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Social-politische Blätter. 3. Lieferung. Berlin, 6. März 1873.

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Zur Unterhaltung und Belehrung. 70
[Beginn Spaltensatz]

Am folgenden Tage setzte eine Proklamation die Bewohner
davon in Kenntniß: die Ordnung sei in Lyon wieder hergestellt.

Die folgenden Zeugnisse über das barbarische Niedermetzeln
des Volks sind von einem Privatmanne, Herrn Chanier, gesam-
melt, und sämmtlich von dem Maire und der Munizipalverwal-
tung von Vaise beglaubigt worden. Wir lassen den wesentlichen
Juhalt derselben folgen:

Das erste berichtet, daß Marie Grisot, Ehefrau des Mous-
selin=Arbeiters Louis Sanguier, als sie aus ihrer Wohnung zum
Schlosser Coquet flüchtete, weil sie dort sicherer zu sein glaubte,
erschossen wurde, ohne daß sie zu einer solchen Behandlung die
mindeste Veranlassung gegeben.

Das zweite bezeugt, daß Claude S e re, ein 70jähriger
Greis, der bei seiner Tochter wohnte, in seinem Bette erschossen
und mit Bajonnetstichen durchbohrt wurde. Zugleich zerbrachen
die Soldaten alles Hausgeräth der gerade abwesenden Tochter,
und warfen es aus den Fenstern.

Das dritte berichtet, daß der Mousselinarbeiter Jean Barge,
der sich zu Herrn Laffay geflüchtet hatte, weil er hier sicherer zu
sein glaubte, von den Soldaten auf die neue Straße du Bour-
bonnais geschleift und von ihnen unbarmherzig ermordet wurde,
ohne daß sie ihm Zeit zu einer Erklärung oder Rechtfertigung
gelassen hätten.

Ein viertes meldet, daß der Deckenmacher Mathieu Prost
aus seiner Wohnung, wo er sich ganz ruhig verhielt, geschleift
und an der Thüre erschossen wurde, ohne daß man ihm Zeit zu
irgend einer Erklärung gelassen hatte.

Ein fünftes bezeugt, daß Fran c ois Lauvergnat ein junger,
Seidenarbeiter, aus der Wohnung seines Nachbarn, wo er sich
ganz ruhig verhielt, geschleppt und erschossen wurde.

Desselben Jnhalts sind noch fünf andere Zeugnisse.

Die Umstände, welche eine dieser Ermordungen begleiteten,
sind gräßlich bis zur Unwahrscheinlichkeit. Als die Soldaten zu
dem einen Schlachtopfer, Beyron, kamen, erklärte er ihnen, daß
er Militair sei, und ließ sie an seinem Tische niedersitzen und
trinken. Diese bestanden nichtsdestoweniger darauf, ihn zu ihrem
Offizier zu führen, und als er hier anlangte und seine Militair-
abschiedsbescheinigung entfaltete, wurde er erschossen.

Das Blut, welches das Pflaster von Lyon röthete, war noch
nicht abgewaschen, als schon die Bourgeois mit lautem Geschrei
Eutschädigung für ihre Verluste forderten. Kommissarien wurden
ernannt, und zur Unterstützung der Ansprüche, die sie der Regie-
rung vorlegen sollten, wurde eine Note entworfen, deren Geist
sich aus folgenden Zeilen ergiebt: "Die Regierung wird nicht
wollen, daß der Triumph der Ordnung Thränen und Seufzer
koste. Sie weiß, daß die Zeit, die unvermerklich den Schmerz
verwischt, welchen die theuersten persönlichen Verluste ver-
ursachen, die Vermögensverluste und materiellen Ver-
wüstungen
nicht in Vergessenheit bringen kann."

So triumphirte die Bourgeoisie zum zweiten Male über
das Proletariat. Diese beiden blutigen Schlachten von Lyon
kündigten den Beginn des Klassenkampfes an, welcher seitdem,
trotz wiederholter Niederlagen des Proletariats immer gewachsen
ist, wie die Junischlacht und die Pariser Commune darthun.
Der endliche Sieg des Proletariats wird aber nicht ausbleiben.



Urkunde der französischen Reichsverfassung vom 18. Sep-
tember
1791.

Wir bringen hier die erste Verfassung, welche durch die
französische Revolution konstituirt worden ist, zum Abdruck, da
die Kenntniß derselben manchem unserer Leser von Jntresse sein
wird. Wenn man übrigens bedenkt, daß sie so zu sagen die
erste in Europa war, so müssen wir allerdings das Maaß der
bürgerlichen Freiheiten, welches sie gewährleistet, als ein überaus
großes bezeichnen. Ganz besonders ist die königliche Macht be-
deutend beschränkt. Wir können die Urkunde des Raumes wegen nur
in Abschnitten folgen lassen und bringen zunächst den ersten,
welcher von den menschlichen und bürgerlichen Rechten handelt.

Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers.

Nachdem die Vertreter der französischen Nation, welche die
Nationalversammlung ausmachen, in Erwägung gezogen, daß
[Spaltenumbruch] Unwissenheit, Vergessenheit oder Verachtung der Rechte des Men-
schen die einzigen Ursachen des allgemeinen Unglücks und des
Verderbnisses der Regierungen sind, so haben sie beschlossen, die
natürlichen unveräußerlichen und heiligen Rechte des Menschen in
einer feierlichen Erklärung darzustellen, damit solche jedem Gliede
des Staatskörpers stets vor Augen liege, und es immer an seine
Rechte und Pflichten erinnere, damit man die verschiedenen Hand-
lungen der gesetzgebenden und der vollstreckenden Gewalt mit dem
Zwecke aller und jeder politischen Einrichtungen stets vergleichen
könne, und daher desto mehr Ehrfurcht für sie hege, damit end-
lich die Forderungen der Bürger, welche künftig auf einfache und
unumstößliche Grundsätze sich stützen, stets zur Erhaltung der
Konstitution und zum allgemeinen Glück gereichen.

Zufolge dessen erkennt und erklärt die Nationalversammlung
in Gegenwart unter der Obhut des Allerhöchsten folgende Rechte
des Menschen und des Bürgers.



Art. I. Menschen sind und bleiben von ihrer Geburt an
frei und einander an Rechten gleich. Gesellschaftliche Unterschei-
dungen können nur auf den gemeinen Nutzen gegründet sein.

II. Jede politische Gesellschaft hat die Erhaltung der na-
türlichen und unverjährlichen Rechte des Menschen zum Zweck.
Diese Rechte sind Freiheit, Eigenthum, Sicherheit und Wider-
stand gegen Unterdrückung.

III. Der Ursprung der höchsten Macht liegt wesentlich in
der Nation. Weder einzelne Personen, noch Körperschaften kön-
nen je eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich aus dieser
Quelle fließt.

IV. Die Freiheit besteht darin, daß Jeder Alles thun darf,
was keinem Andern schadet: die Ausübung der natürlichen Rechte
eines jeden Menschen hat daher keine andere Grenzen, als die,
welche andern Gliedern der Gesellschaft den Genuß gleicher
Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz
bestimmt werden.

V. Das Gesetz kann Handlungen nur insofern verbieten,
als sie der Gesellschaft schädlich sind. Was das Gesetz verbietet,
kann von Niemandem verhindert, und Niemand darf gezwungen
werden, etwas zu thun, was das Gesetz nicht befiehlt.

VI. Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens.
Alle Bürger haben das Recht, an Bildung desselben persönlich
oder durch Vertreter Theil zu nehmen. Das Gesetz muß für
alle und jede, es sei zum Schutz oder zur Strafe, ein und das-
selbe Gesetz sein. Vor ihm sind alle Bürger gleich, haben alle
zu öffentlichen Würden, Stellen und Aemtern, nach Maßgabe
ihrer Fähigkeiten, gleiche Ansprüche; es läßt keinen andern Unter-
schied zu, als den ihrer Bürgertugenden * ) und ihrer Talente.

VII. Kein Mensch darf gerichtlich angeklagt, in Verhaft
genommen, oder sonst in persönlicher Freiheit gestört werden; es
sei denn in Fällen, die das Gesetz bestimmt, und nach der Form,
die es vorschreibt. Alle die, welche um willkürliche Befehle an-
halten, sie ausfertigen, ausüben oder vollstrecken lassen, sind der
Strafe unterworfen: hingegen ist jeder Bürger, der in Kraft des
Gesetzes vorgeladen oder gegriffen, augenblicklichen Gehorsam
schuldig; durch Widerstand wird er straffällig.

VIII. Das Gesetz soll nur Strafen verordnen, die unum-
gänglich und augenscheinlich nothwendig sind. Niemand kann
bestraft werden, als nur in Kraft eines verordneten Gesetzes,
welches vorher bekannt gemacht und nachher auf das Verbrechen
gesetzmäßig angewendet worden.

IX. Da jeder Mensch so lange für unschuldig zu halten,
bis er für schuldig erklärt worden, so soll, wenn es unumgäng-
lich nöthig erachtet wird, ihn anzuhalten, aller Strenge, die nicht
erforderlich ist, sich seiner Person zu versichern, aufs Nachdrück-
lichste durch das Gesetz gesteuert werden.

X. Niemand darf wegen seiner Meinungen, selbst in Reli-
gionssachen, wenn nur ihre Aeußerung die öffentliche, durch das
Gesetz festgesetzte Ordnung nicht stört, beunruhigt werden.

XI. Die freie Mittheilung der Gedanken und Meinungen
ist eines der schätzbarsten Rechte des Menschen; jeder Bürger
kann also frei sprechen, schreiben, drucken, unter keiner andern

[Ende Spaltensatz]

* ) Das frauzösische Wort vertu läßt sich, ebenso wie das lateinische
virtus, von welchem es abstammt, nicht einfach mit "Tugend" übersetzen.
Das deutsche Wort Tugend bedeutet vielmehr das französische moralite.
Wir haben vertu deshalb auch mit Bürgertugend übersetzt; die Römer
verstanden unter virtus: Tapferkeit, Aufopferung für das Vaterland.
Zur Unterhaltung und Belehrung. 70
[Beginn Spaltensatz]

Am folgenden Tage setzte eine Proklamation die Bewohner
davon in Kenntniß: die Ordnung sei in Lyon wieder hergestellt.

Die folgenden Zeugnisse über das barbarische Niedermetzeln
des Volks sind von einem Privatmanne, Herrn Chanier, gesam-
melt, und sämmtlich von dem Maire und der Munizipalverwal-
tung von Vaise beglaubigt worden. Wir lassen den wesentlichen
Juhalt derselben folgen:

Das erste berichtet, daß Marie Grisot, Ehefrau des Mous-
selin=Arbeiters Louis Sanguier, als sie aus ihrer Wohnung zum
Schlosser Coquet flüchtete, weil sie dort sicherer zu sein glaubte,
erschossen wurde, ohne daß sie zu einer solchen Behandlung die
mindeste Veranlassung gegeben.

Das zweite bezeugt, daß Claude S è re, ein 70jähriger
Greis, der bei seiner Tochter wohnte, in seinem Bette erschossen
und mit Bajonnetstichen durchbohrt wurde. Zugleich zerbrachen
die Soldaten alles Hausgeräth der gerade abwesenden Tochter,
und warfen es aus den Fenstern.

Das dritte berichtet, daß der Mousselinarbeiter Jean Barge,
der sich zu Herrn Laffay geflüchtet hatte, weil er hier sicherer zu
sein glaubte, von den Soldaten auf die neue Straße du Bour-
bonnais geschleift und von ihnen unbarmherzig ermordet wurde,
ohne daß sie ihm Zeit zu einer Erklärung oder Rechtfertigung
gelassen hätten.

Ein viertes meldet, daß der Deckenmacher Mathieu Prost
aus seiner Wohnung, wo er sich ganz ruhig verhielt, geschleift
und an der Thüre erschossen wurde, ohne daß man ihm Zeit zu
irgend einer Erklärung gelassen hatte.

Ein fünftes bezeugt, daß Fran ç ois Lauvergnat ein junger,
Seidenarbeiter, aus der Wohnung seines Nachbarn, wo er sich
ganz ruhig verhielt, geschleppt und erschossen wurde.

Desselben Jnhalts sind noch fünf andere Zeugnisse.

Die Umstände, welche eine dieser Ermordungen begleiteten,
sind gräßlich bis zur Unwahrscheinlichkeit. Als die Soldaten zu
dem einen Schlachtopfer, Beyron, kamen, erklärte er ihnen, daß
er Militair sei, und ließ sie an seinem Tische niedersitzen und
trinken. Diese bestanden nichtsdestoweniger darauf, ihn zu ihrem
Offizier zu führen, und als er hier anlangte und seine Militair-
abschiedsbescheinigung entfaltete, wurde er erschossen.

Das Blut, welches das Pflaster von Lyon röthete, war noch
nicht abgewaschen, als schon die Bourgeois mit lautem Geschrei
Eutschädigung für ihre Verluste forderten. Kommissarien wurden
ernannt, und zur Unterstützung der Ansprüche, die sie der Regie-
rung vorlegen sollten, wurde eine Note entworfen, deren Geist
sich aus folgenden Zeilen ergiebt: „Die Regierung wird nicht
wollen, daß der Triumph der Ordnung Thränen und Seufzer
koste. Sie weiß, daß die Zeit, die unvermerklich den Schmerz
verwischt, welchen die theuersten persönlichen Verluste ver-
ursachen, die Vermögensverluste und materiellen Ver-
wüstungen
nicht in Vergessenheit bringen kann.“

So triumphirte die Bourgeoisie zum zweiten Male über
das Proletariat. Diese beiden blutigen Schlachten von Lyon
kündigten den Beginn des Klassenkampfes an, welcher seitdem,
trotz wiederholter Niederlagen des Proletariats immer gewachsen
ist, wie die Junischlacht und die Pariser Commune darthun.
Der endliche Sieg des Proletariats wird aber nicht ausbleiben.



Urkunde der französischen Reichsverfassung vom 18. Sep-
tember
1791.

Wir bringen hier die erste Verfassung, welche durch die
französische Revolution konstituirt worden ist, zum Abdruck, da
die Kenntniß derselben manchem unserer Leser von Jntresse sein
wird. Wenn man übrigens bedenkt, daß sie so zu sagen die
erste in Europa war, so müssen wir allerdings das Maaß der
bürgerlichen Freiheiten, welches sie gewährleistet, als ein überaus
großes bezeichnen. Ganz besonders ist die königliche Macht be-
deutend beschränkt. Wir können die Urkunde des Raumes wegen nur
in Abschnitten folgen lassen und bringen zunächst den ersten,
welcher von den menschlichen und bürgerlichen Rechten handelt.

Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers.

Nachdem die Vertreter der französischen Nation, welche die
Nationalversammlung ausmachen, in Erwägung gezogen, daß
[Spaltenumbruch] Unwissenheit, Vergessenheit oder Verachtung der Rechte des Men-
schen die einzigen Ursachen des allgemeinen Unglücks und des
Verderbnisses der Regierungen sind, so haben sie beschlossen, die
natürlichen unveräußerlichen und heiligen Rechte des Menschen in
einer feierlichen Erklärung darzustellen, damit solche jedem Gliede
des Staatskörpers stets vor Augen liege, und es immer an seine
Rechte und Pflichten erinnere, damit man die verschiedenen Hand-
lungen der gesetzgebenden und der vollstreckenden Gewalt mit dem
Zwecke aller und jeder politischen Einrichtungen stets vergleichen
könne, und daher desto mehr Ehrfurcht für sie hege, damit end-
lich die Forderungen der Bürger, welche künftig auf einfache und
unumstößliche Grundsätze sich stützen, stets zur Erhaltung der
Konstitution und zum allgemeinen Glück gereichen.

Zufolge dessen erkennt und erklärt die Nationalversammlung
in Gegenwart unter der Obhut des Allerhöchsten folgende Rechte
des Menschen und des Bürgers.



Art. I. Menschen sind und bleiben von ihrer Geburt an
frei und einander an Rechten gleich. Gesellschaftliche Unterschei-
dungen können nur auf den gemeinen Nutzen gegründet sein.

II. Jede politische Gesellschaft hat die Erhaltung der na-
türlichen und unverjährlichen Rechte des Menschen zum Zweck.
Diese Rechte sind Freiheit, Eigenthum, Sicherheit und Wider-
stand gegen Unterdrückung.

III. Der Ursprung der höchsten Macht liegt wesentlich in
der Nation. Weder einzelne Personen, noch Körperschaften kön-
nen je eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich aus dieser
Quelle fließt.

IV. Die Freiheit besteht darin, daß Jeder Alles thun darf,
was keinem Andern schadet: die Ausübung der natürlichen Rechte
eines jeden Menschen hat daher keine andere Grenzen, als die,
welche andern Gliedern der Gesellschaft den Genuß gleicher
Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz
bestimmt werden.

V. Das Gesetz kann Handlungen nur insofern verbieten,
als sie der Gesellschaft schädlich sind. Was das Gesetz verbietet,
kann von Niemandem verhindert, und Niemand darf gezwungen
werden, etwas zu thun, was das Gesetz nicht befiehlt.

VI. Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens.
Alle Bürger haben das Recht, an Bildung desselben persönlich
oder durch Vertreter Theil zu nehmen. Das Gesetz muß für
alle und jede, es sei zum Schutz oder zur Strafe, ein und das-
selbe Gesetz sein. Vor ihm sind alle Bürger gleich, haben alle
zu öffentlichen Würden, Stellen und Aemtern, nach Maßgabe
ihrer Fähigkeiten, gleiche Ansprüche; es läßt keinen andern Unter-
schied zu, als den ihrer Bürgertugenden * ) und ihrer Talente.

VII. Kein Mensch darf gerichtlich angeklagt, in Verhaft
genommen, oder sonst in persönlicher Freiheit gestört werden; es
sei denn in Fällen, die das Gesetz bestimmt, und nach der Form,
die es vorschreibt. Alle die, welche um willkürliche Befehle an-
halten, sie ausfertigen, ausüben oder vollstrecken lassen, sind der
Strafe unterworfen: hingegen ist jeder Bürger, der in Kraft des
Gesetzes vorgeladen oder gegriffen, augenblicklichen Gehorsam
schuldig; durch Widerstand wird er straffällig.

VIII. Das Gesetz soll nur Strafen verordnen, die unum-
gänglich und augenscheinlich nothwendig sind. Niemand kann
bestraft werden, als nur in Kraft eines verordneten Gesetzes,
welches vorher bekannt gemacht und nachher auf das Verbrechen
gesetzmäßig angewendet worden.

IX. Da jeder Mensch so lange für unschuldig zu halten,
bis er für schuldig erklärt worden, so soll, wenn es unumgäng-
lich nöthig erachtet wird, ihn anzuhalten, aller Strenge, die nicht
erforderlich ist, sich seiner Person zu versichern, aufs Nachdrück-
lichste durch das Gesetz gesteuert werden.

X. Niemand darf wegen seiner Meinungen, selbst in Reli-
gionssachen, wenn nur ihre Aeußerung die öffentliche, durch das
Gesetz festgesetzte Ordnung nicht stört, beunruhigt werden.

XI. Die freie Mittheilung der Gedanken und Meinungen
ist eines der schätzbarsten Rechte des Menschen; jeder Bürger
kann also frei sprechen, schreiben, drucken, unter keiner andern

[Ende Spaltensatz]

* ) Das frauzösische Wort vertu läßt sich, ebenso wie das lateinische
virtus, von welchem es abstammt, nicht einfach mit „Tugend“ übersetzen.
Das deutsche Wort Tugend bedeutet vielmehr das französische moralité.
Wir haben vertu deshalb auch mit Bürgertugend übersetzt; die Römer
verstanden unter virtus: Tapferkeit, Aufopferung für das Vaterland.
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[70/0022] Zur Unterhaltung und Belehrung. 70 Am folgenden Tage setzte eine Proklamation die Bewohner davon in Kenntniß: die Ordnung sei in Lyon wieder hergestellt. Die folgenden Zeugnisse über das barbarische Niedermetzeln des Volks sind von einem Privatmanne, Herrn Chanier, gesam- melt, und sämmtlich von dem Maire und der Munizipalverwal- tung von Vaise beglaubigt worden. Wir lassen den wesentlichen Juhalt derselben folgen: Das erste berichtet, daß Marie Grisot, Ehefrau des Mous- selin=Arbeiters Louis Sanguier, als sie aus ihrer Wohnung zum Schlosser Coquet flüchtete, weil sie dort sicherer zu sein glaubte, erschossen wurde, ohne daß sie zu einer solchen Behandlung die mindeste Veranlassung gegeben. Das zweite bezeugt, daß Claude S è re, ein 70jähriger Greis, der bei seiner Tochter wohnte, in seinem Bette erschossen und mit Bajonnetstichen durchbohrt wurde. Zugleich zerbrachen die Soldaten alles Hausgeräth der gerade abwesenden Tochter, und warfen es aus den Fenstern. Das dritte berichtet, daß der Mousselinarbeiter Jean Barge, der sich zu Herrn Laffay geflüchtet hatte, weil er hier sicherer zu sein glaubte, von den Soldaten auf die neue Straße du Bour- bonnais geschleift und von ihnen unbarmherzig ermordet wurde, ohne daß sie ihm Zeit zu einer Erklärung oder Rechtfertigung gelassen hätten. Ein viertes meldet, daß der Deckenmacher Mathieu Prost aus seiner Wohnung, wo er sich ganz ruhig verhielt, geschleift und an der Thüre erschossen wurde, ohne daß man ihm Zeit zu irgend einer Erklärung gelassen hatte. Ein fünftes bezeugt, daß Fran ç ois Lauvergnat ein junger, Seidenarbeiter, aus der Wohnung seines Nachbarn, wo er sich ganz ruhig verhielt, geschleppt und erschossen wurde. Desselben Jnhalts sind noch fünf andere Zeugnisse. Die Umstände, welche eine dieser Ermordungen begleiteten, sind gräßlich bis zur Unwahrscheinlichkeit. Als die Soldaten zu dem einen Schlachtopfer, Beyron, kamen, erklärte er ihnen, daß er Militair sei, und ließ sie an seinem Tische niedersitzen und trinken. Diese bestanden nichtsdestoweniger darauf, ihn zu ihrem Offizier zu führen, und als er hier anlangte und seine Militair- abschiedsbescheinigung entfaltete, wurde er erschossen. Das Blut, welches das Pflaster von Lyon röthete, war noch nicht abgewaschen, als schon die Bourgeois mit lautem Geschrei Eutschädigung für ihre Verluste forderten. Kommissarien wurden ernannt, und zur Unterstützung der Ansprüche, die sie der Regie- rung vorlegen sollten, wurde eine Note entworfen, deren Geist sich aus folgenden Zeilen ergiebt: „Die Regierung wird nicht wollen, daß der Triumph der Ordnung Thränen und Seufzer koste. Sie weiß, daß die Zeit, die unvermerklich den Schmerz verwischt, welchen die theuersten persönlichen Verluste ver- ursachen, die Vermögensverluste und materiellen Ver- wüstungen nicht in Vergessenheit bringen kann.“ So triumphirte die Bourgeoisie zum zweiten Male über das Proletariat. Diese beiden blutigen Schlachten von Lyon kündigten den Beginn des Klassenkampfes an, welcher seitdem, trotz wiederholter Niederlagen des Proletariats immer gewachsen ist, wie die Junischlacht und die Pariser Commune darthun. Der endliche Sieg des Proletariats wird aber nicht ausbleiben. Urkunde der französischen Reichsverfassung vom 18. Sep- tember 1791. Wir bringen hier die erste Verfassung, welche durch die französische Revolution konstituirt worden ist, zum Abdruck, da die Kenntniß derselben manchem unserer Leser von Jntresse sein wird. Wenn man übrigens bedenkt, daß sie so zu sagen die erste in Europa war, so müssen wir allerdings das Maaß der bürgerlichen Freiheiten, welches sie gewährleistet, als ein überaus großes bezeichnen. Ganz besonders ist die königliche Macht be- deutend beschränkt. Wir können die Urkunde des Raumes wegen nur in Abschnitten folgen lassen und bringen zunächst den ersten, welcher von den menschlichen und bürgerlichen Rechten handelt. Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers. Nachdem die Vertreter der französischen Nation, welche die Nationalversammlung ausmachen, in Erwägung gezogen, daß Unwissenheit, Vergessenheit oder Verachtung der Rechte des Men- schen die einzigen Ursachen des allgemeinen Unglücks und des Verderbnisses der Regierungen sind, so haben sie beschlossen, die natürlichen unveräußerlichen und heiligen Rechte des Menschen in einer feierlichen Erklärung darzustellen, damit solche jedem Gliede des Staatskörpers stets vor Augen liege, und es immer an seine Rechte und Pflichten erinnere, damit man die verschiedenen Hand- lungen der gesetzgebenden und der vollstreckenden Gewalt mit dem Zwecke aller und jeder politischen Einrichtungen stets vergleichen könne, und daher desto mehr Ehrfurcht für sie hege, damit end- lich die Forderungen der Bürger, welche künftig auf einfache und unumstößliche Grundsätze sich stützen, stets zur Erhaltung der Konstitution und zum allgemeinen Glück gereichen. Zufolge dessen erkennt und erklärt die Nationalversammlung in Gegenwart unter der Obhut des Allerhöchsten folgende Rechte des Menschen und des Bürgers. Art. I. Menschen sind und bleiben von ihrer Geburt an frei und einander an Rechten gleich. Gesellschaftliche Unterschei- dungen können nur auf den gemeinen Nutzen gegründet sein. II. Jede politische Gesellschaft hat die Erhaltung der na- türlichen und unverjährlichen Rechte des Menschen zum Zweck. Diese Rechte sind Freiheit, Eigenthum, Sicherheit und Wider- stand gegen Unterdrückung. III. Der Ursprung der höchsten Macht liegt wesentlich in der Nation. Weder einzelne Personen, noch Körperschaften kön- nen je eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich aus dieser Quelle fließt. IV. Die Freiheit besteht darin, daß Jeder Alles thun darf, was keinem Andern schadet: die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat daher keine andere Grenzen, als die, welche andern Gliedern der Gesellschaft den Genuß gleicher Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz bestimmt werden. V. Das Gesetz kann Handlungen nur insofern verbieten, als sie der Gesellschaft schädlich sind. Was das Gesetz verbietet, kann von Niemandem verhindert, und Niemand darf gezwungen werden, etwas zu thun, was das Gesetz nicht befiehlt. VI. Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, an Bildung desselben persönlich oder durch Vertreter Theil zu nehmen. Das Gesetz muß für alle und jede, es sei zum Schutz oder zur Strafe, ein und das- selbe Gesetz sein. Vor ihm sind alle Bürger gleich, haben alle zu öffentlichen Würden, Stellen und Aemtern, nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten, gleiche Ansprüche; es läßt keinen andern Unter- schied zu, als den ihrer Bürgertugenden * ) und ihrer Talente. VII. Kein Mensch darf gerichtlich angeklagt, in Verhaft genommen, oder sonst in persönlicher Freiheit gestört werden; es sei denn in Fällen, die das Gesetz bestimmt, und nach der Form, die es vorschreibt. Alle die, welche um willkürliche Befehle an- halten, sie ausfertigen, ausüben oder vollstrecken lassen, sind der Strafe unterworfen: hingegen ist jeder Bürger, der in Kraft des Gesetzes vorgeladen oder gegriffen, augenblicklichen Gehorsam schuldig; durch Widerstand wird er straffällig. VIII. Das Gesetz soll nur Strafen verordnen, die unum- gänglich und augenscheinlich nothwendig sind. Niemand kann bestraft werden, als nur in Kraft eines verordneten Gesetzes, welches vorher bekannt gemacht und nachher auf das Verbrechen gesetzmäßig angewendet worden. IX. Da jeder Mensch so lange für unschuldig zu halten, bis er für schuldig erklärt worden, so soll, wenn es unumgäng- lich nöthig erachtet wird, ihn anzuhalten, aller Strenge, die nicht erforderlich ist, sich seiner Person zu versichern, aufs Nachdrück- lichste durch das Gesetz gesteuert werden. X. Niemand darf wegen seiner Meinungen, selbst in Reli- gionssachen, wenn nur ihre Aeußerung die öffentliche, durch das Gesetz festgesetzte Ordnung nicht stört, beunruhigt werden. XI. Die freie Mittheilung der Gedanken und Meinungen ist eines der schätzbarsten Rechte des Menschen; jeder Bürger kann also frei sprechen, schreiben, drucken, unter keiner andern * ) Das frauzösische Wort vertu läßt sich, ebenso wie das lateinische virtus, von welchem es abstammt, nicht einfach mit „Tugend“ übersetzen. Das deutsche Wort Tugend bedeutet vielmehr das französische moralité. Wir haben vertu deshalb auch mit Bürgertugend übersetzt; die Römer verstanden unter virtus: Tapferkeit, Aufopferung für das Vaterland.

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Zitationshilfe: Social-politische Blätter. 3. Lieferung. Berlin, 6. März 1873, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_social03_1873/22>, abgerufen am 11.06.2024.