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Sonntags-Blatt. Nr. 22. Berlin, 31. Mai 1868.

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[Beginn Spaltensatz]

"Wie könnte ich mir ein Recht anmaßen, über ihn zu urtheilen?
Nicht um meinetwillen kommt er ja hierher. Gegen ihn hege ich nur
ein einziges Gefühl, und dieses werde ich nie verlieren: ich bin ihm
aus vollem Herzen dankbar -- Du weißt, Marie, wie sehr ich es ihm
schuldig bin."

"Welch ein gutes, herrliches Geschöpf Du bist!" Marie um-
armte in großer Aufregung Helene.

Während dieses Gesprächs hatte sich eine Frau mit leisen Schritten
genähert. Helene, als sie sich umkehrte, gewahrte die Haushälterin
ihres Vaters. Diese machte ein so freundliches Gesicht, wie sie es
nur immer konnte, als sie von Helene begrüßt wurde, und brachte
ein großes Bündel zum Vorschein, welches sie als den Frühjahrs-
anzug für Helene überreichte. Der Vater hatte sich endlich darauf
besonnen, daß seine Tochter wohl einige Kleider nöthig haben werde,
und aus dem sehr bescheidenen Vorrath, den sie besaß, ließ er das
Beste von der Haushälterin heraussuchen und zu ihr bringen.

Als diese nun aber den Anzug Helenens musterte, machte sie ein
sehr verdutztes Gesicht; sie sah wohl ein, daß die Kleider, welche sie
überbrachte, keinen Werth mehr für das Mädchen haben konnten, und
daß sie viel reicher gekleidet war, als es zu Hause zu geschehen
pflegte. Helene bemerkte ihre Verwunderung und erzählte ihr von
der Güte des Banquiers, welcher sie bis auf das Kleinste ausgestattet
hatte. Die Haushälterin hörte mit etwas grinsender Geberde zu;
dann aber wurde sie, als die Aufzählung der Gegenstände kein Ende
nehmen wollte, plötzlich ernst.

"Und das Alles", unterbrach sie die eifrige Helene, "hat Jhnen
der Herr geschenkt? Wie gut Sie es hier haben! Aber", ihre Stimme
wurde leise und krächzend, "was wird Jhr Herr Vater dazu sagen,
wenn Sie so viele Dinge nach Hause bringen werden? Sie wissen,
er ist -- so eigen; er leidet nicht, daß wir Geschenke von Fremden
annehmen. Er wird gewiß darüber böse sein."

Helene war blaß geworden, seitdem ihr der Gedanke an ihre
Rückkehr nahe gelegt war. Sie fragte jetzt mit zitterndem Ton nach
dem Befinden des Vaters.

"Er ist wohl", antwortete diese; "er hat so manche Andeutungen
fallen lassen, daß er bald wieder von hier abreisen wolle; es gefalle
ihm nicht mehr in der Stadt."

"Er will abreisen?" fuhr Marie auf. "Nun gut, das mag er.
Helene bleibt bei uns, sie darf nicht von mir fort."

Die Haushälterin sah erschrocken auf.

"Wenn der Herr befiehlt, daß wir abreisen", sprach sie dann,
"wird Fräulein Helene wohl gehorchen müssen; er wird sie jedenfalls
nicht hier allein lassen."

"Warum soll sie nicht hier bleiben?" fuhr Marie fort. "Will er
sie wieder in ein enges, dumpfes Zimmer stecken, damit sie dort ganz
ersticke? Nein, Helene, in unserem Hause bist Du glücklich, und wir
Alle sind glücklich durch Dich."

Eben trat der Banquier in den Garten, und die Mädchen eilten
ihm entgegen. Er reichte Jeder die Hand. Marie beeilte sich, den
Vater von dem drohenden Unwetter in Kenntniß zu setzen und auf
das Bestimmteste, wie sich ausdrückte, zu erklären, daß Helene nicht
fortziehen dürfe. Der Banquier machte ein nachdenkliches Gesicht.

"Dem Vater, liebe Marie", sprach er, "kann Helene nicht trotzen.
Sie hat ihre Kindespflicht zu erfüllen. Wenn er also verlangt, daß
sie zu ihm zurückkehre, wird Helene sich nicht halten lassen."

Helene gab mit betrübten Mienen ihre Zustimmung.

"So sollen wir sie also verlieren?" rief Marie, und das Weinen
stand ihr nahe.

"So weit ist es noch nicht", versetzte der Vater; "vielleicht giebt
es ein Mittel, die Trennung abzuwenden. Jch bereue es, mich noch
nicht mit dem Vater bekannt gemacht zu haben. Er wird einer Ver-
ständigung nicht unzugänglich sein."

Währenddessen waren sie an der Stelle vorübergegangen, wo die
Haushälterin stand. Diese hatte sich gänzlich hinter das Gebüsch zurück-
gezogen. Jhr Gesicht war bleich und bleicher geworden, als sie die
Stimme des Banquiers vernahm; ein Zittern ging durch ihre Glieder,
und mit halb geöffnetem Mund und verzerrten Zügen sah sie auf
ihn hin, als sei ihr ein Gespenst gegenübergestellt, vor welchem sie
nicht zu fliehen wage.

Als sich Helene endlich nach der Haushälterin umsah, um ihr
noch einige Aufträge an den Vater mitzugeben, war diese verschwun-
den; sie hatte sich endlich ermannt und war hinter den Büschen weg
zum Ausgang des Gartens geeilt.

[Spaltenumbruch]
VII.

Der Doktor stand in seinem Zimmer und rang die Hände, wäh-
rend der Assessor auf dem Sopha saß und ruhig eine Cigarre rauchte.

"Jch sagte Dir, Freund, und ich wiederhole es", begann der Letztere,
"die ganze Angelegenheit beruht nur auf einer inneren Täuschung,
auf einer augenblicklichen Verwirrung Deines Geistes. Laß nur
einige Tage hingehen, so wirst Du mit mehr Verständniß urtheilen
und handeln können. Jch ertheile Dir den Rath, gieb Dich für
krank aus und bleibe einige Tage zu Hause."

"Jch kann nicht", sprach der Doktor mit dumpfer Stimme, "diese
schreckliche Lage muß ein Ende nehmen! Schon lange trage ich alle
diese Qualen in mir; ich fühlte mich stark genug, sie zu verbergen.
Aber nun --"

"So erzähle mir wenigstens, welcher Anlaß Dich zu einer solchen
Raserei führt", sprach der Assessor, suchte sich eine bequeme Stellung
auf dem Sopha aus und schlug die Beine über einander.

Der Doktor aber erzählte nicht, sondern stieß nur einzelne Worte
hervor.

Nach längerem Warten fing der Assessor wieder in seiner ruhigen
Art zu sprechen an.

"Du weißt, ich hatte Dich schon vor längerer Zeit gewarnt; da-
mals aber widersprachst Du mir, Du wolltest keine Gefahr für Dich
erkennen. Nun ist die Sache anders geworden. Nachdem Du lange
genug mit dem Feuer gespielt hast, hast Du eine Wunde weg-
bekommen, und nun -- schreist Du und geberdest Dich wie ein
kleines Kind, welches sich am Ofen verbrannt hat. Laß mich die
Geschichte hören", setzte er dann hinzu.

"Jch sehe kein Heil, außer -- Nein, ich will nicht feig sein!
Von jeher habe ich es mit den Fatalisten gehalten; was dem Men-
schen kommen soll, muß er ertragen, es giebt für ihn keinen Ausweg.
Jch sah die Gefahr so gut, wie Du, ja, ich hatte oft eine Ahnung,
daß sie mich verderben würde. Aber was sollte ich beginnen? Hätte
ich mir zumuthen sollen, das Mädchen aus ihrer einzigen Zufluchts-
stätte zu vertreiben, wo sie sich glücklich fühlte? Und dazu liebte ich
sie; ich konnte ihren Anblick nicht missen. Noch einige Zeit wird es
so bleiben können, dachte ich bei mir, und wenn ich mir auch einen
Termin setzte, wo ich ein Ende machen wollte, der Termin ging vor-
über und ich wagte -- nichts. Währenddessen war mein einziger
Trost, daß eine Erklärung, eine Enthüllung meiner Lage nicht statt-
finden könne. Jch wähnte, die Sache würde verborgen bleiben
und -- Genug, Freund, jetzt ist mir Alles verloren, meine Braut
und Helene."

"Jch sehe das noch nicht recht ein", meinte der Assessor. "Die
Situation ist zwar schwierig, aber doch wenigstens klar. Du liebst
Deine Braut nicht, Du liebst Helene. Gieb also die Braut auf,
erkläre ehrlich, wie es mit Deinem Herzen steht; Marie ist ein zu
verständiges Mädchen, als daß sie nicht mit einigem Weinen und
vielen Seufzern darüber hinwegkommen sollte. Auf der anderen
Seite besteht offenbar eine Zuneigung Helenens zu Dir; also benutze
diese, laß, um den Anstand zu wahren, noch einige Zeit hingehen
und heirathe sie dann. So lege ich mir die Sache zurecht", erklärte
der Assessor mit vieler Befriedigung.

"Unmöglich, unmöglich! Jch habe sie verloren!" rief der
Doktor aus.

"Man wird darüber allerdings viele Glossen machen", fuhr der
Assessor wieder fort; "man wird es nicht für passend erachten, daß
Du dem Hause den Rücken kehrst, welchem Du so Vieles, nahezu
Alles verdankst; aber da weder Mord, noch Todtschlag, noch irgend
ein strafrechtliches Vergehen dabei im Spiel ist, wird sich Niemand sehr
laut zu äußern wagen, und man wird es bald vergessen haben. Jch
kenne die Welt, das heißt, die hiesige Welt, so weit sie in Betracht
kommt, und weiß, wie viel man ihr zumuthen kann. Sie hat schon
Schlimmeres mit Ruhe entgegengenommen."

Der Doktor zuckte die Achseln.

"Sehr gemüthlich Alles das; aber es paßt nicht auf meine Lage.
Jch habe nicht mehr zu wählen."

"So kläre mich über die Situation auf. Aber warte -- ich will
mir erst eine andere Cigarre anzünden."

( Fortsetzung folgt. )

[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]

„Wie könnte ich mir ein Recht anmaßen, über ihn zu urtheilen?
Nicht um meinetwillen kommt er ja hierher. Gegen ihn hege ich nur
ein einziges Gefühl, und dieses werde ich nie verlieren: ich bin ihm
aus vollem Herzen dankbar — Du weißt, Marie, wie sehr ich es ihm
schuldig bin.“

„Welch ein gutes, herrliches Geschöpf Du bist!“ Marie um-
armte in großer Aufregung Helene.

Während dieses Gesprächs hatte sich eine Frau mit leisen Schritten
genähert. Helene, als sie sich umkehrte, gewahrte die Haushälterin
ihres Vaters. Diese machte ein so freundliches Gesicht, wie sie es
nur immer konnte, als sie von Helene begrüßt wurde, und brachte
ein großes Bündel zum Vorschein, welches sie als den Frühjahrs-
anzug für Helene überreichte. Der Vater hatte sich endlich darauf
besonnen, daß seine Tochter wohl einige Kleider nöthig haben werde,
und aus dem sehr bescheidenen Vorrath, den sie besaß, ließ er das
Beste von der Haushälterin heraussuchen und zu ihr bringen.

Als diese nun aber den Anzug Helenens musterte, machte sie ein
sehr verdutztes Gesicht; sie sah wohl ein, daß die Kleider, welche sie
überbrachte, keinen Werth mehr für das Mädchen haben konnten, und
daß sie viel reicher gekleidet war, als es zu Hause zu geschehen
pflegte. Helene bemerkte ihre Verwunderung und erzählte ihr von
der Güte des Banquiers, welcher sie bis auf das Kleinste ausgestattet
hatte. Die Haushälterin hörte mit etwas grinsender Geberde zu;
dann aber wurde sie, als die Aufzählung der Gegenstände kein Ende
nehmen wollte, plötzlich ernst.

„Und das Alles“, unterbrach sie die eifrige Helene, „hat Jhnen
der Herr geschenkt? Wie gut Sie es hier haben! Aber“, ihre Stimme
wurde leise und krächzend, „was wird Jhr Herr Vater dazu sagen,
wenn Sie so viele Dinge nach Hause bringen werden? Sie wissen,
er ist — so eigen; er leidet nicht, daß wir Geschenke von Fremden
annehmen. Er wird gewiß darüber böse sein.“

Helene war blaß geworden, seitdem ihr der Gedanke an ihre
Rückkehr nahe gelegt war. Sie fragte jetzt mit zitterndem Ton nach
dem Befinden des Vaters.

„Er ist wohl“, antwortete diese; „er hat so manche Andeutungen
fallen lassen, daß er bald wieder von hier abreisen wolle; es gefalle
ihm nicht mehr in der Stadt.“

„Er will abreisen?“ fuhr Marie auf. „Nun gut, das mag er.
Helene bleibt bei uns, sie darf nicht von mir fort.“

Die Haushälterin sah erschrocken auf.

„Wenn der Herr befiehlt, daß wir abreisen“, sprach sie dann,
„wird Fräulein Helene wohl gehorchen müssen; er wird sie jedenfalls
nicht hier allein lassen.“

„Warum soll sie nicht hier bleiben?“ fuhr Marie fort. „Will er
sie wieder in ein enges, dumpfes Zimmer stecken, damit sie dort ganz
ersticke? Nein, Helene, in unserem Hause bist Du glücklich, und wir
Alle sind glücklich durch Dich.“

Eben trat der Banquier in den Garten, und die Mädchen eilten
ihm entgegen. Er reichte Jeder die Hand. Marie beeilte sich, den
Vater von dem drohenden Unwetter in Kenntniß zu setzen und auf
das Bestimmteste, wie sich ausdrückte, zu erklären, daß Helene nicht
fortziehen dürfe. Der Banquier machte ein nachdenkliches Gesicht.

„Dem Vater, liebe Marie“, sprach er, „kann Helene nicht trotzen.
Sie hat ihre Kindespflicht zu erfüllen. Wenn er also verlangt, daß
sie zu ihm zurückkehre, wird Helene sich nicht halten lassen.“

Helene gab mit betrübten Mienen ihre Zustimmung.

„So sollen wir sie also verlieren?“ rief Marie, und das Weinen
stand ihr nahe.

„So weit ist es noch nicht“, versetzte der Vater; „vielleicht giebt
es ein Mittel, die Trennung abzuwenden. Jch bereue es, mich noch
nicht mit dem Vater bekannt gemacht zu haben. Er wird einer Ver-
ständigung nicht unzugänglich sein.“

Währenddessen waren sie an der Stelle vorübergegangen, wo die
Haushälterin stand. Diese hatte sich gänzlich hinter das Gebüsch zurück-
gezogen. Jhr Gesicht war bleich und bleicher geworden, als sie die
Stimme des Banquiers vernahm; ein Zittern ging durch ihre Glieder,
und mit halb geöffnetem Mund und verzerrten Zügen sah sie auf
ihn hin, als sei ihr ein Gespenst gegenübergestellt, vor welchem sie
nicht zu fliehen wage.

Als sich Helene endlich nach der Haushälterin umsah, um ihr
noch einige Aufträge an den Vater mitzugeben, war diese verschwun-
den; sie hatte sich endlich ermannt und war hinter den Büschen weg
zum Ausgang des Gartens geeilt.

[Spaltenumbruch]
VII.

Der Doktor stand in seinem Zimmer und rang die Hände, wäh-
rend der Assessor auf dem Sopha saß und ruhig eine Cigarre rauchte.

„Jch sagte Dir, Freund, und ich wiederhole es“, begann der Letztere,
„die ganze Angelegenheit beruht nur auf einer inneren Täuschung,
auf einer augenblicklichen Verwirrung Deines Geistes. Laß nur
einige Tage hingehen, so wirst Du mit mehr Verständniß urtheilen
und handeln können. Jch ertheile Dir den Rath, gieb Dich für
krank aus und bleibe einige Tage zu Hause.“

„Jch kann nicht“, sprach der Doktor mit dumpfer Stimme, „diese
schreckliche Lage muß ein Ende nehmen! Schon lange trage ich alle
diese Qualen in mir; ich fühlte mich stark genug, sie zu verbergen.
Aber nun —“

„So erzähle mir wenigstens, welcher Anlaß Dich zu einer solchen
Raserei führt“, sprach der Assessor, suchte sich eine bequeme Stellung
auf dem Sopha aus und schlug die Beine über einander.

Der Doktor aber erzählte nicht, sondern stieß nur einzelne Worte
hervor.

Nach längerem Warten fing der Assessor wieder in seiner ruhigen
Art zu sprechen an.

„Du weißt, ich hatte Dich schon vor längerer Zeit gewarnt; da-
mals aber widersprachst Du mir, Du wolltest keine Gefahr für Dich
erkennen. Nun ist die Sache anders geworden. Nachdem Du lange
genug mit dem Feuer gespielt hast, hast Du eine Wunde weg-
bekommen, und nun — schreist Du und geberdest Dich wie ein
kleines Kind, welches sich am Ofen verbrannt hat. Laß mich die
Geschichte hören“, setzte er dann hinzu.

„Jch sehe kein Heil, außer — Nein, ich will nicht feig sein!
Von jeher habe ich es mit den Fatalisten gehalten; was dem Men-
schen kommen soll, muß er ertragen, es giebt für ihn keinen Ausweg.
Jch sah die Gefahr so gut, wie Du, ja, ich hatte oft eine Ahnung,
daß sie mich verderben würde. Aber was sollte ich beginnen? Hätte
ich mir zumuthen sollen, das Mädchen aus ihrer einzigen Zufluchts-
stätte zu vertreiben, wo sie sich glücklich fühlte? Und dazu liebte ich
sie; ich konnte ihren Anblick nicht missen. Noch einige Zeit wird es
so bleiben können, dachte ich bei mir, und wenn ich mir auch einen
Termin setzte, wo ich ein Ende machen wollte, der Termin ging vor-
über und ich wagte — nichts. Währenddessen war mein einziger
Trost, daß eine Erklärung, eine Enthüllung meiner Lage nicht statt-
finden könne. Jch wähnte, die Sache würde verborgen bleiben
und — Genug, Freund, jetzt ist mir Alles verloren, meine Braut
und Helene.“

„Jch sehe das noch nicht recht ein“, meinte der Assessor. „Die
Situation ist zwar schwierig, aber doch wenigstens klar. Du liebst
Deine Braut nicht, Du liebst Helene. Gieb also die Braut auf,
erkläre ehrlich, wie es mit Deinem Herzen steht; Marie ist ein zu
verständiges Mädchen, als daß sie nicht mit einigem Weinen und
vielen Seufzern darüber hinwegkommen sollte. Auf der anderen
Seite besteht offenbar eine Zuneigung Helenens zu Dir; also benutze
diese, laß, um den Anstand zu wahren, noch einige Zeit hingehen
und heirathe sie dann. So lege ich mir die Sache zurecht“, erklärte
der Assessor mit vieler Befriedigung.

„Unmöglich, unmöglich! Jch habe sie verloren!“ rief der
Doktor aus.

„Man wird darüber allerdings viele Glossen machen“, fuhr der
Assessor wieder fort; „man wird es nicht für passend erachten, daß
Du dem Hause den Rücken kehrst, welchem Du so Vieles, nahezu
Alles verdankst; aber da weder Mord, noch Todtschlag, noch irgend
ein strafrechtliches Vergehen dabei im Spiel ist, wird sich Niemand sehr
laut zu äußern wagen, und man wird es bald vergessen haben. Jch
kenne die Welt, das heißt, die hiesige Welt, so weit sie in Betracht
kommt, und weiß, wie viel man ihr zumuthen kann. Sie hat schon
Schlimmeres mit Ruhe entgegengenommen.“

Der Doktor zuckte die Achseln.

„Sehr gemüthlich Alles das; aber es paßt nicht auf meine Lage.
Jch habe nicht mehr zu wählen.“

„So kläre mich über die Situation auf. Aber warte — ich will
mir erst eine andere Cigarre anzünden.“

( Fortsetzung folgt. )

[Ende Spaltensatz]

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[171/0003] 171 „Wie könnte ich mir ein Recht anmaßen, über ihn zu urtheilen? Nicht um meinetwillen kommt er ja hierher. Gegen ihn hege ich nur ein einziges Gefühl, und dieses werde ich nie verlieren: ich bin ihm aus vollem Herzen dankbar — Du weißt, Marie, wie sehr ich es ihm schuldig bin.“ „Welch ein gutes, herrliches Geschöpf Du bist!“ Marie um- armte in großer Aufregung Helene. Während dieses Gesprächs hatte sich eine Frau mit leisen Schritten genähert. Helene, als sie sich umkehrte, gewahrte die Haushälterin ihres Vaters. Diese machte ein so freundliches Gesicht, wie sie es nur immer konnte, als sie von Helene begrüßt wurde, und brachte ein großes Bündel zum Vorschein, welches sie als den Frühjahrs- anzug für Helene überreichte. Der Vater hatte sich endlich darauf besonnen, daß seine Tochter wohl einige Kleider nöthig haben werde, und aus dem sehr bescheidenen Vorrath, den sie besaß, ließ er das Beste von der Haushälterin heraussuchen und zu ihr bringen. Als diese nun aber den Anzug Helenens musterte, machte sie ein sehr verdutztes Gesicht; sie sah wohl ein, daß die Kleider, welche sie überbrachte, keinen Werth mehr für das Mädchen haben konnten, und daß sie viel reicher gekleidet war, als es zu Hause zu geschehen pflegte. Helene bemerkte ihre Verwunderung und erzählte ihr von der Güte des Banquiers, welcher sie bis auf das Kleinste ausgestattet hatte. Die Haushälterin hörte mit etwas grinsender Geberde zu; dann aber wurde sie, als die Aufzählung der Gegenstände kein Ende nehmen wollte, plötzlich ernst. „Und das Alles“, unterbrach sie die eifrige Helene, „hat Jhnen der Herr geschenkt? Wie gut Sie es hier haben! Aber“, ihre Stimme wurde leise und krächzend, „was wird Jhr Herr Vater dazu sagen, wenn Sie so viele Dinge nach Hause bringen werden? Sie wissen, er ist — so eigen; er leidet nicht, daß wir Geschenke von Fremden annehmen. Er wird gewiß darüber böse sein.“ Helene war blaß geworden, seitdem ihr der Gedanke an ihre Rückkehr nahe gelegt war. Sie fragte jetzt mit zitterndem Ton nach dem Befinden des Vaters. „Er ist wohl“, antwortete diese; „er hat so manche Andeutungen fallen lassen, daß er bald wieder von hier abreisen wolle; es gefalle ihm nicht mehr in der Stadt.“ „Er will abreisen?“ fuhr Marie auf. „Nun gut, das mag er. Helene bleibt bei uns, sie darf nicht von mir fort.“ Die Haushälterin sah erschrocken auf. „Wenn der Herr befiehlt, daß wir abreisen“, sprach sie dann, „wird Fräulein Helene wohl gehorchen müssen; er wird sie jedenfalls nicht hier allein lassen.“ „Warum soll sie nicht hier bleiben?“ fuhr Marie fort. „Will er sie wieder in ein enges, dumpfes Zimmer stecken, damit sie dort ganz ersticke? Nein, Helene, in unserem Hause bist Du glücklich, und wir Alle sind glücklich durch Dich.“ Eben trat der Banquier in den Garten, und die Mädchen eilten ihm entgegen. Er reichte Jeder die Hand. Marie beeilte sich, den Vater von dem drohenden Unwetter in Kenntniß zu setzen und auf das Bestimmteste, wie sich ausdrückte, zu erklären, daß Helene nicht fortziehen dürfe. Der Banquier machte ein nachdenkliches Gesicht. „Dem Vater, liebe Marie“, sprach er, „kann Helene nicht trotzen. Sie hat ihre Kindespflicht zu erfüllen. Wenn er also verlangt, daß sie zu ihm zurückkehre, wird Helene sich nicht halten lassen.“ Helene gab mit betrübten Mienen ihre Zustimmung. „So sollen wir sie also verlieren?“ rief Marie, und das Weinen stand ihr nahe. „So weit ist es noch nicht“, versetzte der Vater; „vielleicht giebt es ein Mittel, die Trennung abzuwenden. Jch bereue es, mich noch nicht mit dem Vater bekannt gemacht zu haben. Er wird einer Ver- ständigung nicht unzugänglich sein.“ Währenddessen waren sie an der Stelle vorübergegangen, wo die Haushälterin stand. Diese hatte sich gänzlich hinter das Gebüsch zurück- gezogen. Jhr Gesicht war bleich und bleicher geworden, als sie die Stimme des Banquiers vernahm; ein Zittern ging durch ihre Glieder, und mit halb geöffnetem Mund und verzerrten Zügen sah sie auf ihn hin, als sei ihr ein Gespenst gegenübergestellt, vor welchem sie nicht zu fliehen wage. Als sich Helene endlich nach der Haushälterin umsah, um ihr noch einige Aufträge an den Vater mitzugeben, war diese verschwun- den; sie hatte sich endlich ermannt und war hinter den Büschen weg zum Ausgang des Gartens geeilt. VII. Der Doktor stand in seinem Zimmer und rang die Hände, wäh- rend der Assessor auf dem Sopha saß und ruhig eine Cigarre rauchte. „Jch sagte Dir, Freund, und ich wiederhole es“, begann der Letztere, „die ganze Angelegenheit beruht nur auf einer inneren Täuschung, auf einer augenblicklichen Verwirrung Deines Geistes. Laß nur einige Tage hingehen, so wirst Du mit mehr Verständniß urtheilen und handeln können. Jch ertheile Dir den Rath, gieb Dich für krank aus und bleibe einige Tage zu Hause.“ „Jch kann nicht“, sprach der Doktor mit dumpfer Stimme, „diese schreckliche Lage muß ein Ende nehmen! Schon lange trage ich alle diese Qualen in mir; ich fühlte mich stark genug, sie zu verbergen. Aber nun —“ „So erzähle mir wenigstens, welcher Anlaß Dich zu einer solchen Raserei führt“, sprach der Assessor, suchte sich eine bequeme Stellung auf dem Sopha aus und schlug die Beine über einander. Der Doktor aber erzählte nicht, sondern stieß nur einzelne Worte hervor. Nach längerem Warten fing der Assessor wieder in seiner ruhigen Art zu sprechen an. „Du weißt, ich hatte Dich schon vor längerer Zeit gewarnt; da- mals aber widersprachst Du mir, Du wolltest keine Gefahr für Dich erkennen. Nun ist die Sache anders geworden. Nachdem Du lange genug mit dem Feuer gespielt hast, hast Du eine Wunde weg- bekommen, und nun — schreist Du und geberdest Dich wie ein kleines Kind, welches sich am Ofen verbrannt hat. Laß mich die Geschichte hören“, setzte er dann hinzu. „Jch sehe kein Heil, außer — Nein, ich will nicht feig sein! Von jeher habe ich es mit den Fatalisten gehalten; was dem Men- schen kommen soll, muß er ertragen, es giebt für ihn keinen Ausweg. Jch sah die Gefahr so gut, wie Du, ja, ich hatte oft eine Ahnung, daß sie mich verderben würde. Aber was sollte ich beginnen? Hätte ich mir zumuthen sollen, das Mädchen aus ihrer einzigen Zufluchts- stätte zu vertreiben, wo sie sich glücklich fühlte? Und dazu liebte ich sie; ich konnte ihren Anblick nicht missen. Noch einige Zeit wird es so bleiben können, dachte ich bei mir, und wenn ich mir auch einen Termin setzte, wo ich ein Ende machen wollte, der Termin ging vor- über und ich wagte — nichts. Währenddessen war mein einziger Trost, daß eine Erklärung, eine Enthüllung meiner Lage nicht statt- finden könne. Jch wähnte, die Sache würde verborgen bleiben und — Genug, Freund, jetzt ist mir Alles verloren, meine Braut und Helene.“ „Jch sehe das noch nicht recht ein“, meinte der Assessor. „Die Situation ist zwar schwierig, aber doch wenigstens klar. Du liebst Deine Braut nicht, Du liebst Helene. Gieb also die Braut auf, erkläre ehrlich, wie es mit Deinem Herzen steht; Marie ist ein zu verständiges Mädchen, als daß sie nicht mit einigem Weinen und vielen Seufzern darüber hinwegkommen sollte. Auf der anderen Seite besteht offenbar eine Zuneigung Helenens zu Dir; also benutze diese, laß, um den Anstand zu wahren, noch einige Zeit hingehen und heirathe sie dann. So lege ich mir die Sache zurecht“, erklärte der Assessor mit vieler Befriedigung. „Unmöglich, unmöglich! Jch habe sie verloren!“ rief der Doktor aus. „Man wird darüber allerdings viele Glossen machen“, fuhr der Assessor wieder fort; „man wird es nicht für passend erachten, daß Du dem Hause den Rücken kehrst, welchem Du so Vieles, nahezu Alles verdankst; aber da weder Mord, noch Todtschlag, noch irgend ein strafrechtliches Vergehen dabei im Spiel ist, wird sich Niemand sehr laut zu äußern wagen, und man wird es bald vergessen haben. Jch kenne die Welt, das heißt, die hiesige Welt, so weit sie in Betracht kommt, und weiß, wie viel man ihr zumuthen kann. Sie hat schon Schlimmeres mit Ruhe entgegengenommen.“ Der Doktor zuckte die Achseln. „Sehr gemüthlich Alles das; aber es paßt nicht auf meine Lage. Jch habe nicht mehr zu wählen.“ „So kläre mich über die Situation auf. Aber warte — ich will mir erst eine andere Cigarre anzünden.“ ( Fortsetzung folgt. )

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 22. Berlin, 31. Mai 1868, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt22_1868/3>, abgerufen am 05.06.2024.