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Sonntags-Blatt. Nr. 20. Berlin, 17. Mai 1868.

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[Beginn Spaltensatz] leisen, doch scharf tönenden Stimme benachrichtigte sie ihn, daß ihr
Fräulein krank sei und es gewünscht werde, daß er sogleich mit ihr
komme. Auf sein Befragen erfuhr der Doktor, der Privatier Willing
wohne in derselben Straße, lebe sehr eingezogen und habe nur dieses
eine Kind; es sei ein Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren. Ludwig
sagte sich selbst, daß wohl nur ein dringender Fall, welcher schleunige
Hülfe fordere, den Privatier an ihn, den zunächst wohnenden Arzt,
gewiesen habe, und machte sich sofort bereit, der Frau zu folgen.

Es war, wie die Frau gesagt hatte: der Privatier Willing wohnte
nicht fern, in der zweiten Etage eines der besseren Häuser der Straße.
Die Wohnung war vollständig abgeschlossen durch eine Glasthür,
welche innen mit Vorhängen versehen war, und erst nach heftigem
Klopfen erhielt die Frau Einlaß. Der Doktor trat ein und folgte
der Frau durch ein Zimmer in ein zweites, in welchem an der den
Fenstern gegenüberliegenden Seite ein Bett stand. Die Vorhänge an
den Fenstern waren zugezogen, und es herrschte trotz der Mittagsstunde
ein Dämmerlicht in dem Zimmer. Die Frau, welche vorausgegangen
war, schlich mit leisen Schritten nach einem Stuhl in der Ecke des
Zimmers, wo sie eine Näharbeit aufnahm und sich niedersetzte, ohne
scheinbar um den weiteren Vorgang sich zu kümmern.

Jn der Mitte des Zimmers stand ein bejahrter Mann und war-
tete, bis der Arzt sich genähert hatte. Dann wies er auf das Bett
und sagte in einem kalten, schroffen Ton:

"Hier, Herr Doktor, liegt meine Tochter. Jch glaube nicht, daß
sie gefährlich krank ist. Doch habe ich ihrem Willen nachgegeben und
nach dem Arzt geschickt."

Der Arzt sah verwundert auf und wollte den Sprechenden näher
betrachten; aber dieser drehte sich um und ging nach dem Fenster.
Sander schritt auf das Bett zu.

Dort lag Helene Willing, die einzige Tochter des Privatiers,
dessen Frau schon seit langen Jahren todt war. Ein bleiches, mattes
Gesicht hob sich kaum von den Kissen ab, welche um dasselbe empor-
quollen, und bei der Dunkelheit des Zimmers ließen sich die Züge
nur mit Mühe erkennen.

Sander rückte einen Stuhl an das Bett und forderte mit leiser
Stimme -- die unheimliche Stille im Zimmer hatte Einfluß auf
ihn geübt -- die Hand der Kranken. Ein schön geformter Arm
wurde ihm entgegengehalten. Er zählte die Schläge des Pulses;
offenbar lag die Kranke in einem heftigen Fieber. Er fühlte die
innere Hitze des Körpers und erschrak vor dem hohen Grade der-
selben. Einige Fragen, welche er an die Kranke stellte, wurden mit
leiser, aber erregter Stimme beantwortet. Dabei sahen ihn die
dunklen Augen der Kranken fortwährend bittend an.

Der Vater des Mädchens war, als der Arzt zu fragen begonnen
hatte, [unleserliches Material - 9 Zeichen fehlen]ebenfalls an das Bett getreten. Jetzt wandte er sich an den-
selben und sagte mit einem gezwungen freundlichen Ausdruck, welcher
die Härte der vorher gesprochenen Worte wieder gut machen sollte;

"Sie würden mich verbinden, wenn Sie alles zur Heilung
Erforderliche genau angeben wollten. Margareth", damit wies er
auf die in der Ecke sitzende Frau, welche auch bei der Nennung ihres
Namens nicht aufsah, "und ich werden Jhre Vorschriften genau befolgen."

Der Arzt verlangte nach Papier und Feder, um ein Rezept zu
schreiben. Während der Vater sich in das nächste Zimmer entfernt
hatte, um dies zu holen, und der Arzt eben im Begriff war, sich
vom Stuhl zu erheben, umfaßten die Finger der Kranken plötzlich
seinen Arm und zogen ihn näher an das Bett; er beugte sich etwas
vorwärts und hörte sie mit halb erstickter Stimme ausrufen:

"Retten Sie mich! Retten Sie mich!"

Jn ihren Zügen aber las er eine solche Angst, daß er erschrocken
zurückfuhr.

Die Stimme des Vaters ließ sich vernehmen, und sogleich kehrte
die Kranke das Gesicht nach der Wand. Während er schrieb, hatte
der Arzt Gelegenheit, den Mann genauer zu betrachten. Derselbe war
über Mittelgröße, von einer hagern, eckigen Gestalt. Sein Gesicht war
von vielen Falten durchfurcht, und wenn auch schneeweißes Haar um
dasselbe herumhing, flößte es dennoch nicht jene ehrfurchtsvolle Scheu
ein, wie man sie vor dem Greise wohl empfindet. Die Nafe war scharf
hervortretend, und in den Augen brannte ein unheimliches Feuer. Was
aber an dem Greise wohlzuthun pflegt und eben die Ehrfurcht der
jüngeren Leute erweckt, jene Ruhe des Geistes, die sich auf dem Ge-
sicht spiegelt und kund thut, daß zwischen Außen= und Jnnenwelt
der Kampf abgeschlossen sei, davon war hier nichts zu finden. Dazu
kam eine gewisse Hastigkeit in allen Bewegungen, welche von einer
innerlichen Unruhe Zeugniß gab.

Der Arzt hatte seine Verordnung beendet, und nachdem er noch
einige Verhaltungsmaßregeln gegeben und erklärt hatte, wiederkommen
zu wollen, schickte er sich zum Gehen an. Er sah nach dem Bett.
Die Kranke lag noch immer der Wand zugekehrt. Es schien ihm
unnütz, jetzt, im Beisein des Vaters, sich ihr zu nähern; er verabschie-
dete sich kurz und ging. Die Frau begleitete ihn bis an die äußere
Thür, welche sie sorgsam hinter ihm abschloß.

[Spaltenumbruch]

Als er auf der Straße war, sah er nochmals nach den Fenstern
hinauf, wo seine einzige Patientin lag. Es überkam ihn ein un-
heimliches Gefühl. Er hatte Mitleid mit der Kranken; er fühlte mit
ihr, daß es schrecklich sei, hülflos dazuliegen und von solchen Menschen
gepflegt zu werden.

III.

Am Arm des Assessors schritt Ludwig am Abend in den Ball-
saal. Die Gesellschaft war eine sehr zahlreiche, und die Beiden hatten
Mühe, sich zur Herrin des Hauses heranzudrängen. Der Doktor
wurde vorgestellt und freundlich willkommen geheißen; dann wurde er
den Töchtern des Hauses, zwei überaus schlanken, schnippischen jungen
Damen, vorgeführt, welche einige Augenblicke darauf verwandten, ihn
zu mustern und einige unübertreffliche Scherze über Herzenskrankheiten,
welche er nicht zu kuriren verstehe, von sich zu geben, bis ein Paar
Offiziere sich näherten, mit welchen die jungen Damen nach der andern
Seite des Saals entschwanden. Ludwig stand allein da und sah sich
vergeblich nach dem Assessor um. Er suchte nach einem andern be-
kannten Gesicht, aber nirgend konnte er ein solches entdecken. Er
fing nun an, seinen Rückzug aus der Mitte des Saals zu nehmen;
aber dieser war ihm nicht leicht gemacht. Hatte er eine Gruppe um-
schritten, so war ihm bereits wieder eine andere im Wege; und als
er endlich gegen den Ausgang des Saals zuschritt, schlossen sich die
Gruppen so eng an einander an, daß er verzweiflungsvoll zwischen
den weiten Kleidern der Damen stehen blieb.

Da erschallte das gutmüthige Lachen des Assessors, welcher ihm
von weitem die Hand reichte, die er eben noch fassen konnte. Neben
dem Assessor befand sich seine Braut, und neben dieser ein junges
Mädchen, welches erröthete, als sie ihm unter dem Namen Marie
Hohenfeld vorgestellt wurde. Der Doktor athmete wieder auf, nach-
dem er seinen Freund gefunden hatte, und sah sich nun gegenüber
einem zierlich gewachsenen Mädchen mit einem frischen, schönen Ge-
sicht und dunkelbraunem Haar. Er verbeugte sich gern ein zweites
Mal, denn es gefiel ihm auf den ersten Blick die Einfachheit der
Kleidung derselben im Gegensatz zu den blendenden Toiletten der übri-
gen Damen. Mit Verlegenheit beantwortete sie das Wenige, das er
ihr zu sagen wußte, und wäre nicht die Brant des Assessors die Ver-
mittlerin des Gesprächs geworden, so wäre dies wahrscheinlich nicht
über die ersten Anfänge hinausgekommen. Diese aber wußte mit
weiblichem Geschick bald die rechte Saite anzuschlagen. Der Doktor
war eben so wenig in diesen Räumen heimisch wie die junge Dame,
welche auf diesem Ball ihr erstes Debut machen sollte. Sie war bis
jetzt in der Schweiz in einer Pension gewesen, weil ihr Papa sie in
seinem Hause nicht hätte brauchen können. Jhre Mama wäre nämlich
schon seit mehreren Jahren todt. Jm Sommer aber hätte sie es
nicht mehr in der Pension aushalten können; sie sei dort zu alt ge-
worden -- ja, ja, sie sei die älteste Pensionärin gewesen und hätte
sich immer schämen müssen, noch mit so jungen Mädchen zusammen
zu sein. Und das trug sie mit solcher Ueberzeugung vor, daß der
Doktor ganz der Ansicht war, das Mädchen mit seinen achtzehn
Jahren sei schon sehr alt. Mit der größten Sorgfalt hafteten seine
Blicke auf dem Gesicht der Erzählerin und suchten immer und immer
wieder die schönen Augen, welche im Eifer des Gesprächs unbefangen
auf ihn schauten. Nun begann die Musik, die Paare fanden sich,
und der Doktor hatte das Vergnügen, das schöne Mädchen an seinem
Arm zu sehen.

Nach dem Tanz suchte ihn der Assessor auf.

"Wie gefällt sie Dir, Freund?"

Der Doktor war eben im Begriff, seine höchste Freude zu äußern,
als er sich des gefährlichen Heirathsprojekts erinnerte, und mit einem
trockenen:

"Recht gut!" suchte er sich selbst abzukühlen.

"Jch will Dich ihrem Vater vorstellen". Dabei nahm der
Assessor Sander am Arm und führte ihn in ein Nebenzimmer, wo
der Banquier in ruhigem Gespräch mit anderen ältlichen Herren saß.
Die Gelegenheit war bald gefunden. Der Doktor war etwas ver-
legen; der Banquier verbeugte sich mit der Manier eines Welt-
mannes, einige Redensarten wurden gewechselt, man verbeugte sich
wieder und ging.

Während dessen saßen die Braut des Assessors und Marie neben
einander.

"Wie gefällt er Dir, Marie?" fragte die Braut.

Das Mädchen erröthete etwas und sagte dann lachend:

"Er tanzt sehr ungeschickt."

"Es ist seit lange das erste Mal, daß er tanzt; das wird sich
bald bessern. Worüber spracht Jhr? Darf man es wissen?"

"Gewiß. Jch erzählte ihm aus der Pension und von Papa."

"Daß sich Dein Papa so wenig um Dich kümmert?"

"Aber was denkst Du, liebe Anna? Jch werde doch einem ganz
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] leisen, doch scharf tönenden Stimme benachrichtigte sie ihn, daß ihr
Fräulein krank sei und es gewünscht werde, daß er sogleich mit ihr
komme. Auf sein Befragen erfuhr der Doktor, der Privatier Willing
wohne in derselben Straße, lebe sehr eingezogen und habe nur dieses
eine Kind; es sei ein Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren. Ludwig
sagte sich selbst, daß wohl nur ein dringender Fall, welcher schleunige
Hülfe fordere, den Privatier an ihn, den zunächst wohnenden Arzt,
gewiesen habe, und machte sich sofort bereit, der Frau zu folgen.

Es war, wie die Frau gesagt hatte: der Privatier Willing wohnte
nicht fern, in der zweiten Etage eines der besseren Häuser der Straße.
Die Wohnung war vollständig abgeschlossen durch eine Glasthür,
welche innen mit Vorhängen versehen war, und erst nach heftigem
Klopfen erhielt die Frau Einlaß. Der Doktor trat ein und folgte
der Frau durch ein Zimmer in ein zweites, in welchem an der den
Fenstern gegenüberliegenden Seite ein Bett stand. Die Vorhänge an
den Fenstern waren zugezogen, und es herrschte trotz der Mittagsstunde
ein Dämmerlicht in dem Zimmer. Die Frau, welche vorausgegangen
war, schlich mit leisen Schritten nach einem Stuhl in der Ecke des
Zimmers, wo sie eine Näharbeit aufnahm und sich niedersetzte, ohne
scheinbar um den weiteren Vorgang sich zu kümmern.

Jn der Mitte des Zimmers stand ein bejahrter Mann und war-
tete, bis der Arzt sich genähert hatte. Dann wies er auf das Bett
und sagte in einem kalten, schroffen Ton:

„Hier, Herr Doktor, liegt meine Tochter. Jch glaube nicht, daß
sie gefährlich krank ist. Doch habe ich ihrem Willen nachgegeben und
nach dem Arzt geschickt.“

Der Arzt sah verwundert auf und wollte den Sprechenden näher
betrachten; aber dieser drehte sich um und ging nach dem Fenster.
Sander schritt auf das Bett zu.

Dort lag Helene Willing, die einzige Tochter des Privatiers,
dessen Frau schon seit langen Jahren todt war. Ein bleiches, mattes
Gesicht hob sich kaum von den Kissen ab, welche um dasselbe empor-
quollen, und bei der Dunkelheit des Zimmers ließen sich die Züge
nur mit Mühe erkennen.

Sander rückte einen Stuhl an das Bett und forderte mit leiser
Stimme — die unheimliche Stille im Zimmer hatte Einfluß auf
ihn geübt — die Hand der Kranken. Ein schön geformter Arm
wurde ihm entgegengehalten. Er zählte die Schläge des Pulses;
offenbar lag die Kranke in einem heftigen Fieber. Er fühlte die
innere Hitze des Körpers und erschrak vor dem hohen Grade der-
selben. Einige Fragen, welche er an die Kranke stellte, wurden mit
leiser, aber erregter Stimme beantwortet. Dabei sahen ihn die
dunklen Augen der Kranken fortwährend bittend an.

Der Vater des Mädchens war, als der Arzt zu fragen begonnen
hatte, [unleserliches Material – 9 Zeichen fehlen]ebenfalls an das Bett getreten. Jetzt wandte er sich an den-
selben und sagte mit einem gezwungen freundlichen Ausdruck, welcher
die Härte der vorher gesprochenen Worte wieder gut machen sollte;

„Sie würden mich verbinden, wenn Sie alles zur Heilung
Erforderliche genau angeben wollten. Margareth“, damit wies er
auf die in der Ecke sitzende Frau, welche auch bei der Nennung ihres
Namens nicht aufsah, „und ich werden Jhre Vorschriften genau befolgen.“

Der Arzt verlangte nach Papier und Feder, um ein Rezept zu
schreiben. Während der Vater sich in das nächste Zimmer entfernt
hatte, um dies zu holen, und der Arzt eben im Begriff war, sich
vom Stuhl zu erheben, umfaßten die Finger der Kranken plötzlich
seinen Arm und zogen ihn näher an das Bett; er beugte sich etwas
vorwärts und hörte sie mit halb erstickter Stimme ausrufen:

„Retten Sie mich! Retten Sie mich!“

Jn ihren Zügen aber las er eine solche Angst, daß er erschrocken
zurückfuhr.

Die Stimme des Vaters ließ sich vernehmen, und sogleich kehrte
die Kranke das Gesicht nach der Wand. Während er schrieb, hatte
der Arzt Gelegenheit, den Mann genauer zu betrachten. Derselbe war
über Mittelgröße, von einer hagern, eckigen Gestalt. Sein Gesicht war
von vielen Falten durchfurcht, und wenn auch schneeweißes Haar um
dasselbe herumhing, flößte es dennoch nicht jene ehrfurchtsvolle Scheu
ein, wie man sie vor dem Greise wohl empfindet. Die Nafe war scharf
hervortretend, und in den Augen brannte ein unheimliches Feuer. Was
aber an dem Greise wohlzuthun pflegt und eben die Ehrfurcht der
jüngeren Leute erweckt, jene Ruhe des Geistes, die sich auf dem Ge-
sicht spiegelt und kund thut, daß zwischen Außen= und Jnnenwelt
der Kampf abgeschlossen sei, davon war hier nichts zu finden. Dazu
kam eine gewisse Hastigkeit in allen Bewegungen, welche von einer
innerlichen Unruhe Zeugniß gab.

Der Arzt hatte seine Verordnung beendet, und nachdem er noch
einige Verhaltungsmaßregeln gegeben und erklärt hatte, wiederkommen
zu wollen, schickte er sich zum Gehen an. Er sah nach dem Bett.
Die Kranke lag noch immer der Wand zugekehrt. Es schien ihm
unnütz, jetzt, im Beisein des Vaters, sich ihr zu nähern; er verabschie-
dete sich kurz und ging. Die Frau begleitete ihn bis an die äußere
Thür, welche sie sorgsam hinter ihm abschloß.

[Spaltenumbruch]

Als er auf der Straße war, sah er nochmals nach den Fenstern
hinauf, wo seine einzige Patientin lag. Es überkam ihn ein un-
heimliches Gefühl. Er hatte Mitleid mit der Kranken; er fühlte mit
ihr, daß es schrecklich sei, hülflos dazuliegen und von solchen Menschen
gepflegt zu werden.

III.

Am Arm des Assessors schritt Ludwig am Abend in den Ball-
saal. Die Gesellschaft war eine sehr zahlreiche, und die Beiden hatten
Mühe, sich zur Herrin des Hauses heranzudrängen. Der Doktor
wurde vorgestellt und freundlich willkommen geheißen; dann wurde er
den Töchtern des Hauses, zwei überaus schlanken, schnippischen jungen
Damen, vorgeführt, welche einige Augenblicke darauf verwandten, ihn
zu mustern und einige unübertreffliche Scherze über Herzenskrankheiten,
welche er nicht zu kuriren verstehe, von sich zu geben, bis ein Paar
Offiziere sich näherten, mit welchen die jungen Damen nach der andern
Seite des Saals entschwanden. Ludwig stand allein da und sah sich
vergeblich nach dem Assessor um. Er suchte nach einem andern be-
kannten Gesicht, aber nirgend konnte er ein solches entdecken. Er
fing nun an, seinen Rückzug aus der Mitte des Saals zu nehmen;
aber dieser war ihm nicht leicht gemacht. Hatte er eine Gruppe um-
schritten, so war ihm bereits wieder eine andere im Wege; und als
er endlich gegen den Ausgang des Saals zuschritt, schlossen sich die
Gruppen so eng an einander an, daß er verzweiflungsvoll zwischen
den weiten Kleidern der Damen stehen blieb.

Da erschallte das gutmüthige Lachen des Assessors, welcher ihm
von weitem die Hand reichte, die er eben noch fassen konnte. Neben
dem Assessor befand sich seine Braut, und neben dieser ein junges
Mädchen, welches erröthete, als sie ihm unter dem Namen Marie
Hohenfeld vorgestellt wurde. Der Doktor athmete wieder auf, nach-
dem er seinen Freund gefunden hatte, und sah sich nun gegenüber
einem zierlich gewachsenen Mädchen mit einem frischen, schönen Ge-
sicht und dunkelbraunem Haar. Er verbeugte sich gern ein zweites
Mal, denn es gefiel ihm auf den ersten Blick die Einfachheit der
Kleidung derselben im Gegensatz zu den blendenden Toiletten der übri-
gen Damen. Mit Verlegenheit beantwortete sie das Wenige, das er
ihr zu sagen wußte, und wäre nicht die Brant des Assessors die Ver-
mittlerin des Gesprächs geworden, so wäre dies wahrscheinlich nicht
über die ersten Anfänge hinausgekommen. Diese aber wußte mit
weiblichem Geschick bald die rechte Saite anzuschlagen. Der Doktor
war eben so wenig in diesen Räumen heimisch wie die junge Dame,
welche auf diesem Ball ihr erstes Debut machen sollte. Sie war bis
jetzt in der Schweiz in einer Pension gewesen, weil ihr Papa sie in
seinem Hause nicht hätte brauchen können. Jhre Mama wäre nämlich
schon seit mehreren Jahren todt. Jm Sommer aber hätte sie es
nicht mehr in der Pension aushalten können; sie sei dort zu alt ge-
worden — ja, ja, sie sei die älteste Pensionärin gewesen und hätte
sich immer schämen müssen, noch mit so jungen Mädchen zusammen
zu sein. Und das trug sie mit solcher Ueberzeugung vor, daß der
Doktor ganz der Ansicht war, das Mädchen mit seinen achtzehn
Jahren sei schon sehr alt. Mit der größten Sorgfalt hafteten seine
Blicke auf dem Gesicht der Erzählerin und suchten immer und immer
wieder die schönen Augen, welche im Eifer des Gesprächs unbefangen
auf ihn schauten. Nun begann die Musik, die Paare fanden sich,
und der Doktor hatte das Vergnügen, das schöne Mädchen an seinem
Arm zu sehen.

Nach dem Tanz suchte ihn der Assessor auf.

„Wie gefällt sie Dir, Freund?“

Der Doktor war eben im Begriff, seine höchste Freude zu äußern,
als er sich des gefährlichen Heirathsprojekts erinnerte, und mit einem
trockenen:

„Recht gut!“ suchte er sich selbst abzukühlen.

„Jch will Dich ihrem Vater vorstellen“. Dabei nahm der
Assessor Sander am Arm und führte ihn in ein Nebenzimmer, wo
der Banquier in ruhigem Gespräch mit anderen ältlichen Herren saß.
Die Gelegenheit war bald gefunden. Der Doktor war etwas ver-
legen; der Banquier verbeugte sich mit der Manier eines Welt-
mannes, einige Redensarten wurden gewechselt, man verbeugte sich
wieder und ging.

Während dessen saßen die Braut des Assessors und Marie neben
einander.

„Wie gefällt er Dir, Marie?“ fragte die Braut.

Das Mädchen erröthete etwas und sagte dann lachend:

„Er tanzt sehr ungeschickt.“

„Es ist seit lange das erste Mal, daß er tanzt; das wird sich
bald bessern. Worüber spracht Jhr? Darf man es wissen?“

„Gewiß. Jch erzählte ihm aus der Pension und von Papa.“

„Daß sich Dein Papa so wenig um Dich kümmert?“

„Aber was denkst Du, liebe Anna? Jch werde doch einem ganz
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[154/0002] 154 leisen, doch scharf tönenden Stimme benachrichtigte sie ihn, daß ihr Fräulein krank sei und es gewünscht werde, daß er sogleich mit ihr komme. Auf sein Befragen erfuhr der Doktor, der Privatier Willing wohne in derselben Straße, lebe sehr eingezogen und habe nur dieses eine Kind; es sei ein Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren. Ludwig sagte sich selbst, daß wohl nur ein dringender Fall, welcher schleunige Hülfe fordere, den Privatier an ihn, den zunächst wohnenden Arzt, gewiesen habe, und machte sich sofort bereit, der Frau zu folgen. Es war, wie die Frau gesagt hatte: der Privatier Willing wohnte nicht fern, in der zweiten Etage eines der besseren Häuser der Straße. Die Wohnung war vollständig abgeschlossen durch eine Glasthür, welche innen mit Vorhängen versehen war, und erst nach heftigem Klopfen erhielt die Frau Einlaß. Der Doktor trat ein und folgte der Frau durch ein Zimmer in ein zweites, in welchem an der den Fenstern gegenüberliegenden Seite ein Bett stand. Die Vorhänge an den Fenstern waren zugezogen, und es herrschte trotz der Mittagsstunde ein Dämmerlicht in dem Zimmer. Die Frau, welche vorausgegangen war, schlich mit leisen Schritten nach einem Stuhl in der Ecke des Zimmers, wo sie eine Näharbeit aufnahm und sich niedersetzte, ohne scheinbar um den weiteren Vorgang sich zu kümmern. Jn der Mitte des Zimmers stand ein bejahrter Mann und war- tete, bis der Arzt sich genähert hatte. Dann wies er auf das Bett und sagte in einem kalten, schroffen Ton: „Hier, Herr Doktor, liegt meine Tochter. Jch glaube nicht, daß sie gefährlich krank ist. Doch habe ich ihrem Willen nachgegeben und nach dem Arzt geschickt.“ Der Arzt sah verwundert auf und wollte den Sprechenden näher betrachten; aber dieser drehte sich um und ging nach dem Fenster. Sander schritt auf das Bett zu. Dort lag Helene Willing, die einzige Tochter des Privatiers, dessen Frau schon seit langen Jahren todt war. Ein bleiches, mattes Gesicht hob sich kaum von den Kissen ab, welche um dasselbe empor- quollen, und bei der Dunkelheit des Zimmers ließen sich die Züge nur mit Mühe erkennen. Sander rückte einen Stuhl an das Bett und forderte mit leiser Stimme — die unheimliche Stille im Zimmer hatte Einfluß auf ihn geübt — die Hand der Kranken. Ein schön geformter Arm wurde ihm entgegengehalten. Er zählte die Schläge des Pulses; offenbar lag die Kranke in einem heftigen Fieber. Er fühlte die innere Hitze des Körpers und erschrak vor dem hohen Grade der- selben. Einige Fragen, welche er an die Kranke stellte, wurden mit leiser, aber erregter Stimme beantwortet. Dabei sahen ihn die dunklen Augen der Kranken fortwährend bittend an. Der Vater des Mädchens war, als der Arzt zu fragen begonnen hatte, _________ebenfalls an das Bett getreten. Jetzt wandte er sich an den- selben und sagte mit einem gezwungen freundlichen Ausdruck, welcher die Härte der vorher gesprochenen Worte wieder gut machen sollte; „Sie würden mich verbinden, wenn Sie alles zur Heilung Erforderliche genau angeben wollten. Margareth“, damit wies er auf die in der Ecke sitzende Frau, welche auch bei der Nennung ihres Namens nicht aufsah, „und ich werden Jhre Vorschriften genau befolgen.“ Der Arzt verlangte nach Papier und Feder, um ein Rezept zu schreiben. Während der Vater sich in das nächste Zimmer entfernt hatte, um dies zu holen, und der Arzt eben im Begriff war, sich vom Stuhl zu erheben, umfaßten die Finger der Kranken plötzlich seinen Arm und zogen ihn näher an das Bett; er beugte sich etwas vorwärts und hörte sie mit halb erstickter Stimme ausrufen: „Retten Sie mich! Retten Sie mich!“ Jn ihren Zügen aber las er eine solche Angst, daß er erschrocken zurückfuhr. Die Stimme des Vaters ließ sich vernehmen, und sogleich kehrte die Kranke das Gesicht nach der Wand. Während er schrieb, hatte der Arzt Gelegenheit, den Mann genauer zu betrachten. Derselbe war über Mittelgröße, von einer hagern, eckigen Gestalt. Sein Gesicht war von vielen Falten durchfurcht, und wenn auch schneeweißes Haar um dasselbe herumhing, flößte es dennoch nicht jene ehrfurchtsvolle Scheu ein, wie man sie vor dem Greise wohl empfindet. Die Nafe war scharf hervortretend, und in den Augen brannte ein unheimliches Feuer. Was aber an dem Greise wohlzuthun pflegt und eben die Ehrfurcht der jüngeren Leute erweckt, jene Ruhe des Geistes, die sich auf dem Ge- sicht spiegelt und kund thut, daß zwischen Außen= und Jnnenwelt der Kampf abgeschlossen sei, davon war hier nichts zu finden. Dazu kam eine gewisse Hastigkeit in allen Bewegungen, welche von einer innerlichen Unruhe Zeugniß gab. Der Arzt hatte seine Verordnung beendet, und nachdem er noch einige Verhaltungsmaßregeln gegeben und erklärt hatte, wiederkommen zu wollen, schickte er sich zum Gehen an. Er sah nach dem Bett. Die Kranke lag noch immer der Wand zugekehrt. Es schien ihm unnütz, jetzt, im Beisein des Vaters, sich ihr zu nähern; er verabschie- dete sich kurz und ging. Die Frau begleitete ihn bis an die äußere Thür, welche sie sorgsam hinter ihm abschloß. Als er auf der Straße war, sah er nochmals nach den Fenstern hinauf, wo seine einzige Patientin lag. Es überkam ihn ein un- heimliches Gefühl. Er hatte Mitleid mit der Kranken; er fühlte mit ihr, daß es schrecklich sei, hülflos dazuliegen und von solchen Menschen gepflegt zu werden. III. Am Arm des Assessors schritt Ludwig am Abend in den Ball- saal. Die Gesellschaft war eine sehr zahlreiche, und die Beiden hatten Mühe, sich zur Herrin des Hauses heranzudrängen. Der Doktor wurde vorgestellt und freundlich willkommen geheißen; dann wurde er den Töchtern des Hauses, zwei überaus schlanken, schnippischen jungen Damen, vorgeführt, welche einige Augenblicke darauf verwandten, ihn zu mustern und einige unübertreffliche Scherze über Herzenskrankheiten, welche er nicht zu kuriren verstehe, von sich zu geben, bis ein Paar Offiziere sich näherten, mit welchen die jungen Damen nach der andern Seite des Saals entschwanden. Ludwig stand allein da und sah sich vergeblich nach dem Assessor um. Er suchte nach einem andern be- kannten Gesicht, aber nirgend konnte er ein solches entdecken. Er fing nun an, seinen Rückzug aus der Mitte des Saals zu nehmen; aber dieser war ihm nicht leicht gemacht. Hatte er eine Gruppe um- schritten, so war ihm bereits wieder eine andere im Wege; und als er endlich gegen den Ausgang des Saals zuschritt, schlossen sich die Gruppen so eng an einander an, daß er verzweiflungsvoll zwischen den weiten Kleidern der Damen stehen blieb. Da erschallte das gutmüthige Lachen des Assessors, welcher ihm von weitem die Hand reichte, die er eben noch fassen konnte. Neben dem Assessor befand sich seine Braut, und neben dieser ein junges Mädchen, welches erröthete, als sie ihm unter dem Namen Marie Hohenfeld vorgestellt wurde. Der Doktor athmete wieder auf, nach- dem er seinen Freund gefunden hatte, und sah sich nun gegenüber einem zierlich gewachsenen Mädchen mit einem frischen, schönen Ge- sicht und dunkelbraunem Haar. Er verbeugte sich gern ein zweites Mal, denn es gefiel ihm auf den ersten Blick die Einfachheit der Kleidung derselben im Gegensatz zu den blendenden Toiletten der übri- gen Damen. Mit Verlegenheit beantwortete sie das Wenige, das er ihr zu sagen wußte, und wäre nicht die Brant des Assessors die Ver- mittlerin des Gesprächs geworden, so wäre dies wahrscheinlich nicht über die ersten Anfänge hinausgekommen. Diese aber wußte mit weiblichem Geschick bald die rechte Saite anzuschlagen. Der Doktor war eben so wenig in diesen Räumen heimisch wie die junge Dame, welche auf diesem Ball ihr erstes Debut machen sollte. Sie war bis jetzt in der Schweiz in einer Pension gewesen, weil ihr Papa sie in seinem Hause nicht hätte brauchen können. Jhre Mama wäre nämlich schon seit mehreren Jahren todt. Jm Sommer aber hätte sie es nicht mehr in der Pension aushalten können; sie sei dort zu alt ge- worden — ja, ja, sie sei die älteste Pensionärin gewesen und hätte sich immer schämen müssen, noch mit so jungen Mädchen zusammen zu sein. Und das trug sie mit solcher Ueberzeugung vor, daß der Doktor ganz der Ansicht war, das Mädchen mit seinen achtzehn Jahren sei schon sehr alt. Mit der größten Sorgfalt hafteten seine Blicke auf dem Gesicht der Erzählerin und suchten immer und immer wieder die schönen Augen, welche im Eifer des Gesprächs unbefangen auf ihn schauten. Nun begann die Musik, die Paare fanden sich, und der Doktor hatte das Vergnügen, das schöne Mädchen an seinem Arm zu sehen. Nach dem Tanz suchte ihn der Assessor auf. „Wie gefällt sie Dir, Freund?“ Der Doktor war eben im Begriff, seine höchste Freude zu äußern, als er sich des gefährlichen Heirathsprojekts erinnerte, und mit einem trockenen: „Recht gut!“ suchte er sich selbst abzukühlen. „Jch will Dich ihrem Vater vorstellen“. Dabei nahm der Assessor Sander am Arm und führte ihn in ein Nebenzimmer, wo der Banquier in ruhigem Gespräch mit anderen ältlichen Herren saß. Die Gelegenheit war bald gefunden. Der Doktor war etwas ver- legen; der Banquier verbeugte sich mit der Manier eines Welt- mannes, einige Redensarten wurden gewechselt, man verbeugte sich wieder und ging. Während dessen saßen die Braut des Assessors und Marie neben einander. „Wie gefällt er Dir, Marie?“ fragte die Braut. Das Mädchen erröthete etwas und sagte dann lachend: „Er tanzt sehr ungeschickt.“ „Es ist seit lange das erste Mal, daß er tanzt; das wird sich bald bessern. Worüber spracht Jhr? Darf man es wissen?“ „Gewiß. Jch erzählte ihm aus der Pension und von Papa.“ „Daß sich Dein Papa so wenig um Dich kümmert?“ „Aber was denkst Du, liebe Anna? Jch werde doch einem ganz

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 20. Berlin, 17. Mai 1868, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt20_1868/2>, abgerufen am 06.06.2024.