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Social-politische Blätter. 4. Lieferung. Berlin, 9. April 1873.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 92
[Beginn Spaltensatz] satz zur Anwendung bringen, daß Jeder nach seinen Fähigkeiten
und Kräften arbeiten, daß Jeder nach seinen Bedürfnissen kon-
sumiren müsse, wo würde dann die Grenze der Bedürfnisse sein?
nach welcher Regel sollte man dann die Fähigkeiten beurtheilen?
Dieser Einwurf ist ein ernstlicher. Ohne Zweifel würde er kein
Gewicht inmitten einer vollständig aufgeklärten Gesellschaft haben,
weil in dieser die Beurtheilung der Fähigkeiten durch die Erzie-
hung gegeben, die Grenze der Bedürfnisse deutlich durch die Na-
tur vorgezeichnet und durch die Moral beschränkt wäre. Aber
Rom ist nicht an einem Tage gebaut. Jedes Jahrhundert hat
seine Aufgabe: die unsrige ist vielleicht, den höchsten Grundsatz
der Ordnung und Gerechtigkeit in Erfüllung zu bringen. Zu
der weiten Reise der Menschheit zur Vollkommenheit haben wir
vielleicht einige neue Stationen zu liefern. Wenn es uns aber
versagt ist, das Endziel zu erreichen, so wollen wir wenigstens
das Verdienst haben, es in die Augen zu fassen und ihm ent-
gegenzustreben.

Wir sind also auf das beschränkt, was für jetzt anwendbar
sein würde.

Sie kennen den Entwurf zu einer Organisation der Arbeit,
wie wir ihn vorlängst veröffentlicht haben. Um zu allgemeiner
Gegenseitigkeit zu gelangen, wollten wir dieselbe erst unter den
Arbeitern in einer Produktivassociation einführen, dann auf alle
Associationen desselben Jndustriezweiges und endlich auf alle ver-
schiedenen Gewerbe ausdehnen. Jn der Folge werden wir auch
unsern Plan in Bezug einer Gegenseitigkeit des Ackerbaues ver-
öffentlichen, und zugleich die Bande zeigen, durch welche sich spä-
ter auch Gegenseitigkeit zwischen den Landbebauern und den Ge-
werbetreibenden herstellen ließe.

Wie könnte aber am besten die Vertheilung eingeführt wer-
den, wenn eine Association in einer Werkstätte hergestellt ist?
Sollte man Ungleichheit des Lohnes bestehen lassen und dagegen
den Gewinnst zu gleichen Theilen vertheilen? oder sollte man
Lohn und Gewinnst gleich vertheilen?

Kein Zweifel, daß die Ungleichheit des Lohns für unsere
Erziehung, unsere Gewohnheiten, unsere Sitten, unsere im All-
gemeinen angenommenen Jdeen das entsprechendste System sein
würde. Kein Zweifel, daß von einem rein praktischen Stand-
punkte aus dieses System vorzuziehen sein würde; daher wir uns
auch gehütet haben, es auszuschließen, was auch Kritiker sagen
mögen, welche in Folge ihrer Oberflächlichkeit oder ihrer Selbst-
sucht die Wahrheit zu verdunkeln suchen, was auch Menschen
sagen mögen, welche das Volk täuschen, weil sie es in der
Knechtschaft erhalten möchten. Nein, es ist nicht wahr, daß
wir das System der ungleichen Löhnung durchaus verdammt und
zugleich eine ebenmäßige Vertheilung des Gewinnstes verlangt
haben. Nur das ist wahr, daß wir diesem der gegenwärtigen
Lage mehr sich anpassenden System ein anderes entgegengesetzt
haben, welches unsern Wünschen für die Zukunft mehr entspricht.
Und warum haben wir das gethan, da wir doch den Arbeitern
die Freiheit der Wahl ließen? Weil die, welche die Angelegen-
heiten leiten, nicht nur an den heutigen, sondern auch au den
folgenden Tag denken müssen. Was ich früher schon sagte, das
wiederhole ich jetzt mit verstärkter Ueberzeugung: "Die frühern
Regierungen rühmten sich, der Widerstand zu sein; wir aber sind
die Bewegung." Es war daher unsere Pflicht, zu prüfen, ob
nicht die Gleichheit des Lohnes schon von jetzt ab für die neuen
Associationen annehmbar sein würde, wenigstens für die Arbei-
ter, welche sich am ungeduldigsten nach den Wohlthaten der Brü-
derlichkeit sehnen.

Vor allem aber müssen wir als Thatsache anerkennen, daß
bei der Privat=Jndustrie und in dem gegenwärtigen Zustande
der Konkurrenz noch nie die Gleichheit des Lohnes angewandt ist.
Es ist offenbar, daß da, wo die Arbeiter durch kein Band an
einander gefesselt sind, die gleiche Löhnung nur eine Prämie der
Fanlheit sein und die industrielle Thätigkeit herabspannen würde.

Jn einer Werkstätte, in welcher Jeder für sich und getrennt
von den Uebrigen mit dem Unternehmer unterhandelt, nämlich
mit dem, welchen man bis zu der Februar=Revolution den "Herrn"
nannte ( Beifall ) ; in einer solchen Werkstätte sieht Niemand dar-
auf, daß sein Nachbar gewissenhaft sein Tagewerk vollbringe.
Wer könnte sich darum kümmern? Wir arbeiten für fremde
Rechnung, zu Gunsten eines Andern; wenn mein Kamerad die
Hände in den Schooß legt, was geht das mich an? Das ist
die Sache des Unternehmers, nicht die meinige! Daher kommt
es eben, daß in dem System des Jndividualismus, in welchem
[Spaltenumbruch] wir jetzt leben, die Ungleichheit des Lohns ein Sporn für die
Arbeiter sein muß.

Daher können wir nicht genug darauf hinweisen, daß die
Gleichheit des Lohns nur in Bezug auf Verhältnisse von uns
vorgeschlagen ist, welche von unsern jetzigen gänzlich verschieden
sind. Nur bei der Association und der vollkommensten Gegen-
seitigkeit ist die Gleichheit des Lohns möglich, denn alsdann ist
Alles verändert: es liegt alsdann in dem Nutzen eines Jeden,
die Thätigkeit seiner Kameraden anzuspornen, eine Arbeit zu be-
schleunigen, deren Früchte einem Jeden zu Nutze kommen. Der
Ehrenpunkt wird dann eine souveraine Kraft erlangen. Wer
sollte dann nicht arbeiten, so viel er zu arbeiten schuldig, wenn
die Trägheit in Bezug auf die Associirten, die Brüder, eine
Ehrlosigkeit, ein Diebstahl ist? ( Bravo! Bravo! ) Abgesehen
von jener physischen Gewalt, welche fast mechanisch bewirkt, daß
jeder Einzelne mit der großen Menge gleichen Schritt hält,
müßte man auch die menschliche Natur wenig kennen, wenn man
nicht an jene moralische Elektrizität glauben wollte, welche aus
der Berührung mit verbündeten Männern hervorgeht, die an
einem gemeinsamen Werke unter der Herrschaft einer gleichen
Jdee, angetrieben von einem gleichen Gefühle arbeiten! ( Lang-
dauernder Beifall. Das ist wahr! das ist wahr! )

Uebrigens verhüte der Himmel, daß wir glauben sollten,
das Prinzip der Gerechtigkeit werde auf vollständige Weise durch
die Gleichheit der Löhnung verwirklicht! Wir haben so eben erst
die wahre Formel gegeben: "Jeder producire nach seinen Fähig-
keiten und Kräften; Jeder konsumire nach seinen Bedürfnissen."
Daraus folgt, daß in der Verhältnißmäßigkeit die wahre Gleich-
heit liegt. Aber diese Verhältnißmäßigkeit besteht ja jetzt! Nur
steht sie im Widerspruch mit der Vernunft und Billigkeit; denn
statt einen Lohn zu erhalten, wie ihn die Bedürfnisse erheischen,
erhält man einen solchen, wie man ihn nach seinen Fähigkeiten
sich verdient, und anstatt nach dem Maße seiner Fähigkeiten zu
arbeiten, arbeitet man nach dem Maße seiner Bedürfnisse. ( Be-
wegung. )

Wie unvollkommen auch das System der gleichen Löhnung
sein mag, so hat es wenigstens den Vortheil, daß es einen Ueber-
gang von der falschen Verhältnißmäßigkeit zu der wahren Ver-
hältnißmäßigkeit herstellt; denn sollte sich die Vertheilung nach
den Fähigkeiten richten, so würden wir diesen Grundsatz nicht
bis zum Ende durchführen können. Wo keine Fähigkeiten sind,
müßte demgemäß auch kein Lohn erfolgen; die Dummen, die
Schwachen und die Narren würde man folglich verhungern las-
sen müssen! Wozu dann die Hospitäler für die Einen und die
Jrrenhäuser für die Andern? Man sieht, die heutige Gesellschaft
ist sogar gezwungen, in dieser Hinsicht ihre eigenen Grundsätze
zu verletzen, so sehr wird durch ihre Grundsätze die Natur ver-
letzt! Und nicht nur in den christlichen Staaten hat sich dieser
vollständige Widerspruch offenbart. Jn dem Alterthum wurde in
Folge einer wunderlichen, aber rührenden Uebertreibung ein Ver-
rückter wie ein Heiliger betrachtet, und alle verständigen Men-
schen hielten sich für verpflichtet, für das Leben des Unglücklichen
zu sorgen, den seine Vernunft verlassen hatte.

So weit also die Geschichte reicht, hat die Menschheit gegen
den Grundsatz protestirt, daß Jeder nach seinen Fähigkeiten be-
lohnt werden müsse. Der Protest der Menschheit fiel zu Gun-
sten des Grundsatzes aus, daß Jeder nach seinen Bedürfnissen
belohnt werden müsse. ( Einstimmiger Beifall. )

Die Gleichheit der Löhnung ist demnach in unsern Augen
nur eine Annäherung an die Gerechtigkeit, und andern Theils
glaubten wir auch auf sie, als auf eine Bedingung der Ordnung,
als auf eine Bürgschaft für die Dauer der Association hinweisen
zu müssen, da nichts geeigneter ist, Trennung, Haß und Neid
hervorzurufen, als ungleiche Löhnung.

Soll ich nun noch sagen, daß das System der gleichen Be-
zahlung von den Arbeitern auch auf die Beamten und die Len-
ker des Staates ausgedehnt werden müßte? Wenn die Associa-
tion erst die Gesammtheit der Bürger umfaßt und aus der Na-
tion eine große Familie gemacht hat, dann wird es Zeit sein,
den höchsten Grundsatz der Gerechtigkeit in Anwendung zu brin-
gen: "Die Pflichten müssen sich nach den Fähigkeiten und Kräften,
die Rechte nach den Bedürfnissen richten."

Auf solche Weise wäre der erhabene Spruch des Evange-
liums erfüllt: "Und wer der Erste unter Euch ist, der sei ein
Diener der Andera." ( Beifall. )

Was mich betrifft, so mache ich mir einen so erhabenen
Begriff von der Ausübung der Herrschaft, daß mir derjenige als
[Ende Spaltensatz]

Zur Unterhaltung und Belehrung. 92
[Beginn Spaltensatz] satz zur Anwendung bringen, daß Jeder nach seinen Fähigkeiten
und Kräften arbeiten, daß Jeder nach seinen Bedürfnissen kon-
sumiren müsse, wo würde dann die Grenze der Bedürfnisse sein?
nach welcher Regel sollte man dann die Fähigkeiten beurtheilen?
Dieser Einwurf ist ein ernstlicher. Ohne Zweifel würde er kein
Gewicht inmitten einer vollständig aufgeklärten Gesellschaft haben,
weil in dieser die Beurtheilung der Fähigkeiten durch die Erzie-
hung gegeben, die Grenze der Bedürfnisse deutlich durch die Na-
tur vorgezeichnet und durch die Moral beschränkt wäre. Aber
Rom ist nicht an einem Tage gebaut. Jedes Jahrhundert hat
seine Aufgabe: die unsrige ist vielleicht, den höchsten Grundsatz
der Ordnung und Gerechtigkeit in Erfüllung zu bringen. Zu
der weiten Reise der Menschheit zur Vollkommenheit haben wir
vielleicht einige neue Stationen zu liefern. Wenn es uns aber
versagt ist, das Endziel zu erreichen, so wollen wir wenigstens
das Verdienst haben, es in die Augen zu fassen und ihm ent-
gegenzustreben.

Wir sind also auf das beschränkt, was für jetzt anwendbar
sein würde.

Sie kennen den Entwurf zu einer Organisation der Arbeit,
wie wir ihn vorlängst veröffentlicht haben. Um zu allgemeiner
Gegenseitigkeit zu gelangen, wollten wir dieselbe erst unter den
Arbeitern in einer Produktivassociation einführen, dann auf alle
Associationen desselben Jndustriezweiges und endlich auf alle ver-
schiedenen Gewerbe ausdehnen. Jn der Folge werden wir auch
unsern Plan in Bezug einer Gegenseitigkeit des Ackerbaues ver-
öffentlichen, und zugleich die Bande zeigen, durch welche sich spä-
ter auch Gegenseitigkeit zwischen den Landbebauern und den Ge-
werbetreibenden herstellen ließe.

Wie könnte aber am besten die Vertheilung eingeführt wer-
den, wenn eine Association in einer Werkstätte hergestellt ist?
Sollte man Ungleichheit des Lohnes bestehen lassen und dagegen
den Gewinnst zu gleichen Theilen vertheilen? oder sollte man
Lohn und Gewinnst gleich vertheilen?

Kein Zweifel, daß die Ungleichheit des Lohns für unsere
Erziehung, unsere Gewohnheiten, unsere Sitten, unsere im All-
gemeinen angenommenen Jdeen das entsprechendste System sein
würde. Kein Zweifel, daß von einem rein praktischen Stand-
punkte aus dieses System vorzuziehen sein würde; daher wir uns
auch gehütet haben, es auszuschließen, was auch Kritiker sagen
mögen, welche in Folge ihrer Oberflächlichkeit oder ihrer Selbst-
sucht die Wahrheit zu verdunkeln suchen, was auch Menschen
sagen mögen, welche das Volk täuschen, weil sie es in der
Knechtschaft erhalten möchten. Nein, es ist nicht wahr, daß
wir das System der ungleichen Löhnung durchaus verdammt und
zugleich eine ebenmäßige Vertheilung des Gewinnstes verlangt
haben. Nur das ist wahr, daß wir diesem der gegenwärtigen
Lage mehr sich anpassenden System ein anderes entgegengesetzt
haben, welches unsern Wünschen für die Zukunft mehr entspricht.
Und warum haben wir das gethan, da wir doch den Arbeitern
die Freiheit der Wahl ließen? Weil die, welche die Angelegen-
heiten leiten, nicht nur an den heutigen, sondern auch au den
folgenden Tag denken müssen. Was ich früher schon sagte, das
wiederhole ich jetzt mit verstärkter Ueberzeugung: „Die frühern
Regierungen rühmten sich, der Widerstand zu sein; wir aber sind
die Bewegung.“ Es war daher unsere Pflicht, zu prüfen, ob
nicht die Gleichheit des Lohnes schon von jetzt ab für die neuen
Associationen annehmbar sein würde, wenigstens für die Arbei-
ter, welche sich am ungeduldigsten nach den Wohlthaten der Brü-
derlichkeit sehnen.

Vor allem aber müssen wir als Thatsache anerkennen, daß
bei der Privat=Jndustrie und in dem gegenwärtigen Zustande
der Konkurrenz noch nie die Gleichheit des Lohnes angewandt ist.
Es ist offenbar, daß da, wo die Arbeiter durch kein Band an
einander gefesselt sind, die gleiche Löhnung nur eine Prämie der
Fanlheit sein und die industrielle Thätigkeit herabspannen würde.

Jn einer Werkstätte, in welcher Jeder für sich und getrennt
von den Uebrigen mit dem Unternehmer unterhandelt, nämlich
mit dem, welchen man bis zu der Februar=Revolution den „Herrn“
nannte ( Beifall ) ; in einer solchen Werkstätte sieht Niemand dar-
auf, daß sein Nachbar gewissenhaft sein Tagewerk vollbringe.
Wer könnte sich darum kümmern? Wir arbeiten für fremde
Rechnung, zu Gunsten eines Andern; wenn mein Kamerad die
Hände in den Schooß legt, was geht das mich an? Das ist
die Sache des Unternehmers, nicht die meinige! Daher kommt
es eben, daß in dem System des Jndividualismus, in welchem
[Spaltenumbruch] wir jetzt leben, die Ungleichheit des Lohns ein Sporn für die
Arbeiter sein muß.

Daher können wir nicht genug darauf hinweisen, daß die
Gleichheit des Lohns nur in Bezug auf Verhältnisse von uns
vorgeschlagen ist, welche von unsern jetzigen gänzlich verschieden
sind. Nur bei der Association und der vollkommensten Gegen-
seitigkeit ist die Gleichheit des Lohns möglich, denn alsdann ist
Alles verändert: es liegt alsdann in dem Nutzen eines Jeden,
die Thätigkeit seiner Kameraden anzuspornen, eine Arbeit zu be-
schleunigen, deren Früchte einem Jeden zu Nutze kommen. Der
Ehrenpunkt wird dann eine souveraine Kraft erlangen. Wer
sollte dann nicht arbeiten, so viel er zu arbeiten schuldig, wenn
die Trägheit in Bezug auf die Associirten, die Brüder, eine
Ehrlosigkeit, ein Diebstahl ist? ( Bravo! Bravo! ) Abgesehen
von jener physischen Gewalt, welche fast mechanisch bewirkt, daß
jeder Einzelne mit der großen Menge gleichen Schritt hält,
müßte man auch die menschliche Natur wenig kennen, wenn man
nicht an jene moralische Elektrizität glauben wollte, welche aus
der Berührung mit verbündeten Männern hervorgeht, die an
einem gemeinsamen Werke unter der Herrschaft einer gleichen
Jdee, angetrieben von einem gleichen Gefühle arbeiten! ( Lang-
dauernder Beifall. Das ist wahr! das ist wahr! )

Uebrigens verhüte der Himmel, daß wir glauben sollten,
das Prinzip der Gerechtigkeit werde auf vollständige Weise durch
die Gleichheit der Löhnung verwirklicht! Wir haben so eben erst
die wahre Formel gegeben: „Jeder producire nach seinen Fähig-
keiten und Kräften; Jeder konsumire nach seinen Bedürfnissen.“
Daraus folgt, daß in der Verhältnißmäßigkeit die wahre Gleich-
heit liegt. Aber diese Verhältnißmäßigkeit besteht ja jetzt! Nur
steht sie im Widerspruch mit der Vernunft und Billigkeit; denn
statt einen Lohn zu erhalten, wie ihn die Bedürfnisse erheischen,
erhält man einen solchen, wie man ihn nach seinen Fähigkeiten
sich verdient, und anstatt nach dem Maße seiner Fähigkeiten zu
arbeiten, arbeitet man nach dem Maße seiner Bedürfnisse. ( Be-
wegung. )

Wie unvollkommen auch das System der gleichen Löhnung
sein mag, so hat es wenigstens den Vortheil, daß es einen Ueber-
gang von der falschen Verhältnißmäßigkeit zu der wahren Ver-
hältnißmäßigkeit herstellt; denn sollte sich die Vertheilung nach
den Fähigkeiten richten, so würden wir diesen Grundsatz nicht
bis zum Ende durchführen können. Wo keine Fähigkeiten sind,
müßte demgemäß auch kein Lohn erfolgen; die Dummen, die
Schwachen und die Narren würde man folglich verhungern las-
sen müssen! Wozu dann die Hospitäler für die Einen und die
Jrrenhäuser für die Andern? Man sieht, die heutige Gesellschaft
ist sogar gezwungen, in dieser Hinsicht ihre eigenen Grundsätze
zu verletzen, so sehr wird durch ihre Grundsätze die Natur ver-
letzt! Und nicht nur in den christlichen Staaten hat sich dieser
vollständige Widerspruch offenbart. Jn dem Alterthum wurde in
Folge einer wunderlichen, aber rührenden Uebertreibung ein Ver-
rückter wie ein Heiliger betrachtet, und alle verständigen Men-
schen hielten sich für verpflichtet, für das Leben des Unglücklichen
zu sorgen, den seine Vernunft verlassen hatte.

So weit also die Geschichte reicht, hat die Menschheit gegen
den Grundsatz protestirt, daß Jeder nach seinen Fähigkeiten be-
lohnt werden müsse. Der Protest der Menschheit fiel zu Gun-
sten des Grundsatzes aus, daß Jeder nach seinen Bedürfnissen
belohnt werden müsse. ( Einstimmiger Beifall. )

Die Gleichheit der Löhnung ist demnach in unsern Augen
nur eine Annäherung an die Gerechtigkeit, und andern Theils
glaubten wir auch auf sie, als auf eine Bedingung der Ordnung,
als auf eine Bürgschaft für die Dauer der Association hinweisen
zu müssen, da nichts geeigneter ist, Trennung, Haß und Neid
hervorzurufen, als ungleiche Löhnung.

Soll ich nun noch sagen, daß das System der gleichen Be-
zahlung von den Arbeitern auch auf die Beamten und die Len-
ker des Staates ausgedehnt werden müßte? Wenn die Associa-
tion erst die Gesammtheit der Bürger umfaßt und aus der Na-
tion eine große Familie gemacht hat, dann wird es Zeit sein,
den höchsten Grundsatz der Gerechtigkeit in Anwendung zu brin-
gen: „Die Pflichten müssen sich nach den Fähigkeiten und Kräften,
die Rechte nach den Bedürfnissen richten.“

Auf solche Weise wäre der erhabene Spruch des Evange-
liums erfüllt: „Und wer der Erste unter Euch ist, der sei ein
Diener der Andera.“ ( Beifall. )

Was mich betrifft, so mache ich mir einen so erhabenen
Begriff von der Ausübung der Herrschaft, daß mir derjenige als
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[92/0020] Zur Unterhaltung und Belehrung. 92 satz zur Anwendung bringen, daß Jeder nach seinen Fähigkeiten und Kräften arbeiten, daß Jeder nach seinen Bedürfnissen kon- sumiren müsse, wo würde dann die Grenze der Bedürfnisse sein? nach welcher Regel sollte man dann die Fähigkeiten beurtheilen? Dieser Einwurf ist ein ernstlicher. Ohne Zweifel würde er kein Gewicht inmitten einer vollständig aufgeklärten Gesellschaft haben, weil in dieser die Beurtheilung der Fähigkeiten durch die Erzie- hung gegeben, die Grenze der Bedürfnisse deutlich durch die Na- tur vorgezeichnet und durch die Moral beschränkt wäre. Aber Rom ist nicht an einem Tage gebaut. Jedes Jahrhundert hat seine Aufgabe: die unsrige ist vielleicht, den höchsten Grundsatz der Ordnung und Gerechtigkeit in Erfüllung zu bringen. Zu der weiten Reise der Menschheit zur Vollkommenheit haben wir vielleicht einige neue Stationen zu liefern. Wenn es uns aber versagt ist, das Endziel zu erreichen, so wollen wir wenigstens das Verdienst haben, es in die Augen zu fassen und ihm ent- gegenzustreben. Wir sind also auf das beschränkt, was für jetzt anwendbar sein würde. Sie kennen den Entwurf zu einer Organisation der Arbeit, wie wir ihn vorlängst veröffentlicht haben. Um zu allgemeiner Gegenseitigkeit zu gelangen, wollten wir dieselbe erst unter den Arbeitern in einer Produktivassociation einführen, dann auf alle Associationen desselben Jndustriezweiges und endlich auf alle ver- schiedenen Gewerbe ausdehnen. Jn der Folge werden wir auch unsern Plan in Bezug einer Gegenseitigkeit des Ackerbaues ver- öffentlichen, und zugleich die Bande zeigen, durch welche sich spä- ter auch Gegenseitigkeit zwischen den Landbebauern und den Ge- werbetreibenden herstellen ließe. Wie könnte aber am besten die Vertheilung eingeführt wer- den, wenn eine Association in einer Werkstätte hergestellt ist? Sollte man Ungleichheit des Lohnes bestehen lassen und dagegen den Gewinnst zu gleichen Theilen vertheilen? oder sollte man Lohn und Gewinnst gleich vertheilen? Kein Zweifel, daß die Ungleichheit des Lohns für unsere Erziehung, unsere Gewohnheiten, unsere Sitten, unsere im All- gemeinen angenommenen Jdeen das entsprechendste System sein würde. Kein Zweifel, daß von einem rein praktischen Stand- punkte aus dieses System vorzuziehen sein würde; daher wir uns auch gehütet haben, es auszuschließen, was auch Kritiker sagen mögen, welche in Folge ihrer Oberflächlichkeit oder ihrer Selbst- sucht die Wahrheit zu verdunkeln suchen, was auch Menschen sagen mögen, welche das Volk täuschen, weil sie es in der Knechtschaft erhalten möchten. Nein, es ist nicht wahr, daß wir das System der ungleichen Löhnung durchaus verdammt und zugleich eine ebenmäßige Vertheilung des Gewinnstes verlangt haben. Nur das ist wahr, daß wir diesem der gegenwärtigen Lage mehr sich anpassenden System ein anderes entgegengesetzt haben, welches unsern Wünschen für die Zukunft mehr entspricht. Und warum haben wir das gethan, da wir doch den Arbeitern die Freiheit der Wahl ließen? Weil die, welche die Angelegen- heiten leiten, nicht nur an den heutigen, sondern auch au den folgenden Tag denken müssen. Was ich früher schon sagte, das wiederhole ich jetzt mit verstärkter Ueberzeugung: „Die frühern Regierungen rühmten sich, der Widerstand zu sein; wir aber sind die Bewegung.“ Es war daher unsere Pflicht, zu prüfen, ob nicht die Gleichheit des Lohnes schon von jetzt ab für die neuen Associationen annehmbar sein würde, wenigstens für die Arbei- ter, welche sich am ungeduldigsten nach den Wohlthaten der Brü- derlichkeit sehnen. Vor allem aber müssen wir als Thatsache anerkennen, daß bei der Privat=Jndustrie und in dem gegenwärtigen Zustande der Konkurrenz noch nie die Gleichheit des Lohnes angewandt ist. Es ist offenbar, daß da, wo die Arbeiter durch kein Band an einander gefesselt sind, die gleiche Löhnung nur eine Prämie der Fanlheit sein und die industrielle Thätigkeit herabspannen würde. Jn einer Werkstätte, in welcher Jeder für sich und getrennt von den Uebrigen mit dem Unternehmer unterhandelt, nämlich mit dem, welchen man bis zu der Februar=Revolution den „Herrn“ nannte ( Beifall ) ; in einer solchen Werkstätte sieht Niemand dar- auf, daß sein Nachbar gewissenhaft sein Tagewerk vollbringe. Wer könnte sich darum kümmern? Wir arbeiten für fremde Rechnung, zu Gunsten eines Andern; wenn mein Kamerad die Hände in den Schooß legt, was geht das mich an? Das ist die Sache des Unternehmers, nicht die meinige! Daher kommt es eben, daß in dem System des Jndividualismus, in welchem wir jetzt leben, die Ungleichheit des Lohns ein Sporn für die Arbeiter sein muß. Daher können wir nicht genug darauf hinweisen, daß die Gleichheit des Lohns nur in Bezug auf Verhältnisse von uns vorgeschlagen ist, welche von unsern jetzigen gänzlich verschieden sind. Nur bei der Association und der vollkommensten Gegen- seitigkeit ist die Gleichheit des Lohns möglich, denn alsdann ist Alles verändert: es liegt alsdann in dem Nutzen eines Jeden, die Thätigkeit seiner Kameraden anzuspornen, eine Arbeit zu be- schleunigen, deren Früchte einem Jeden zu Nutze kommen. Der Ehrenpunkt wird dann eine souveraine Kraft erlangen. Wer sollte dann nicht arbeiten, so viel er zu arbeiten schuldig, wenn die Trägheit in Bezug auf die Associirten, die Brüder, eine Ehrlosigkeit, ein Diebstahl ist? ( Bravo! Bravo! ) Abgesehen von jener physischen Gewalt, welche fast mechanisch bewirkt, daß jeder Einzelne mit der großen Menge gleichen Schritt hält, müßte man auch die menschliche Natur wenig kennen, wenn man nicht an jene moralische Elektrizität glauben wollte, welche aus der Berührung mit verbündeten Männern hervorgeht, die an einem gemeinsamen Werke unter der Herrschaft einer gleichen Jdee, angetrieben von einem gleichen Gefühle arbeiten! ( Lang- dauernder Beifall. Das ist wahr! das ist wahr! ) Uebrigens verhüte der Himmel, daß wir glauben sollten, das Prinzip der Gerechtigkeit werde auf vollständige Weise durch die Gleichheit der Löhnung verwirklicht! Wir haben so eben erst die wahre Formel gegeben: „Jeder producire nach seinen Fähig- keiten und Kräften; Jeder konsumire nach seinen Bedürfnissen.“ Daraus folgt, daß in der Verhältnißmäßigkeit die wahre Gleich- heit liegt. Aber diese Verhältnißmäßigkeit besteht ja jetzt! Nur steht sie im Widerspruch mit der Vernunft und Billigkeit; denn statt einen Lohn zu erhalten, wie ihn die Bedürfnisse erheischen, erhält man einen solchen, wie man ihn nach seinen Fähigkeiten sich verdient, und anstatt nach dem Maße seiner Fähigkeiten zu arbeiten, arbeitet man nach dem Maße seiner Bedürfnisse. ( Be- wegung. ) Wie unvollkommen auch das System der gleichen Löhnung sein mag, so hat es wenigstens den Vortheil, daß es einen Ueber- gang von der falschen Verhältnißmäßigkeit zu der wahren Ver- hältnißmäßigkeit herstellt; denn sollte sich die Vertheilung nach den Fähigkeiten richten, so würden wir diesen Grundsatz nicht bis zum Ende durchführen können. Wo keine Fähigkeiten sind, müßte demgemäß auch kein Lohn erfolgen; die Dummen, die Schwachen und die Narren würde man folglich verhungern las- sen müssen! Wozu dann die Hospitäler für die Einen und die Jrrenhäuser für die Andern? Man sieht, die heutige Gesellschaft ist sogar gezwungen, in dieser Hinsicht ihre eigenen Grundsätze zu verletzen, so sehr wird durch ihre Grundsätze die Natur ver- letzt! Und nicht nur in den christlichen Staaten hat sich dieser vollständige Widerspruch offenbart. Jn dem Alterthum wurde in Folge einer wunderlichen, aber rührenden Uebertreibung ein Ver- rückter wie ein Heiliger betrachtet, und alle verständigen Men- schen hielten sich für verpflichtet, für das Leben des Unglücklichen zu sorgen, den seine Vernunft verlassen hatte. So weit also die Geschichte reicht, hat die Menschheit gegen den Grundsatz protestirt, daß Jeder nach seinen Fähigkeiten be- lohnt werden müsse. Der Protest der Menschheit fiel zu Gun- sten des Grundsatzes aus, daß Jeder nach seinen Bedürfnissen belohnt werden müsse. ( Einstimmiger Beifall. ) Die Gleichheit der Löhnung ist demnach in unsern Augen nur eine Annäherung an die Gerechtigkeit, und andern Theils glaubten wir auch auf sie, als auf eine Bedingung der Ordnung, als auf eine Bürgschaft für die Dauer der Association hinweisen zu müssen, da nichts geeigneter ist, Trennung, Haß und Neid hervorzurufen, als ungleiche Löhnung. Soll ich nun noch sagen, daß das System der gleichen Be- zahlung von den Arbeitern auch auf die Beamten und die Len- ker des Staates ausgedehnt werden müßte? Wenn die Associa- tion erst die Gesammtheit der Bürger umfaßt und aus der Na- tion eine große Familie gemacht hat, dann wird es Zeit sein, den höchsten Grundsatz der Gerechtigkeit in Anwendung zu brin- gen: „Die Pflichten müssen sich nach den Fähigkeiten und Kräften, die Rechte nach den Bedürfnissen richten.“ Auf solche Weise wäre der erhabene Spruch des Evange- liums erfüllt: „Und wer der Erste unter Euch ist, der sei ein Diener der Andera.“ ( Beifall. ) Was mich betrifft, so mache ich mir einen so erhabenen Begriff von der Ausübung der Herrschaft, daß mir derjenige als

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 4. Lieferung. Berlin, 9. April 1873, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social04_1873/20>, abgerufen am 24.11.2024.