern Mauern eines Klosters verkommen zu lassen. Es half aber lange
Zeit nichts. Der Alte war ein strenggläubiger Römer, der, von der Heilig-
keit des geistlichen Berufes vollkommen durchdrungen, sich nichts Besseres
denken konnte, als daß sein Kind eine Nonne werde. Und nun, — sein
Kind eine Theaterprinzessin? Nimmermehr! Endlich aber faßte ein welt-
und menschenkundiger Kopf die Angelegenheit von einer Seite an, welche
selbst dem strenggläubigen Vater einleuchtete. Er stellte vor, wie es doch
ein Vater vor Gott, vor sich selbst, und vor allen Dingen vor seiner Fa-
milie nicht verantworten könne, ein Mittel unbenutzt zu lassen, das gleich-
sam Gott seiner Unwürdigkeit in den Schooß geworfen habe, ein Mittel,
das ihn in den Stand setzte, sich aus den kümmerlichen Verhältnissen her-
aus zu arbeiten und seiner Familie eine sorgenlose Existenz zu verschaffen.
Dieses Mittel sei ihm in der Stimme seiner Tochter Angelica gegeben und
es hieße Gott versuchen, diesen Fingerzeig von der Hand zu weisen. Was
diese kluge Auslegung auch noch nicht ganz bewirkte, das thaten schließlich
die unablässigen Vorstellungen der Verwandten, das thaten die Thränen
der kleinen Angelica selber; sie wollte ja auch lieber der heiligen Euterpe,
als der heiligen Lucia dienen. Kurz, nach ungefähr zwei Jahren gab der
[Spaltenumbruch] Vater endlich nach und gestattete einen Versuch zur Ausbildung dieser
wunderbaren Stimme.

Angelica kam nun nach Mailand zu dem berühmten Sänger und Ge-
sangmeister Marchesi. Dem Vater pochte das Herz gewaltig, als er vor
den strengen Meister trat; er wußte, daß derselbe keine Nachsicht kannte
und in seinem Urtheile sich nur streng von der Wahrheit leiten ließ. Er
fürchtete diesen Urtheilsspruch, denn ein abmahnendes Wort würde ihm er-
schienen sein wie eine Strafe von Gott für den Fürwitz, daß er eine dem
Himmel schon zugesicherte Braut dem weltlichen Tand, noch obenein dem
Bühnenflitter zu überliefern versucht hatte. Nicht so Angelica. Voll und
offen blickte sie mit ihren großen, brennenden Augen in das strenge Antlitz
des Meisters, aber ohne eine Spur von Furcht, ohne nur im Geringsten
einen Zweifel an dem Gelingen der Probe in sich aufsteigen zu fühlen.
Und siehe da, schon nach den ersten Paar Tönen glätteten sich die Falten
auf der Stirn des Gestrengen, das Antlitz wurde freundlicher und freund-
licher, und endlich sprang er auf und schloß das Kind entzückt in seine Arme.
Ja, das war eine Stimme, wie er sie sich zur Ausbildung schon lange ge-
wünscht hatte, das war eine Stimme, deren Besitzerin ja auch seinen Na-
men mit durch die Welt tragen mußte.

Abermals waren zwei Jahre vergangen. Die Opernsaison in Venedig
hatte so eben begonnen, und die altehrwürdige Dogenstadt befand sich in
einer fast unglaublichen Aufregung. Ein Mädchen hatte zum ersten Male
die Bühne betreten, eine Sängerin von noch nicht vollendeten siebzehn
Jahren, eine Sängerin aber mit einer solchen Wunderstimme, wie sie noch
Niemand gehört hatte. Athemlos lauschte die Menge diesen entzückenden
Klängen, und ein Sturm von Begeisterung folgte ihnen, wie er selbst in
dem heißblütigen Jtalien zu den größten Seltenheiten gehört. „ Evviva!
Evviva! Evviva Angelica! Evviva Angelica Catalani
!“ erscholl es ohne
Aufhören. Tag für Tag, Abend für Abend wiederholten sich die stürmisch-
sten Scenen, und das junge Mädchen fiel entzückt dem Vater in die Arme.
Das war es ja, was sie mit Siegesgewißheit geträumt hatte, und auch des
Vaters Augen feuchteten sich, denn in diesen Augenblicken fühlte er nichts
von Vorwürfen, die sein Gewissen ob der begangenen Sünde ihm hätte
machen können.

Jm Sturme flog die junge Angelica Catalani von Triumph zu
Triumph; ihr Ruf füllte die Welt und neben ihr erblaßten auch die be-
rühmtesten Namen. Wie oft mag die fromme Schwester Superiorin zu
Santa Lucia bei diesem die Welt durchfliegenden Ruhme ihrer ehemaligen
Novize mit Sehnsucht an den damals so stattlich gefüllten Gotteskasten
zurückgedacht haben!



Der Verfassungseid eines Königs.
Ein Stück vergessener Geschichte
von
C. Nissel.
( Schluß. )

Aber diese einzelne Dissonanz verklang ungehört und unbeachtet in dem
rauschenden Konzert der Gewalt. Die heilige Allianz richtete den blut-
befleckten Thron der Bourbonen in Neapel in dem vollen Glanz des Ab-
solutismus wieder auf. Am 23. März 1821 zog eine österreichische Heeres-
Abtheilung in der Hauptstadt Neapel ein, und die sofort niedergesetzten
Blutgerichte begannen ihre Thätigkeit.

Ferdinand's vertrautester Freund und Rathgeber war der, wegen seiner
Unthaten in der Verbannung lebende Fürst von Canosa geworden, der mit
der Rache des Königs seine eigene stillen konnte. Der Kongreß hatte dem
König zwar Mäßigung vorgeschrieben und ihm den Rath ertheilt, nur die
Anstifter und Haupträdelsführer der Revolution zu bestrafen, dieselben
Männer, die Ferdinand wegen ihrer patriotischen Hingabe an das Vater-
land belobt und mit Würden bekleidet hatte; aber dieser Vorschlag mißfiel
Canosa, und der König bestürmte deshalb die Mächte des Kongresses so
lange mit Bitten, bis sie ihm völlig freie Hand zu schalten und zu walten
gaben. Die strengsten Beschlüsse wurden nun gefaßt. Jedes politische
Vergehen sollte streng bestraft, jede Verletzung der Regierung gerächt
werden. Jedoch nicht bloß die letzten Vorgänge sollten die Ursache geben,
sondern, um den Körper des Staates gründlich zu reinigen und durch Entsetzen
die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit zu vertilgen, sollte bis auf
die Bewegung von 1793 zurückgegangen werden, obgleich zur Sühne der-
selben bereits ein Meer von Blut geflossen. Alle früheren Verträge und
Begnadigungen sollten aufgehoben und bei dem noch zu langsamen und
milden Vorgang der ordentlichen Gerichte dem Ermessen des Königs jedes
Urtheil anheimgegeben werden. Angesichts dieser Dinge erhob der General
Rossarol auf Sicilien noch einmal die Fahne des Aufstandes, doch ohne
Unterstützung gelassen, mußte er flüchten und lieferte der Rachgier Ferdi-
nand 's nur eine Anzahl neuer Opfer. Das Waffentragen wurde mit dem
Tode bestraft, das Versammlungsrecht aufgehoben, Universitäten, Gelehrten-
und andere Schulen geschlossen. Alle in der letzten Zeit erlassenen Gesetze
hob Ferdinand auf und erhob dafür die unbeschränkte Willkür zum Gesetz.
Kein Tag verging ohne Hinrichtungen. Seinen Wiedereinzug in Neapel,
als Vorläufer des Königs, feierte Canosa durch ein Schauspiel, das die
Neapolitaner mit Entsetzen erfüllte. Jn kriegerischem Aufzuge marschirte
eine Abtheilung Oesterreicher durch die volkreiche Toledostraße, in deren
Mitte Polizeidiener einen Mann eskortirten, der auf einem Esel saß, bis
zum Gürtel nackt und von da abwärts in grobe Leinwand gekleidet war.
Die Hände waren ihm gefesselt, am Halse trug er die Abzeichen des
Carbonaribundes, und auf dem Kopf eine schwarz=blau=rothe Mütze, vorn
mit der Jnschrift „Carbonaro“. Hinter ihm der schritt der Henker, in der
einen Hand eine Trompete, in der andern Hand eine Lederpeitsche, deren
Streifen mit Nägeln durchflochten waren; bei jedem Trompetenstoß, die
fast ohne Pausen erfolgten, erhielt der Unglückliche einen Schlag mit der
[Ende Spaltensatz]

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[279/0007] 279 seiner Lorbeerbäume, in dem Blüthenschmucke seiner Pomeranzen= und Granatbäume so friedlich da, wie nur je. Und doch auch wieder nicht so friedlich. War denn heute ein so hoher Festtag, daß so viele Menschen durch die immergrünen, dunklen Laubgänge dem harmonischen Glockengeläute entgegenzogen, das tief aus dem Blüthenwalde durch die stille Morgenluft daherzitterte? Das Glockengeläute erklang allerdings von dem schlanken Thürmchen des tief im Grün versteckten, der heiligen Lucia gewidmeten Nonnenklosters herüber; aber kein hoher Festtag war es, den die harmoni- schen Töne einläuteten. Es war nichts als ein schlichter Sonntagsmorgen, aber dennoch eilten hunderte von Menschen dem Rufe entgegen, verließen sogar ihre leichte Sonntagsmorgenarbeit, ihm zu folgen. Ein Wunder war's, ein unbeschreiblich hohes Wunder, welches die weiten Hallen der Klosterkirche an einem gewöhnlichen Sonntagmorgen Kopf an Kopf mit Andächtigen füllte, aber ein Wunder eigenthümlichster Art. Von dem hohen Chore herab strömten an allen Sonn= und Feiertagen die herr- lichen Harmonieen der alten italienischen Tonmeister herab, Harmonieen, welche wie nichts in der Welt die Herzen der Hörer zu feierlicher, weihe- voller Andacht stimmen. Wie lindernder Balsam legen sie sich um das wunde Herz, daß es sich wie auf überirdischen Klängen emporgetragen fühlt zu dem Throne des Ewigen. Santa Lucia war weit und breit berühmt durch die herrlichen Ausführungen dieser Meisterwerke, und allsonntäglich beugten sich die Häupter vieler Andächtigen und lauschten diesen feierlichen Klängen. Die Superiorin hielt viel darauf, diesen Ruf ihres Klosters zu wahren und nichts kam dem Eifer gleich, mit welchem die frommen Schwe- stern sich der Ausübung dieser heiligen Gesänge hingaben. Am genannten Tage aber stand etwas ganz Besonderes in Aussicht, etwas Wunderbares, das schon seit einigen Sonntagen Alles mit Staunen erfüllt hatte, so daß die Nachricht davon wie ein Lauffeuer durch die ganze umliegende Gegend geflogen war. Es war ein Kind unter den Sänge- rinnen erschienen, ein kleines zartes Mädchen von noch nicht zwölf Jahren, das aber mit einer so wunderbaren Stimme begabt war, wie noch Niemand je zuvor gehört hatte. Der Vater dieses Wundermädchens war ein unbe- mittelter Beamter in dem nahen Sinigaglia und hatte, was bei solchen Leuten auch nicht gerade zu den Seltenheiten gehört, eine starke Familie. Was blieb ihm übrig, als für ein Unterkommen seiner Nachkommen zu sor- gen, das ihm in seinen Verhältnissen möglichst wenig schwer fiel. So mußte die kleine Angelica in das Kloster der Santa Lucia wandern, um dort zunächst von den Nonnen erzogen, später aber selbst als eine solche eingekleidet zu werden. Jn den Sternen stand es jedoch anders geschrieben. Die wunderbar süße Stimme des Kindes, die das Agnus Dei mit einer so rührenden Einfachheit ertönen ließ, daß auch das harte Herz des ver- stocktesten Weltkindes anfing weich zu werden, konnte zu Zeiten eine Kraft entwickeln, daß sie durch den ganzen gut besetzten Nonnenchor nachdrücklich sich vernehmlich machte. Wie eine tönende Glocke erschallte die mächtige Stimme aus der zarten, schmächtigen Kindesbrust, daß es vielen unbegreif- lich und nicht mit rechten Dingen zuzugehen schien. Größer und größer wurde die Menge, welche sich des Sonntags zur Messe drängte, die „ ma- ravigliosa Angelica“ zu hören, das schmächtige Kind mit den brennenden Augen vor den frommen Schwestern stehen zu sehen; Jeder wollte sich über- zeugen, daß es ein leibhaftiges Kind sei und kein Spuk, keine künstliche Figur, welche ein Uhrwerk zum Tönen bringe. Nur Sr. Hochehrwürden der Bischof, unter dessen Hirtenstabe die Lämmer von Santa Lucia standen, nahm Anstoß an diesen Wallfahrten; seinem frommen Gewissen war es ein Gräuel, zu sehen, wie nicht das Wort Gottes die Menge anzog, sondern der Gesang eines Mädchens, das noch nicht einmal die Weihe empfangen hatte. Er ließ dem Kloster daher die strenge Weisung zugehen, fortan die kleine Angelica nicht mehr auszustellen, sie keine Solis mehr singen zu lassen, sondern sie nur im Singchore zu verwenden, wie die musicirenden Nonnen überhaupt. Dieser Befehl mußte natürlich respektirt werden, stimmte aber keines- wegs mit den Ansichten der Schwester Superiorin überein; denn der Got- teskasten von Lucia befand sich bei diesem noch nie dagewesenen Andrange gar zu wohl, als daß da eine solche Aenderung erwünscht gewesen wäre. Die würdige Matrone wußte sich zu helfen: Angelica erschien fortan nicht mehr vor den Nonnen, sondern stand in zweiter Reihe hinter ihnen, sonst blieb Alles beim Alten, und das Wunder wurde durch diese halbe Unsicht- barkeit der kleinen Sängerin wo möglich noch um einen Grad geheim- nißvoller. Es konnte aber nicht fehlen, daß das Gerücht von dem wunderbaren Gesange der Kleinen auch Kunst= und Sachverständige herbeizog, welche ihre gespannten Erwartungen noch bei weitem übertroffen sahen. Es konnte nicht fehlen, daß diese Leute sich an den Vater wendeten und ihm die ein- dringlichsten Vorstellungen machten, eine solche Wunderblume nicht in den düstern Mauern eines Klosters verkommen zu lassen. Es half aber lange Zeit nichts. Der Alte war ein strenggläubiger Römer, der, von der Heilig- keit des geistlichen Berufes vollkommen durchdrungen, sich nichts Besseres denken konnte, als daß sein Kind eine Nonne werde. Und nun, — sein Kind eine Theaterprinzessin? Nimmermehr! Endlich aber faßte ein welt- und menschenkundiger Kopf die Angelegenheit von einer Seite an, welche selbst dem strenggläubigen Vater einleuchtete. Er stellte vor, wie es doch ein Vater vor Gott, vor sich selbst, und vor allen Dingen vor seiner Fa- milie nicht verantworten könne, ein Mittel unbenutzt zu lassen, das gleich- sam Gott seiner Unwürdigkeit in den Schooß geworfen habe, ein Mittel, das ihn in den Stand setzte, sich aus den kümmerlichen Verhältnissen her- aus zu arbeiten und seiner Familie eine sorgenlose Existenz zu verschaffen. Dieses Mittel sei ihm in der Stimme seiner Tochter Angelica gegeben und es hieße Gott versuchen, diesen Fingerzeig von der Hand zu weisen. Was diese kluge Auslegung auch noch nicht ganz bewirkte, das thaten schließlich die unablässigen Vorstellungen der Verwandten, das thaten die Thränen der kleinen Angelica selber; sie wollte ja auch lieber der heiligen Euterpe, als der heiligen Lucia dienen. Kurz, nach ungefähr zwei Jahren gab der Vater endlich nach und gestattete einen Versuch zur Ausbildung dieser wunderbaren Stimme. Angelica kam nun nach Mailand zu dem berühmten Sänger und Ge- sangmeister Marchesi. Dem Vater pochte das Herz gewaltig, als er vor den strengen Meister trat; er wußte, daß derselbe keine Nachsicht kannte und in seinem Urtheile sich nur streng von der Wahrheit leiten ließ. Er fürchtete diesen Urtheilsspruch, denn ein abmahnendes Wort würde ihm er- schienen sein wie eine Strafe von Gott für den Fürwitz, daß er eine dem Himmel schon zugesicherte Braut dem weltlichen Tand, noch obenein dem Bühnenflitter zu überliefern versucht hatte. Nicht so Angelica. Voll und offen blickte sie mit ihren großen, brennenden Augen in das strenge Antlitz des Meisters, aber ohne eine Spur von Furcht, ohne nur im Geringsten einen Zweifel an dem Gelingen der Probe in sich aufsteigen zu fühlen. Und siehe da, schon nach den ersten Paar Tönen glätteten sich die Falten auf der Stirn des Gestrengen, das Antlitz wurde freundlicher und freund- licher, und endlich sprang er auf und schloß das Kind entzückt in seine Arme. Ja, das war eine Stimme, wie er sie sich zur Ausbildung schon lange ge- wünscht hatte, das war eine Stimme, deren Besitzerin ja auch seinen Na- men mit durch die Welt tragen mußte. Abermals waren zwei Jahre vergangen. Die Opernsaison in Venedig hatte so eben begonnen, und die altehrwürdige Dogenstadt befand sich in einer fast unglaublichen Aufregung. Ein Mädchen hatte zum ersten Male die Bühne betreten, eine Sängerin von noch nicht vollendeten siebzehn Jahren, eine Sängerin aber mit einer solchen Wunderstimme, wie sie noch Niemand gehört hatte. Athemlos lauschte die Menge diesen entzückenden Klängen, und ein Sturm von Begeisterung folgte ihnen, wie er selbst in dem heißblütigen Jtalien zu den größten Seltenheiten gehört. „ Evviva! Evviva! Evviva Angelica! Evviva Angelica Catalani!“ erscholl es ohne Aufhören. Tag für Tag, Abend für Abend wiederholten sich die stürmisch- sten Scenen, und das junge Mädchen fiel entzückt dem Vater in die Arme. Das war es ja, was sie mit Siegesgewißheit geträumt hatte, und auch des Vaters Augen feuchteten sich, denn in diesen Augenblicken fühlte er nichts von Vorwürfen, die sein Gewissen ob der begangenen Sünde ihm hätte machen können. Jm Sturme flog die junge Angelica Catalani von Triumph zu Triumph; ihr Ruf füllte die Welt und neben ihr erblaßten auch die be- rühmtesten Namen. Wie oft mag die fromme Schwester Superiorin zu Santa Lucia bei diesem die Welt durchfliegenden Ruhme ihrer ehemaligen Novize mit Sehnsucht an den damals so stattlich gefüllten Gotteskasten zurückgedacht haben! Der Verfassungseid eines Königs. Ein Stück vergessener Geschichte von C. Nissel. ( Schluß. ) Aber diese einzelne Dissonanz verklang ungehört und unbeachtet in dem rauschenden Konzert der Gewalt. Die heilige Allianz richtete den blut- befleckten Thron der Bourbonen in Neapel in dem vollen Glanz des Ab- solutismus wieder auf. Am 23. März 1821 zog eine österreichische Heeres- Abtheilung in der Hauptstadt Neapel ein, und die sofort niedergesetzten Blutgerichte begannen ihre Thätigkeit. Ferdinand's vertrautester Freund und Rathgeber war der, wegen seiner Unthaten in der Verbannung lebende Fürst von Canosa geworden, der mit der Rache des Königs seine eigene stillen konnte. Der Kongreß hatte dem König zwar Mäßigung vorgeschrieben und ihm den Rath ertheilt, nur die Anstifter und Haupträdelsführer der Revolution zu bestrafen, dieselben Männer, die Ferdinand wegen ihrer patriotischen Hingabe an das Vater- land belobt und mit Würden bekleidet hatte; aber dieser Vorschlag mißfiel Canosa, und der König bestürmte deshalb die Mächte des Kongresses so lange mit Bitten, bis sie ihm völlig freie Hand zu schalten und zu walten gaben. Die strengsten Beschlüsse wurden nun gefaßt. Jedes politische Vergehen sollte streng bestraft, jede Verletzung der Regierung gerächt werden. Jedoch nicht bloß die letzten Vorgänge sollten die Ursache geben, sondern, um den Körper des Staates gründlich zu reinigen und durch Entsetzen die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit zu vertilgen, sollte bis auf die Bewegung von 1793 zurückgegangen werden, obgleich zur Sühne der- selben bereits ein Meer von Blut geflossen. Alle früheren Verträge und Begnadigungen sollten aufgehoben und bei dem noch zu langsamen und milden Vorgang der ordentlichen Gerichte dem Ermessen des Königs jedes Urtheil anheimgegeben werden. Angesichts dieser Dinge erhob der General Rossarol auf Sicilien noch einmal die Fahne des Aufstandes, doch ohne Unterstützung gelassen, mußte er flüchten und lieferte der Rachgier Ferdi- nand 's nur eine Anzahl neuer Opfer. Das Waffentragen wurde mit dem Tode bestraft, das Versammlungsrecht aufgehoben, Universitäten, Gelehrten- und andere Schulen geschlossen. Alle in der letzten Zeit erlassenen Gesetze hob Ferdinand auf und erhob dafür die unbeschränkte Willkür zum Gesetz. Kein Tag verging ohne Hinrichtungen. Seinen Wiedereinzug in Neapel, als Vorläufer des Königs, feierte Canosa durch ein Schauspiel, das die Neapolitaner mit Entsetzen erfüllte. Jn kriegerischem Aufzuge marschirte eine Abtheilung Oesterreicher durch die volkreiche Toledostraße, in deren Mitte Polizeidiener einen Mann eskortirten, der auf einem Esel saß, bis zum Gürtel nackt und von da abwärts in grobe Leinwand gekleidet war. Die Hände waren ihm gefesselt, am Halse trug er die Abzeichen des Carbonaribundes, und auf dem Kopf eine schwarz=blau=rothe Mütze, vorn mit der Jnschrift „Carbonaro“. Hinter ihm der schritt der Henker, in der einen Hand eine Trompete, in der andern Hand eine Lederpeitsche, deren Streifen mit Nägeln durchflochten waren; bei jedem Trompetenstoß, die fast ohne Pausen erfolgten, erhielt der Unglückliche einen Schlag mit der

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 35. Berlin, 29. August 1869, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt35_1869/7>, abgerufen am 10.06.2024.