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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Höherem, als dem bloßem Siegelabdruck; es wird zu
einer neuen und schöneren Form des Originals. Der
Bericht ist lebendig, wie das, von dem berichtet wird, ein
Lebendiges ist. Die Einbildungskraft des Menschen nimmt
wie ein Spiegel die Bilder der ihn umgebenden Gegen-
stände in sich auf, belebt sie und bringt sie in eine neue
Ordnung. Die Thatsachen liegen darin nicht träge da:
einige verschieben sich, andere leuchten hervor, so daß wir
bald ein neues, aus den hervorragenden Eindrücken
zusammengesetztes Gemälde gewinnen. Der Mensch
wirkt mit. Er liebt es sich mitzutheilen, und was er
zu sagen hat, liegt wie eine Last auf seinem Herzen,
bis er es davon befreit. Nun sind aber manche Men-
schen neben der allen gemeinen Freude an der Mitthei-
lung noch mit höheren Kräften für diese zweite Schö-
pfung -- sie sind zum Schreiben geboren. Der
Gärtner hegt jedes Reis, jedes Samenkorn, jeden
Pfirsichkern; es ist sein Beruf, ein Pflanzer der Pflan-
zen zu seyn. Nicht weniger treu waltet der Schrift-
steller seines Amtes. Was er auch sieht oder erfährt,
es tritt ihm als Modell entgegen und sitzt ihm zu sei-
nem Gemälde. Ein Unsinn dünkt es ihm, wenn sie
sagen, es gebe unbeschreibliche Dinge. Er glaubt, daß
Alles, was gedacht, zuerst oder zuletzt auch geschrieben
werden kann, und er würde sich sogar daran machen
den heiligen Geist zu schildern. Mag etwas noch so
vielumfassend, noch so zart, noch so großartig seyn, es
scheint ihm gerade deßwegen für seine Feder geeignet --
und er schreibt.

Jn seinen Augen ist der Mensch wesentlich das,
dem die Fähigkeit zu beschreiben zukommt, die Welt das,
was sich beschreiben läßt. Jm Verkehr mit andern, im
Unglück findet er immer neuen Stoff, wie unser deutscher
Dichter spricht:

-- Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.

Er zieht seine Einkünfte aus Wuth und Schmerz.
Durch rasches Handeln erkauft er die Kunst, weise zu
sprechen. Widerwärtigkeiten und Stürme der Leiden-
schaft dienen nur seine Segel zu füllen, wie Luther
schreibt: "Wenn ich zornig bin, kann ich gut beten und
gut predigen." Ja, wäre uns die Genesis so mancher
schönen Stelle bekannt, sie würde uns vielleicht an
die Gefälligkeit des Sultans Amurath erinnern, der
einigen Persern die Köpfe abschlug, damit sein Arzt
Vesalius die Zuckungen der Halsmuskeln beobachten
konnte. Seine Mißgriffe sind ihm Vorbereitungen zu
seinen Siegen. Ein neuer Gedanke, eine Krisis der
Leidenschaft belehrt ihn, daß alles, was er bisher er-
kundet und geschrieben hat, nur exoterisch -- nicht die
Thatsache selbst, sondern nur ein Gerücht von der That-
[Spaltenumbruch] sache war. Was dann? Wirft er die Feder weg?
Keineswegs, beim neuen Licht, das ihm aufgegangen,
macht er sich wieder daran zu beschreiben, ob er nicht so
oder so irgendwo das Wahre treffen kann. Die Natur
arbeitet ihm in die Hand. Was immer gedacht werden
kann, ist auch in Worte zu kleiden und strebt nach
Kundgebung, wenn auch durch rohe, stammelnde Or-
gane. Können diese es nicht bewältigen, so harrt es
und arbeitet an ihnen, bis es sie nach seinem Zwecke
gemodelt hat und so zum klaren Ausdrucke gelangt.

Dieses Ringen nach dem nachahmenden Ausdruck,
dem wir überall begegnen, ist für die Absicht der Na-
tur bezeichnend, aber es ist bloße Stenographie. Es
gibt höhere Stufen, und die Natur hält für die zu er-
habenerem Amte ausersehenen Männer glänzendere Ga-
ben bereit, für die Klasse der Gelehrten und Schrift-
steller, welche da Zusammenhang erkennen, wo die
Menge nur Bruchstücke gewahr wird, und die den innern
Beruf haben, die Dinge nach ihrem Hergang zu ord-
nen und so die Achse herzustellen, um welche sich das
ganze Gefüge dreht.

Die Ausstattung des spekulativen Kopfes liegt der
Natur sehr am Herzen. Sie ist ein Ziel, das sie nie
aus dem Gesicht verloren hat, und war beim ersten
Wurf der Schöpfung vorbereitet. Er ist also keine bloße
Zulassung, er ist keine zufällige Erscheinung, sondern
ein wahrhaft organisches Wesen, ein Reichsstand in
der ganzen Verfassung der Dinge, von Anbeginn vor-
gesehen und vorbereitet. Vorgefühle werden ihm zum An-
trieb. Ein gewisses Wärmegefühl in der Brust bezeich-
net den Moment der Erkenntniß der Wahrheit, die
als Strahl der geistigen Sonne in den Schacht hin-
unterdringt. Jeder Gedanke, der im Geist aufdämmert,
bezeichnet im Moment des Aufleuchtens selbst seine
Rangstufe, ob er nur ein flüchtiger Einfall ist oder aber
eine Lebensmacht.

Jst einmal die innere Kraft vorhanden, so fehlt
es andererseits nicht an Aufforderung zum Gebrauch
der Begabung. Die menschliche Gesellschaft hatte zu
allen Zeiten dieselben Bedürfnisse; sie verlangte von
jeher nach einem tüchtigen Mann mit der gehörigen
Kraft des Ausdrucks, um jeder fixen Jdee, die sich Gel-
tung anmaßt, ihre wahre Stelle anzuweisen. Die Ehr-
und Gewinnsüchtigen kommen mit ihrer neuesten Schwin-
delei angerückt, heiße sie nun Tarif, Texas, Eisenbahn,
Romanismus, Mesmerismus oder Californien. Sie
reißen das Ding aus seinem geistigen Zusammenhang,
und so wird es ihnen leicht, es in blendendem Glanze
hinzustellen. Dann wird die Menge toll darob, und
die andere Menge gegenüber, die vor diesem particu-
lären Wahnsinn nur durch den Taumel einer andern
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Höherem, als dem bloßem Siegelabdruck; es wird zu
einer neuen und schöneren Form des Originals. Der
Bericht ist lebendig, wie das, von dem berichtet wird, ein
Lebendiges ist. Die Einbildungskraft des Menschen nimmt
wie ein Spiegel die Bilder der ihn umgebenden Gegen-
stände in sich auf, belebt sie und bringt sie in eine neue
Ordnung. Die Thatsachen liegen darin nicht träge da:
einige verschieben sich, andere leuchten hervor, so daß wir
bald ein neues, aus den hervorragenden Eindrücken
zusammengesetztes Gemälde gewinnen. Der Mensch
wirkt mit. Er liebt es sich mitzutheilen, und was er
zu sagen hat, liegt wie eine Last auf seinem Herzen,
bis er es davon befreit. Nun sind aber manche Men-
schen neben der allen gemeinen Freude an der Mitthei-
lung noch mit höheren Kräften für diese zweite Schö-
pfung — sie sind zum Schreiben geboren. Der
Gärtner hegt jedes Reis, jedes Samenkorn, jeden
Pfirsichkern; es ist sein Beruf, ein Pflanzer der Pflan-
zen zu seyn. Nicht weniger treu waltet der Schrift-
steller seines Amtes. Was er auch sieht oder erfährt,
es tritt ihm als Modell entgegen und sitzt ihm zu sei-
nem Gemälde. Ein Unsinn dünkt es ihm, wenn sie
sagen, es gebe unbeschreibliche Dinge. Er glaubt, daß
Alles, was gedacht, zuerst oder zuletzt auch geschrieben
werden kann, und er würde sich sogar daran machen
den heiligen Geist zu schildern. Mag etwas noch so
vielumfassend, noch so zart, noch so großartig seyn, es
scheint ihm gerade deßwegen für seine Feder geeignet —
und er schreibt.

Jn seinen Augen ist der Mensch wesentlich das,
dem die Fähigkeit zu beschreiben zukommt, die Welt das,
was sich beschreiben läßt. Jm Verkehr mit andern, im
Unglück findet er immer neuen Stoff, wie unser deutscher
Dichter spricht:

— Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.

Er zieht seine Einkünfte aus Wuth und Schmerz.
Durch rasches Handeln erkauft er die Kunst, weise zu
sprechen. Widerwärtigkeiten und Stürme der Leiden-
schaft dienen nur seine Segel zu füllen, wie Luther
schreibt: „Wenn ich zornig bin, kann ich gut beten und
gut predigen.“ Ja, wäre uns die Genesis so mancher
schönen Stelle bekannt, sie würde uns vielleicht an
die Gefälligkeit des Sultans Amurath erinnern, der
einigen Persern die Köpfe abschlug, damit sein Arzt
Vesalius die Zuckungen der Halsmuskeln beobachten
konnte. Seine Mißgriffe sind ihm Vorbereitungen zu
seinen Siegen. Ein neuer Gedanke, eine Krisis der
Leidenschaft belehrt ihn, daß alles, was er bisher er-
kundet und geschrieben hat, nur exoterisch — nicht die
Thatsache selbst, sondern nur ein Gerücht von der That-
[Spaltenumbruch] sache war. Was dann? Wirft er die Feder weg?
Keineswegs, beim neuen Licht, das ihm aufgegangen,
macht er sich wieder daran zu beschreiben, ob er nicht so
oder so irgendwo das Wahre treffen kann. Die Natur
arbeitet ihm in die Hand. Was immer gedacht werden
kann, ist auch in Worte zu kleiden und strebt nach
Kundgebung, wenn auch durch rohe, stammelnde Or-
gane. Können diese es nicht bewältigen, so harrt es
und arbeitet an ihnen, bis es sie nach seinem Zwecke
gemodelt hat und so zum klaren Ausdrucke gelangt.

Dieses Ringen nach dem nachahmenden Ausdruck,
dem wir überall begegnen, ist für die Absicht der Na-
tur bezeichnend, aber es ist bloße Stenographie. Es
gibt höhere Stufen, und die Natur hält für die zu er-
habenerem Amte ausersehenen Männer glänzendere Ga-
ben bereit, für die Klasse der Gelehrten und Schrift-
steller, welche da Zusammenhang erkennen, wo die
Menge nur Bruchstücke gewahr wird, und die den innern
Beruf haben, die Dinge nach ihrem Hergang zu ord-
nen und so die Achse herzustellen, um welche sich das
ganze Gefüge dreht.

Die Ausstattung des spekulativen Kopfes liegt der
Natur sehr am Herzen. Sie ist ein Ziel, das sie nie
aus dem Gesicht verloren hat, und war beim ersten
Wurf der Schöpfung vorbereitet. Er ist also keine bloße
Zulassung, er ist keine zufällige Erscheinung, sondern
ein wahrhaft organisches Wesen, ein Reichsstand in
der ganzen Verfassung der Dinge, von Anbeginn vor-
gesehen und vorbereitet. Vorgefühle werden ihm zum An-
trieb. Ein gewisses Wärmegefühl in der Brust bezeich-
net den Moment der Erkenntniß der Wahrheit, die
als Strahl der geistigen Sonne in den Schacht hin-
unterdringt. Jeder Gedanke, der im Geist aufdämmert,
bezeichnet im Moment des Aufleuchtens selbst seine
Rangstufe, ob er nur ein flüchtiger Einfall ist oder aber
eine Lebensmacht.

Jst einmal die innere Kraft vorhanden, so fehlt
es andererseits nicht an Aufforderung zum Gebrauch
der Begabung. Die menschliche Gesellschaft hatte zu
allen Zeiten dieselben Bedürfnisse; sie verlangte von
jeher nach einem tüchtigen Mann mit der gehörigen
Kraft des Ausdrucks, um jeder fixen Jdee, die sich Gel-
tung anmaßt, ihre wahre Stelle anzuweisen. Die Ehr-
und Gewinnsüchtigen kommen mit ihrer neuesten Schwin-
delei angerückt, heiße sie nun Tarif, Texas, Eisenbahn,
Romanismus, Mesmerismus oder Californien. Sie
reißen das Ding aus seinem geistigen Zusammenhang,
und so wird es ihnen leicht, es in blendendem Glanze
hinzustellen. Dann wird die Menge toll darob, und
die andere Menge gegenüber, die vor diesem particu-
lären Wahnsinn nur durch den Taumel einer andern
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Nicht weniger treu waltet der Schrift- steller seines Amtes. Was er auch sieht oder erfährt, es tritt ihm als Modell entgegen und sitzt ihm zu sei- nem Gemälde. Ein Unsinn dünkt es ihm, wenn sie sagen, es gebe unbeschreibliche Dinge. Er glaubt, daß Alles, was gedacht, zuerst oder zuletzt auch geschrieben werden kann, und er würde sich sogar daran machen den heiligen Geist zu schildern. Mag etwas noch so vielumfassend, noch so zart, noch so großartig seyn, es scheint ihm gerade deßwegen für seine Feder geeignet — und er schreibt. Jn seinen Augen ist der Mensch wesentlich das, dem die Fähigkeit zu beschreiben zukommt, die Welt das, was sich beschreiben läßt. Jm Verkehr mit andern, im Unglück findet er immer neuen Stoff, wie unser deutscher Dichter spricht: — Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide. Er zieht seine Einkünfte aus Wuth und Schmerz. Durch rasches Handeln erkauft er die Kunst, weise zu sprechen. Widerwärtigkeiten und Stürme der Leiden- schaft dienen nur seine Segel zu füllen, wie Luther schreibt: „Wenn ich zornig bin, kann ich gut beten und gut predigen.“ Ja, wäre uns die Genesis so mancher schönen Stelle bekannt, sie würde uns vielleicht an die Gefälligkeit des Sultans Amurath erinnern, der einigen Persern die Köpfe abschlug, damit sein Arzt Vesalius die Zuckungen der Halsmuskeln beobachten konnte. Seine Mißgriffe sind ihm Vorbereitungen zu seinen Siegen. Ein neuer Gedanke, eine Krisis der Leidenschaft belehrt ihn, daß alles, was er bisher er- kundet und geschrieben hat, nur exoterisch — nicht die Thatsache selbst, sondern nur ein Gerücht von der That- sache war. Was dann? Wirft er die Feder weg? Keineswegs, beim neuen Licht, das ihm aufgegangen, macht er sich wieder daran zu beschreiben, ob er nicht so oder so irgendwo das Wahre treffen kann. Die Natur arbeitet ihm in die Hand. Was immer gedacht werden kann, ist auch in Worte zu kleiden und strebt nach Kundgebung, wenn auch durch rohe, stammelnde Or- gane. Können diese es nicht bewältigen, so harrt es und arbeitet an ihnen, bis es sie nach seinem Zwecke gemodelt hat und so zum klaren Ausdrucke gelangt. Dieses Ringen nach dem nachahmenden Ausdruck, dem wir überall begegnen, ist für die Absicht der Na- tur bezeichnend, aber es ist bloße Stenographie. Es gibt höhere Stufen, und die Natur hält für die zu er- habenerem Amte ausersehenen Männer glänzendere Ga- ben bereit, für die Klasse der Gelehrten und Schrift- steller, welche da Zusammenhang erkennen, wo die Menge nur Bruchstücke gewahr wird, und die den innern Beruf haben, die Dinge nach ihrem Hergang zu ord- nen und so die Achse herzustellen, um welche sich das ganze Gefüge dreht. Die Ausstattung des spekulativen Kopfes liegt der Natur sehr am Herzen. Sie ist ein Ziel, das sie nie aus dem Gesicht verloren hat, und war beim ersten Wurf der Schöpfung vorbereitet. Er ist also keine bloße Zulassung, er ist keine zufällige Erscheinung, sondern ein wahrhaft organisches Wesen, ein Reichsstand in der ganzen Verfassung der Dinge, von Anbeginn vor- gesehen und vorbereitet. Vorgefühle werden ihm zum An- trieb. Ein gewisses Wärmegefühl in der Brust bezeich- net den Moment der Erkenntniß der Wahrheit, die als Strahl der geistigen Sonne in den Schacht hin- unterdringt. Jeder Gedanke, der im Geist aufdämmert, bezeichnet im Moment des Aufleuchtens selbst seine Rangstufe, ob er nur ein flüchtiger Einfall ist oder aber eine Lebensmacht. Jst einmal die innere Kraft vorhanden, so fehlt es andererseits nicht an Aufforderung zum Gebrauch der Begabung. Die menschliche Gesellschaft hatte zu allen Zeiten dieselben Bedürfnisse; sie verlangte von jeher nach einem tüchtigen Mann mit der gehörigen Kraft des Ausdrucks, um jeder fixen Jdee, die sich Gel- tung anmaßt, ihre wahre Stelle anzuweisen. Die Ehr- und Gewinnsüchtigen kommen mit ihrer neuesten Schwin- delei angerückt, heiße sie nun Tarif, Texas, Eisenbahn, Romanismus, Mesmerismus oder Californien. Sie reißen das Ding aus seinem geistigen Zusammenhang, und so wird es ihnen leicht, es in blendendem Glanze hinzustellen. Dann wird die Menge toll darob, und die andere Menge gegenüber, die vor diesem particu- lären Wahnsinn nur durch den Taumel einer andern

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856, S. 1082. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/2>, abgerufen am 13.06.2024.