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Sonntags-Blatt. Nr. 22. Berlin, 31. Mai 1868.

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[Beginn Spaltensatz]

Helene schlug flehend ihre braunen Augen zu den beiden Mädchen
auf, und dabei streifte ihr Blick das Gesicht Ludwigs, dann aber
stützte sie ihren Kopf auf den Tisch, und eine Thräne floß über ihre
Wangen.

"Sei nicht böse, Helene!" rief die gutmüthige Marie und um-
armte sie. "Wir wollen jetzt davon schweigen."

"Nein!" fuhr Helene empor, "sprecht nicht von meiner Zukunft.
Jch bin ja jetzt so glücklich bei Euch, Marie", und dabei lehnte sie
ihren Kopf an Marie, und diese streichelte ihr mit den Händen das
schöne braune Haar, "und ganz unverhofft ist mir dies Glück ge-
kommen. Dafür werde ich mein Lebelang dankbar sein. Ja, das
werde ich, Marie! Und wenn es nur noch ein Paar Tage vielleicht
sind, die ich hier verweilen darf, sie werden mich für Jahre hinaus
stärken. Jhr wißt Alle nicht, wie schön, wie schön es hier ist!"

Sie machte sich schnell von Marie los, ging zu dem nächsten
Busch und zupfte dort an den kleinen grünen Blättchen, indem sie
das Gesicht von der Gesellschaft abgewendet hielt.

"Jch muß aufs Amt gehen, es wird Zeit", meinte der Assessor.

Ludwig erklärte ebenfalls, sich entfernen zu müssen, und nahm
Abschied von Marie. Dann ging er zu Helene und drückte ihr
die Hand.

"Adieu, Helene."

"Adieu", sagte sie dumpf, indem ihr Blick auf dem Boden haftete.
Als jedoch die Braut des Assessors auf sie zukam, faßte sie sich schnell,
kam dieser entgegen und nahm Abschied.

Ludwig wurde von Marie bis zum Gitter des Gartens geleitet
und drang in diese, Helene wieder fröhlich zu stimmen.

"O", lachte sie auf, "ich werde ihr schon zusetzen! Wenn Du
wiederkommst, sollst Du sehen, wie munter sie sein wird. Du kommst
doch heut wieder, Ludwig?" fragte sie schmeichelnd.

"Gewiß; ich komme zum Abend wieder", antwortete er und gab
ihr einen flüchtigen Kuß.

Nachdenklich ging er dann allein die Straße entlang und beachtete
nicht den Gruß Vorübergehender. Er dachte darüber nach, was der
Assessor ihm gesagt hatte, und mußte sich bekennen, daß derselbe in
manchem Punkt Recht gehabt hatte. Jetzt zum ersten Mal dachte er
darüber nach und schien nicht gerade froh zu sein.

VI.

Wieder waren einige Wochen vergangen. Es war ein heller,
freundlicher Tag; die Mädchen hatten es nicht länger bei der Arbeit
in der Stube ausgehalten und waren herausgesprungen in den
Garten. Da eilten sie in ihren leichten, luftigen Gewändern umher
und pflückten Blumen, sich einen Strauß zusammenzustellen. Jeder,
der sie hier sah, mußte sie für zwei Schwestern halten. Der Banquier
hatte reichlich für die Frühlingstoilette der beiden Mädchen gesorgt;
aber um jeden Hader zu vermeiden, hatte er der Einen dasselbe wie
der Andern gegeben, und er liebte es, wenn sie in gleichem Kleid und
Putz erschienen. So hatten sie auch heut dieselbe Tracht angelegt,
und nur der Geschmack des Ausputzes ließ hier und da eine kleine
Verschiedenheit erkennen. Sie waren von gleicher Größe, Beide
hatten dunkelbraunes Haar, und dieselbe Frische lag auf Beider Wan-
gen. Freilich die Gesichtszüge waren verschieden. Helene besaß nicht
das heitere Temperament, wie es auf dem Antlitz Mariens mit seinem
kleinen Näschen, dem etwas breiten Mund und den hellen blauen
Augen sich ausdrückte. Durch die feine Haut Helenens schimmerte
das lichte Blau der Adern; sie sah zierlich aus neben der vollen,
kräftigen Marie.

Nichts hatte sich für die beiden Mädchen im Hause verändert.
Helene durfte fortfahren, hier die eben erlangte Gesundheit zu kräftigen.
War nicht der Vater höchst erstaunt gewesen, als er nach einigen
Wochen kam und seine Tochter ihm im Garten entgegeneilte?
Hatte nicht seine Hand leicht gezittert, als sie die ihrige hineinlegte?
Mochte er nicht einige Gewissensbisse empfinden, da er seine Tochter
wiedersah, jung und froh geworden im Zeitraum weniger Tage?
Freilich anmerken ließ er es sich nicht, als er so kalt und mißtrauisch
wie immer nach den Verhältnissen im Hause forschte. Der Banquier
war nicht anwesend, und Marie, welche den Vater Helenens in die
Wohnung führte, wollte nach ihm schicken. Er gab es nicht zu und
entfernte sich bald wieder. Die beiden Mädchen waren froh, daß
der Besuch so gut abgelaufen war, ohne daß er etwas davon gesagt
hatte, Helene in sein Haus zurückzuführen. Er kam noch ein zweites
Mal; wieder war der Banquier nicht zu Hause, und wieder entfernte
er sich mit demselben frostigen Nicken. Seitdem waren schon Wochen
vergangen, und Helene dachte kaum mehr zurück an die schlimm ver-
brachte Zeit -- das Leid vergißt sich in der Jugend ja so schnell!

Helene hatte, die Blumen auf dem Schooß, sich auf einem der
Gartenstühle niedergelassen und suchte sie zum Strauß zu ordnen;
Marie stand daneben mit dem braunen Strohhut in der Hand,
nahm die eine und die andere Blume aus dem Schooß Helenens auf
und steckte sie dieser in das Haar. Plötzlich aber hielt sie inne und
[Spaltenumbruch] hob den Kopf Helenens mit der Hand in die Höhe, so daß diese
ihr ins Gesicht sah.

"Sage mir aufrichtig, Helene", sprach sie, "aufrichtig, Helene",
und dabei sah sie wehmüthig auf diese nieder, "ob, ob er mich wirklich
lieb hat!"

Helene sprang auf und schüttelte die Blumen vom Kleide.

"Was fällt Dir ein, Marie? Von wem sprichst Du?"

"Nun, natürlich von meinem Bräutigam", sagte Marie, etwas
stockend.

"Aber Marie", Helene war roth geworden, "wie magst Du
zweifeln?"

"Zweifellos ist es nicht", meinte Marie und schlug zu gleicher Zeit
mit ihrem Strohhut nach einem Schmetterling, der an ihr vorbei flog,
"gar nicht! Jch habe heut Nacht in meinem Bette lange darüber
nachgedacht. Wenn ich ein Bräutigam wäre, ich würde mich anders
betragen."

"Aber was hast Du denn auszusetzen, Marie? Hat er Dir nicht
erst vorhin, als er wegging, eine ganze Menge Liebenswürdigkeiten
gesagt? Wie gut Du heut aussiehst! Das Kleid steht Dir aller-
liebst! und so weiter. Sieh, ich habe dasselbe Kleid, wie Du; an
mir hat er es gar nicht beachtet."

"Hm, das ist richtig", sagte Marie nachdenklich. "Jedoch aufs
Kleid kommt es am Ende nicht an."

"Und wie aufmerksam er ist! Sobald er ins Zimmer tritt, suchen
seine Augen Dich zuerst; uns Andere übersieht er ganz, bis er Dich
begrüßt hat. Bist Du nicht im Zimmer, so eilt er wieder hinaus,
Dich zu suchen. Wirklich, Marie, es ist sehr unrecht von Dir, an
seiner Liebe zu zweifeln". Helene war ganz eifrig geworden und sah
Marie fast zürnend an.

Diese lachte hell auf.

"Wenn ich daran zurück denke, wie wir uns unser künftiges Glück
in der Pension ausmalten! Denke Dir, meine beste Freundin hatte
sich in den Kopf gesetzt, sie wollte sich entführen lassen. Nun hat sie
mir Nachricht gegeben, daß sie einen achtundvierzigjährigen Handels-
herrn heirathe, der, anstatt von Liebe, von Börsencoursen schwatze und
und sie nicht weiter entführe, als bis zu seinem nahen Landsitz. Eine
Andere wollte einen Lord heirathen, der rothe Haare habe und ein
recht verrückter Engländer sei; aber jetzt hat sie einen vernünftigen
Assessor geheirathet, der fast gar kein Haar mehr besitzt. Nun, am
Ende komme ich noch am besten weg", sie neigte den Kopf auf die
Seite und versuchte einige Falten in ihr Gesicht zu legen, "wenn
Ludwig auch nicht gerade in mich verliebt ist, so hat er doch ein
gutes Herz, und ich -- ich werde ihn lieb haben."

Helene schwieg und fing wieder an, die Blumen zu ordnen, welche
sie vom Boden aufgenommen hatte. Marie ließ sich auf einen der
Gartenstühle nieder.

"Du bist ein wunderliches Mädchen, Helene", begann Marie nach
kurzer Pause wieder, "ganz anders, als meine früheren Freundinnen.
Worin aber der Unterschied liegt, kann ich selbst nicht finden."

"Jch bin viel ernster, als Jene; Du hast es mir ja schon oft
versichert."

"Daran liegt es nicht allein. Sieh, Du springst ja auch durch
den Garten und lachst und singst, besonders in der letzten Zeit, seit-
dem Du wieder ganz gesund bist; aber doch bleibt Dir immer etwas
Eigenthümliches anhaften."

"Du hast recht, Marie; ich kann nicht so leichthin leben, wie
ihr glücklichen Menschen. Jedes Vergnügen, jede Freude, welche mir
hier wird, fasse ich viel tiefer auf und gebe mich ihr mit viel
größerem Genuß hin, als ihr zu thun pflegt, die ihr an diese Dinge
gewöhnt seid."

"Ja", Marie faßte die Hand der Freundin, "das ist wahr. Und
wenn Du lächelst und Dein Auge strahlt, dann kann Jeder darin
lesen, daß diese Empfindung nicht mit dem Augenblick verschwunden
sein wird. Aber noch etwas Besonderes hast Du; ich kann es Dir
jetzt vielleicht erklären. Bei meinen Freundinnen und bei mir selbst
kommt es oft vor, daß wir bald diese, bald jene Gefühle gegen be-
stimmte Menschen hegen, daß wir schnell ein Urtheil aussprechen und
dies doch nicht unser Thun bestimmt. Du aber bist so gleichmäßig
in Allem, was Deine Nebenmenschen betrifft."

"Weil ich nur Wenige kenne, ist es mir leicht, über diese eine feste
Meinung zu hegen. Außerdem bin ich durch mein früheres Leben
daran gewöhnt, zu beachten und still zu sein."

"Wenn ich meine Gefühle gegen meinen Bräutigam, wie sie oft
wechseln, zusammenfassen sollte! Bald wird er mir gleichgültig, bald
tadle ich diese und jene Seite an ihm -- versteht sich, nur bei mir
selbst, und bald gefällt er mir so sehr, daß ich laut jubeln möchte.
Dagegen Du, die Du fast eben so viel mit meinem Bräutigam zusammen
bist, die Du ihn vielleicht noch besser kennst, als ich selbst, Du
lächelst ihm entgegen, wenn er kommt, reichst ihm mit freundlichem
Gruß die Hand, und mag er auch noch so lange uns haben warten
lassen, von Dir hört er kein schlimmes Wort."

[Ende Spaltensatz]
[Beginn Spaltensatz]

Helene schlug flehend ihre braunen Augen zu den beiden Mädchen
auf, und dabei streifte ihr Blick das Gesicht Ludwigs, dann aber
stützte sie ihren Kopf auf den Tisch, und eine Thräne floß über ihre
Wangen.

„Sei nicht böse, Helene!“ rief die gutmüthige Marie und um-
armte sie. „Wir wollen jetzt davon schweigen.“

„Nein!“ fuhr Helene empor, „sprecht nicht von meiner Zukunft.
Jch bin ja jetzt so glücklich bei Euch, Marie“, und dabei lehnte sie
ihren Kopf an Marie, und diese streichelte ihr mit den Händen das
schöne braune Haar, „und ganz unverhofft ist mir dies Glück ge-
kommen. Dafür werde ich mein Lebelang dankbar sein. Ja, das
werde ich, Marie! Und wenn es nur noch ein Paar Tage vielleicht
sind, die ich hier verweilen darf, sie werden mich für Jahre hinaus
stärken. Jhr wißt Alle nicht, wie schön, wie schön es hier ist!“

Sie machte sich schnell von Marie los, ging zu dem nächsten
Busch und zupfte dort an den kleinen grünen Blättchen, indem sie
das Gesicht von der Gesellschaft abgewendet hielt.

„Jch muß aufs Amt gehen, es wird Zeit“, meinte der Assessor.

Ludwig erklärte ebenfalls, sich entfernen zu müssen, und nahm
Abschied von Marie. Dann ging er zu Helene und drückte ihr
die Hand.

„Adieu, Helene.“

„Adieu“, sagte sie dumpf, indem ihr Blick auf dem Boden haftete.
Als jedoch die Braut des Assessors auf sie zukam, faßte sie sich schnell,
kam dieser entgegen und nahm Abschied.

Ludwig wurde von Marie bis zum Gitter des Gartens geleitet
und drang in diese, Helene wieder fröhlich zu stimmen.

„O“, lachte sie auf, „ich werde ihr schon zusetzen! Wenn Du
wiederkommst, sollst Du sehen, wie munter sie sein wird. Du kommst
doch heut wieder, Ludwig?“ fragte sie schmeichelnd.

„Gewiß; ich komme zum Abend wieder“, antwortete er und gab
ihr einen flüchtigen Kuß.

Nachdenklich ging er dann allein die Straße entlang und beachtete
nicht den Gruß Vorübergehender. Er dachte darüber nach, was der
Assessor ihm gesagt hatte, und mußte sich bekennen, daß derselbe in
manchem Punkt Recht gehabt hatte. Jetzt zum ersten Mal dachte er
darüber nach und schien nicht gerade froh zu sein.

VI.

Wieder waren einige Wochen vergangen. Es war ein heller,
freundlicher Tag; die Mädchen hatten es nicht länger bei der Arbeit
in der Stube ausgehalten und waren herausgesprungen in den
Garten. Da eilten sie in ihren leichten, luftigen Gewändern umher
und pflückten Blumen, sich einen Strauß zusammenzustellen. Jeder,
der sie hier sah, mußte sie für zwei Schwestern halten. Der Banquier
hatte reichlich für die Frühlingstoilette der beiden Mädchen gesorgt;
aber um jeden Hader zu vermeiden, hatte er der Einen dasselbe wie
der Andern gegeben, und er liebte es, wenn sie in gleichem Kleid und
Putz erschienen. So hatten sie auch heut dieselbe Tracht angelegt,
und nur der Geschmack des Ausputzes ließ hier und da eine kleine
Verschiedenheit erkennen. Sie waren von gleicher Größe, Beide
hatten dunkelbraunes Haar, und dieselbe Frische lag auf Beider Wan-
gen. Freilich die Gesichtszüge waren verschieden. Helene besaß nicht
das heitere Temperament, wie es auf dem Antlitz Mariens mit seinem
kleinen Näschen, dem etwas breiten Mund und den hellen blauen
Augen sich ausdrückte. Durch die feine Haut Helenens schimmerte
das lichte Blau der Adern; sie sah zierlich aus neben der vollen,
kräftigen Marie.

Nichts hatte sich für die beiden Mädchen im Hause verändert.
Helene durfte fortfahren, hier die eben erlangte Gesundheit zu kräftigen.
War nicht der Vater höchst erstaunt gewesen, als er nach einigen
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Hatte nicht seine Hand leicht gezittert, als sie die ihrige hineinlegte?
Mochte er nicht einige Gewissensbisse empfinden, da er seine Tochter
wiedersah, jung und froh geworden im Zeitraum weniger Tage?
Freilich anmerken ließ er es sich nicht, als er so kalt und mißtrauisch
wie immer nach den Verhältnissen im Hause forschte. Der Banquier
war nicht anwesend, und Marie, welche den Vater Helenens in die
Wohnung führte, wollte nach ihm schicken. Er gab es nicht zu und
entfernte sich bald wieder. Die beiden Mädchen waren froh, daß
der Besuch so gut abgelaufen war, ohne daß er etwas davon gesagt
hatte, Helene in sein Haus zurückzuführen. Er kam noch ein zweites
Mal; wieder war der Banquier nicht zu Hause, und wieder entfernte
er sich mit demselben frostigen Nicken. Seitdem waren schon Wochen
vergangen, und Helene dachte kaum mehr zurück an die schlimm ver-
brachte Zeit — das Leid vergißt sich in der Jugend ja so schnell!

Helene hatte, die Blumen auf dem Schooß, sich auf einem der
Gartenstühle niedergelassen und suchte sie zum Strauß zu ordnen;
Marie stand daneben mit dem braunen Strohhut in der Hand,
nahm die eine und die andere Blume aus dem Schooß Helenens auf
und steckte sie dieser in das Haar. Plötzlich aber hielt sie inne und
[Spaltenumbruch] hob den Kopf Helenens mit der Hand in die Höhe, so daß diese
ihr ins Gesicht sah.

„Sage mir aufrichtig, Helene“, sprach sie, „aufrichtig, Helene“,
und dabei sah sie wehmüthig auf diese nieder, „ob, ob er mich wirklich
lieb hat!“

Helene sprang auf und schüttelte die Blumen vom Kleide.

„Was fällt Dir ein, Marie? Von wem sprichst Du?“

„Nun, natürlich von meinem Bräutigam“, sagte Marie, etwas
stockend.

„Aber Marie“, Helene war roth geworden, „wie magst Du
zweifeln?“

„Zweifellos ist es nicht“, meinte Marie und schlug zu gleicher Zeit
mit ihrem Strohhut nach einem Schmetterling, der an ihr vorbei flog,
„gar nicht! Jch habe heut Nacht in meinem Bette lange darüber
nachgedacht. Wenn ich ein Bräutigam wäre, ich würde mich anders
betragen.“

„Aber was hast Du denn auszusetzen, Marie? Hat er Dir nicht
erst vorhin, als er wegging, eine ganze Menge Liebenswürdigkeiten
gesagt? Wie gut Du heut aussiehst! Das Kleid steht Dir aller-
liebst! und so weiter. Sieh, ich habe dasselbe Kleid, wie Du; an
mir hat er es gar nicht beachtet.“

„Hm, das ist richtig“, sagte Marie nachdenklich. „Jedoch aufs
Kleid kommt es am Ende nicht an.“

„Und wie aufmerksam er ist! Sobald er ins Zimmer tritt, suchen
seine Augen Dich zuerst; uns Andere übersieht er ganz, bis er Dich
begrüßt hat. Bist Du nicht im Zimmer, so eilt er wieder hinaus,
Dich zu suchen. Wirklich, Marie, es ist sehr unrecht von Dir, an
seiner Liebe zu zweifeln“. Helene war ganz eifrig geworden und sah
Marie fast zürnend an.

Diese lachte hell auf.

„Wenn ich daran zurück denke, wie wir uns unser künftiges Glück
in der Pension ausmalten! Denke Dir, meine beste Freundin hatte
sich in den Kopf gesetzt, sie wollte sich entführen lassen. Nun hat sie
mir Nachricht gegeben, daß sie einen achtundvierzigjährigen Handels-
herrn heirathe, der, anstatt von Liebe, von Börsencoursen schwatze und
und sie nicht weiter entführe, als bis zu seinem nahen Landsitz. Eine
Andere wollte einen Lord heirathen, der rothe Haare habe und ein
recht verrückter Engländer sei; aber jetzt hat sie einen vernünftigen
Assessor geheirathet, der fast gar kein Haar mehr besitzt. Nun, am
Ende komme ich noch am besten weg“, sie neigte den Kopf auf die
Seite und versuchte einige Falten in ihr Gesicht zu legen, „wenn
Ludwig auch nicht gerade in mich verliebt ist, so hat er doch ein
gutes Herz, und ich — ich werde ihn lieb haben.“

Helene schwieg und fing wieder an, die Blumen zu ordnen, welche
sie vom Boden aufgenommen hatte. Marie ließ sich auf einen der
Gartenstühle nieder.

„Du bist ein wunderliches Mädchen, Helene“, begann Marie nach
kurzer Pause wieder, „ganz anders, als meine früheren Freundinnen.
Worin aber der Unterschied liegt, kann ich selbst nicht finden.“

„Jch bin viel ernster, als Jene; Du hast es mir ja schon oft
versichert.“

„Daran liegt es nicht allein. Sieh, Du springst ja auch durch
den Garten und lachst und singst, besonders in der letzten Zeit, seit-
dem Du wieder ganz gesund bist; aber doch bleibt Dir immer etwas
Eigenthümliches anhaften.“

„Du hast recht, Marie; ich kann nicht so leichthin leben, wie
ihr glücklichen Menschen. Jedes Vergnügen, jede Freude, welche mir
hier wird, fasse ich viel tiefer auf und gebe mich ihr mit viel
größerem Genuß hin, als ihr zu thun pflegt, die ihr an diese Dinge
gewöhnt seid.“

„Ja“, Marie faßte die Hand der Freundin, „das ist wahr. Und
wenn Du lächelst und Dein Auge strahlt, dann kann Jeder darin
lesen, daß diese Empfindung nicht mit dem Augenblick verschwunden
sein wird. Aber noch etwas Besonderes hast Du; ich kann es Dir
jetzt vielleicht erklären. Bei meinen Freundinnen und bei mir selbst
kommt es oft vor, daß wir bald diese, bald jene Gefühle gegen be-
stimmte Menschen hegen, daß wir schnell ein Urtheil aussprechen und
dies doch nicht unser Thun bestimmt. Du aber bist so gleichmäßig
in Allem, was Deine Nebenmenschen betrifft.“

„Weil ich nur Wenige kenne, ist es mir leicht, über diese eine feste
Meinung zu hegen. Außerdem bin ich durch mein früheres Leben
daran gewöhnt, zu beachten und still zu sein.“

„Wenn ich meine Gefühle gegen meinen Bräutigam, wie sie oft
wechseln, zusammenfassen sollte! Bald wird er mir gleichgültig, bald
tadle ich diese und jene Seite an ihm — versteht sich, nur bei mir
selbst, und bald gefällt er mir so sehr, daß ich laut jubeln möchte.
Dagegen Du, die Du fast eben so viel mit meinem Bräutigam zusammen
bist, die Du ihn vielleicht noch besser kennst, als ich selbst, Du
lächelst ihm entgegen, wenn er kommt, reichst ihm mit freundlichem
Gruß die Hand, und mag er auch noch so lange uns haben warten
lassen, von Dir hört er kein schlimmes Wort.“

[Ende Spaltensatz]
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[170/0002] 170 Helene schlug flehend ihre braunen Augen zu den beiden Mädchen auf, und dabei streifte ihr Blick das Gesicht Ludwigs, dann aber stützte sie ihren Kopf auf den Tisch, und eine Thräne floß über ihre Wangen. „Sei nicht böse, Helene!“ rief die gutmüthige Marie und um- armte sie. „Wir wollen jetzt davon schweigen.“ „Nein!“ fuhr Helene empor, „sprecht nicht von meiner Zukunft. Jch bin ja jetzt so glücklich bei Euch, Marie“, und dabei lehnte sie ihren Kopf an Marie, und diese streichelte ihr mit den Händen das schöne braune Haar, „und ganz unverhofft ist mir dies Glück ge- kommen. Dafür werde ich mein Lebelang dankbar sein. Ja, das werde ich, Marie! Und wenn es nur noch ein Paar Tage vielleicht sind, die ich hier verweilen darf, sie werden mich für Jahre hinaus stärken. Jhr wißt Alle nicht, wie schön, wie schön es hier ist!“ Sie machte sich schnell von Marie los, ging zu dem nächsten Busch und zupfte dort an den kleinen grünen Blättchen, indem sie das Gesicht von der Gesellschaft abgewendet hielt. „Jch muß aufs Amt gehen, es wird Zeit“, meinte der Assessor. Ludwig erklärte ebenfalls, sich entfernen zu müssen, und nahm Abschied von Marie. Dann ging er zu Helene und drückte ihr die Hand. „Adieu, Helene.“ „Adieu“, sagte sie dumpf, indem ihr Blick auf dem Boden haftete. Als jedoch die Braut des Assessors auf sie zukam, faßte sie sich schnell, kam dieser entgegen und nahm Abschied. Ludwig wurde von Marie bis zum Gitter des Gartens geleitet und drang in diese, Helene wieder fröhlich zu stimmen. „O“, lachte sie auf, „ich werde ihr schon zusetzen! Wenn Du wiederkommst, sollst Du sehen, wie munter sie sein wird. Du kommst doch heut wieder, Ludwig?“ fragte sie schmeichelnd. „Gewiß; ich komme zum Abend wieder“, antwortete er und gab ihr einen flüchtigen Kuß. Nachdenklich ging er dann allein die Straße entlang und beachtete nicht den Gruß Vorübergehender. Er dachte darüber nach, was der Assessor ihm gesagt hatte, und mußte sich bekennen, daß derselbe in manchem Punkt Recht gehabt hatte. Jetzt zum ersten Mal dachte er darüber nach und schien nicht gerade froh zu sein. VI. Wieder waren einige Wochen vergangen. Es war ein heller, freundlicher Tag; die Mädchen hatten es nicht länger bei der Arbeit in der Stube ausgehalten und waren herausgesprungen in den Garten. Da eilten sie in ihren leichten, luftigen Gewändern umher und pflückten Blumen, sich einen Strauß zusammenzustellen. Jeder, der sie hier sah, mußte sie für zwei Schwestern halten. Der Banquier hatte reichlich für die Frühlingstoilette der beiden Mädchen gesorgt; aber um jeden Hader zu vermeiden, hatte er der Einen dasselbe wie der Andern gegeben, und er liebte es, wenn sie in gleichem Kleid und Putz erschienen. So hatten sie auch heut dieselbe Tracht angelegt, und nur der Geschmack des Ausputzes ließ hier und da eine kleine Verschiedenheit erkennen. Sie waren von gleicher Größe, Beide hatten dunkelbraunes Haar, und dieselbe Frische lag auf Beider Wan- gen. Freilich die Gesichtszüge waren verschieden. Helene besaß nicht das heitere Temperament, wie es auf dem Antlitz Mariens mit seinem kleinen Näschen, dem etwas breiten Mund und den hellen blauen Augen sich ausdrückte. Durch die feine Haut Helenens schimmerte das lichte Blau der Adern; sie sah zierlich aus neben der vollen, kräftigen Marie. Nichts hatte sich für die beiden Mädchen im Hause verändert. Helene durfte fortfahren, hier die eben erlangte Gesundheit zu kräftigen. War nicht der Vater höchst erstaunt gewesen, als er nach einigen Wochen kam und seine Tochter ihm im Garten entgegeneilte? Hatte nicht seine Hand leicht gezittert, als sie die ihrige hineinlegte? Mochte er nicht einige Gewissensbisse empfinden, da er seine Tochter wiedersah, jung und froh geworden im Zeitraum weniger Tage? Freilich anmerken ließ er es sich nicht, als er so kalt und mißtrauisch wie immer nach den Verhältnissen im Hause forschte. Der Banquier war nicht anwesend, und Marie, welche den Vater Helenens in die Wohnung führte, wollte nach ihm schicken. Er gab es nicht zu und entfernte sich bald wieder. Die beiden Mädchen waren froh, daß der Besuch so gut abgelaufen war, ohne daß er etwas davon gesagt hatte, Helene in sein Haus zurückzuführen. Er kam noch ein zweites Mal; wieder war der Banquier nicht zu Hause, und wieder entfernte er sich mit demselben frostigen Nicken. Seitdem waren schon Wochen vergangen, und Helene dachte kaum mehr zurück an die schlimm ver- brachte Zeit — das Leid vergißt sich in der Jugend ja so schnell! Helene hatte, die Blumen auf dem Schooß, sich auf einem der Gartenstühle niedergelassen und suchte sie zum Strauß zu ordnen; Marie stand daneben mit dem braunen Strohhut in der Hand, nahm die eine und die andere Blume aus dem Schooß Helenens auf und steckte sie dieser in das Haar. Plötzlich aber hielt sie inne und hob den Kopf Helenens mit der Hand in die Höhe, so daß diese ihr ins Gesicht sah. „Sage mir aufrichtig, Helene“, sprach sie, „aufrichtig, Helene“, und dabei sah sie wehmüthig auf diese nieder, „ob, ob er mich wirklich lieb hat!“ Helene sprang auf und schüttelte die Blumen vom Kleide. „Was fällt Dir ein, Marie? Von wem sprichst Du?“ „Nun, natürlich von meinem Bräutigam“, sagte Marie, etwas stockend. „Aber Marie“, Helene war roth geworden, „wie magst Du zweifeln?“ „Zweifellos ist es nicht“, meinte Marie und schlug zu gleicher Zeit mit ihrem Strohhut nach einem Schmetterling, der an ihr vorbei flog, „gar nicht! Jch habe heut Nacht in meinem Bette lange darüber nachgedacht. Wenn ich ein Bräutigam wäre, ich würde mich anders betragen.“ „Aber was hast Du denn auszusetzen, Marie? Hat er Dir nicht erst vorhin, als er wegging, eine ganze Menge Liebenswürdigkeiten gesagt? Wie gut Du heut aussiehst! Das Kleid steht Dir aller- liebst! und so weiter. Sieh, ich habe dasselbe Kleid, wie Du; an mir hat er es gar nicht beachtet.“ „Hm, das ist richtig“, sagte Marie nachdenklich. „Jedoch aufs Kleid kommt es am Ende nicht an.“ „Und wie aufmerksam er ist! Sobald er ins Zimmer tritt, suchen seine Augen Dich zuerst; uns Andere übersieht er ganz, bis er Dich begrüßt hat. Bist Du nicht im Zimmer, so eilt er wieder hinaus, Dich zu suchen. Wirklich, Marie, es ist sehr unrecht von Dir, an seiner Liebe zu zweifeln“. Helene war ganz eifrig geworden und sah Marie fast zürnend an. Diese lachte hell auf. „Wenn ich daran zurück denke, wie wir uns unser künftiges Glück in der Pension ausmalten! Denke Dir, meine beste Freundin hatte sich in den Kopf gesetzt, sie wollte sich entführen lassen. Nun hat sie mir Nachricht gegeben, daß sie einen achtundvierzigjährigen Handels- herrn heirathe, der, anstatt von Liebe, von Börsencoursen schwatze und und sie nicht weiter entführe, als bis zu seinem nahen Landsitz. Eine Andere wollte einen Lord heirathen, der rothe Haare habe und ein recht verrückter Engländer sei; aber jetzt hat sie einen vernünftigen Assessor geheirathet, der fast gar kein Haar mehr besitzt. Nun, am Ende komme ich noch am besten weg“, sie neigte den Kopf auf die Seite und versuchte einige Falten in ihr Gesicht zu legen, „wenn Ludwig auch nicht gerade in mich verliebt ist, so hat er doch ein gutes Herz, und ich — ich werde ihn lieb haben.“ Helene schwieg und fing wieder an, die Blumen zu ordnen, welche sie vom Boden aufgenommen hatte. Marie ließ sich auf einen der Gartenstühle nieder. „Du bist ein wunderliches Mädchen, Helene“, begann Marie nach kurzer Pause wieder, „ganz anders, als meine früheren Freundinnen. Worin aber der Unterschied liegt, kann ich selbst nicht finden.“ „Jch bin viel ernster, als Jene; Du hast es mir ja schon oft versichert.“ „Daran liegt es nicht allein. Sieh, Du springst ja auch durch den Garten und lachst und singst, besonders in der letzten Zeit, seit- dem Du wieder ganz gesund bist; aber doch bleibt Dir immer etwas Eigenthümliches anhaften.“ „Du hast recht, Marie; ich kann nicht so leichthin leben, wie ihr glücklichen Menschen. Jedes Vergnügen, jede Freude, welche mir hier wird, fasse ich viel tiefer auf und gebe mich ihr mit viel größerem Genuß hin, als ihr zu thun pflegt, die ihr an diese Dinge gewöhnt seid.“ „Ja“, Marie faßte die Hand der Freundin, „das ist wahr. Und wenn Du lächelst und Dein Auge strahlt, dann kann Jeder darin lesen, daß diese Empfindung nicht mit dem Augenblick verschwunden sein wird. Aber noch etwas Besonderes hast Du; ich kann es Dir jetzt vielleicht erklären. Bei meinen Freundinnen und bei mir selbst kommt es oft vor, daß wir bald diese, bald jene Gefühle gegen be- stimmte Menschen hegen, daß wir schnell ein Urtheil aussprechen und dies doch nicht unser Thun bestimmt. Du aber bist so gleichmäßig in Allem, was Deine Nebenmenschen betrifft.“ „Weil ich nur Wenige kenne, ist es mir leicht, über diese eine feste Meinung zu hegen. Außerdem bin ich durch mein früheres Leben daran gewöhnt, zu beachten und still zu sein.“ „Wenn ich meine Gefühle gegen meinen Bräutigam, wie sie oft wechseln, zusammenfassen sollte! Bald wird er mir gleichgültig, bald tadle ich diese und jene Seite an ihm — versteht sich, nur bei mir selbst, und bald gefällt er mir so sehr, daß ich laut jubeln möchte. Dagegen Du, die Du fast eben so viel mit meinem Bräutigam zusammen bist, die Du ihn vielleicht noch besser kennst, als ich selbst, Du lächelst ihm entgegen, wenn er kommt, reichst ihm mit freundlichem Gruß die Hand, und mag er auch noch so lange uns haben warten lassen, von Dir hört er kein schlimmes Wort.“

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 22. Berlin, 31. Mai 1868, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt22_1868/2>, abgerufen am 03.07.2024.