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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Schwindelei bewahrt wird, kann sie weder widerlegen,
noch curiren. Laßt jedoch einen Mann den umfassen-
den Blick besitzen, mit dem er dieses isolirte Wunder
in seinen wahren Zusammenhang zurückversetzt, so ver-
schwindet die Täuschung, und wenn der Menge die
Vernunft wiederkehrt, dankt sie es der Vernunft des
Warners.

Der ausgebildete Mann ist der Mann aller Zeiten;
doch muß auch er wie andere Menschen wünschen, mit
seinen Zeitgenossen gut zu stehen. Oberflächliche Leute
hängen indeß ihm und der Clerisei leicht eine gewisse
Lächerlichkeit an, die aber nur Bedeutung gewinnt,
wenn sie der Mann beachtet. Jn Amerika, wo geselliger
Verkehr und öffentliche Meinung eine so nachdrucksame
Macht bilden, gilt vorzüglich der praktische Mann, und der
besitzende Theil der Gesellschaft wird in jedem Kreise mit
bedeutungsvollem Respekt genannt. Was die Jdeologen
betrifft, so theilt unser Volk die Meinung Bonapartes:
Jdeen sind der gesellschaftlichen Ordnung und Bequem-
lichkeit feindselig und machen am Ende ihren Besitzer
zum Narren. Aber eine werthvolle Schiffsladung von
Newyork nach Smyrna befördern, herumrennen, um
einer Gesellschaft, die fünf= oder zehntausend Spindeln
in Gang setzt, Subscribenten zu verschaffen, einen Cau-
cus zu Stande bringen, auf die Vorurtheile und die
Leichtgläubigkeit des Landvolks einwirken, um sich die
Stimmen desselben im November * zu sichern -- solches
gilt für praktisch und empfehlend.

Wenn ich einem beschaulichen Leben eine Thätig-
keit weit höherer Art gegenüber stelle, so möchte ich
mich doch nicht geradezu und unbedingt zu Gunsten der
letzteren entscheiden. Der Mensch hat einen so hohen
Einsatz an innerer Erleuchtung, daß der Mönch oder Ein-
siedler gar viel zur Rechtfertigung seines in Nachdenken
und Gebet verbrachten Daseyns vorbringen kann. Eine
gewisse Parteilichkeit, Voreiligkeit, Verlust des Gleich-
gewichts ist die Taxe, welche jede Handlung bezahlen
muß. Handle, wenn du willst, aber du thust es auf
deine Gefahr. Seine Thaten wachsen dem Menschen
über den Kopf. Zeige mir Einen, der gehandelt hat
und nicht das Opfer und der Sklave seines Handelns
geworden ist! Was sie gethan haben, bestimmt und
zwingt sie dasselbe wieder zu thun. Die erste That,
welche ein Experiment seyn sollte, wird zum Sakra-
ment. Der kecke Reformator verkörpert seinen Gedan-
ken in einem Ritus oder Verbündniß, er und seine
[Spaltenumbruch] Freunde hängen sich an die Form, und der Gedanke
kommt ihnen abhanden. So hat der Quäker das Quäker-
thum, der Shaker sein Kloster und seine Tänze ge-
stiftet, und obgleich jeder vom Geist schwatzt, so ist
doch kein Geist zu finden, sondern nur Wiederholung,
der Widerpart des Geistes. Aber wo sind die heuti-
gen Wirkungen des Geistes? Schon in den Regungen
unseres Enthusiasmus ist seine Abnahme zu bemerken;
aber in all jener niedern Thätigkeit, die kein anderes
Ziel kennt, als uns bequemer und feiger zu machen,
in Handlungen der List, des Diebstahls und der Lüge,
in Handlungen, welche zwischen der idealen und der
praktischen Seite unseres Wesens eine Kluft befestigen
und einen Bann auf Vernunft und Gefühl legen --
da ist nichts als Abnahme, ja Verneinung des Geistes.

Die Hindus schreiben in ihren heiligen Büchern:
"Nur Kinder, nicht die Unterrichteten sprechen von der
Denk= und von der Willenskraft des Menschen als
von Zweierlei. Sie sind nur Eines, denn Beide er-
reichen dasselbe Ziel und der Punkt, der sich kraft
der einen erringen läßt, ist auch durch die andere zu
gewinnen. Nur der Mann sieht, welcher sieht, daß
beide Eins sind." Der Maßstab der That ist die Ge-
sinnung, aus der sie hervor geht. Die größte That
mag leicht aus dem verborgensten Zufall entspringen.

Die Mißachtung des Geistes rührt nicht von den
Leuten an der Spitze her, sondern von den untergeordneten
Schichten. Die kräftigen Häupter der praktischen Volks-
klassen sind durchdrungen von den Zeitideen und haben
zu viele geistige Berührungspunkte mit den denkenden
Köpfen im Volk. Von Männern, die in einer Art
vortrefflich sind, ist nicht zu erwarten, daß sie Vor-
trefflichkeit in einer andern mißkennen. Bei solchen
Leuten bleibt Talleyrands Frage immer die erste; nicht:
ist er reich? ist er angestellt? ist er wohlgesinnt? hat er
diese oder jene Fähigkeit? ist er von der Bewegungs= oder
von der conservativen Partei? sondern: "Jst er etwas?
Kommt er für etwas auf?" Er muß etwas taugen in
seiner Weise. Das ist alles, was Talleyrand, was
State=Street, * was der gesunde Menschenverstand ver-
langen. Sey ächt und der Bewunderung werth, nicht
nach unserem, sondern nach deinem Sinn. Fähige
Menschen fragen nicht darnach, in welcher Art ein
Mensch fähig ist, sondern nur, ob er es ist. Ein
[Ende Spaltensatz]

* Am ersten Montag im November werden in den
Vereinigten Staaten alljährlich die politischen Wahlen
vorgenommen.
    A. d. U.
* Die Straße in Boston, wo die großen Bankiers und
Kapitalisten wohnen. Auch sie, meint der Verfasser, fra-
gen: Is the man good? wenn gleich in einem andern
Sinn als etwa die Jdeologen.
   A. d. U.

[Beginn Spaltensatz] Schwindelei bewahrt wird, kann sie weder widerlegen,
noch curiren. Laßt jedoch einen Mann den umfassen-
den Blick besitzen, mit dem er dieses isolirte Wunder
in seinen wahren Zusammenhang zurückversetzt, so ver-
schwindet die Täuschung, und wenn der Menge die
Vernunft wiederkehrt, dankt sie es der Vernunft des
Warners.

Der ausgebildete Mann ist der Mann aller Zeiten;
doch muß auch er wie andere Menschen wünschen, mit
seinen Zeitgenossen gut zu stehen. Oberflächliche Leute
hängen indeß ihm und der Clerisei leicht eine gewisse
Lächerlichkeit an, die aber nur Bedeutung gewinnt,
wenn sie der Mann beachtet. Jn Amerika, wo geselliger
Verkehr und öffentliche Meinung eine so nachdrucksame
Macht bilden, gilt vorzüglich der praktische Mann, und der
besitzende Theil der Gesellschaft wird in jedem Kreise mit
bedeutungsvollem Respekt genannt. Was die Jdeologen
betrifft, so theilt unser Volk die Meinung Bonapartes:
Jdeen sind der gesellschaftlichen Ordnung und Bequem-
lichkeit feindselig und machen am Ende ihren Besitzer
zum Narren. Aber eine werthvolle Schiffsladung von
Newyork nach Smyrna befördern, herumrennen, um
einer Gesellschaft, die fünf= oder zehntausend Spindeln
in Gang setzt, Subscribenten zu verschaffen, einen Cau-
cus zu Stande bringen, auf die Vorurtheile und die
Leichtgläubigkeit des Landvolks einwirken, um sich die
Stimmen desselben im November * zu sichern — solches
gilt für praktisch und empfehlend.

Wenn ich einem beschaulichen Leben eine Thätig-
keit weit höherer Art gegenüber stelle, so möchte ich
mich doch nicht geradezu und unbedingt zu Gunsten der
letzteren entscheiden. Der Mensch hat einen so hohen
Einsatz an innerer Erleuchtung, daß der Mönch oder Ein-
siedler gar viel zur Rechtfertigung seines in Nachdenken
und Gebet verbrachten Daseyns vorbringen kann. Eine
gewisse Parteilichkeit, Voreiligkeit, Verlust des Gleich-
gewichts ist die Taxe, welche jede Handlung bezahlen
muß. Handle, wenn du willst, aber du thust es auf
deine Gefahr. Seine Thaten wachsen dem Menschen
über den Kopf. Zeige mir Einen, der gehandelt hat
und nicht das Opfer und der Sklave seines Handelns
geworden ist! Was sie gethan haben, bestimmt und
zwingt sie dasselbe wieder zu thun. Die erste That,
welche ein Experiment seyn sollte, wird zum Sakra-
ment. Der kecke Reformator verkörpert seinen Gedan-
ken in einem Ritus oder Verbündniß, er und seine
[Spaltenumbruch] Freunde hängen sich an die Form, und der Gedanke
kommt ihnen abhanden. So hat der Quäker das Quäker-
thum, der Shaker sein Kloster und seine Tänze ge-
stiftet, und obgleich jeder vom Geist schwatzt, so ist
doch kein Geist zu finden, sondern nur Wiederholung,
der Widerpart des Geistes. Aber wo sind die heuti-
gen Wirkungen des Geistes? Schon in den Regungen
unseres Enthusiasmus ist seine Abnahme zu bemerken;
aber in all jener niedern Thätigkeit, die kein anderes
Ziel kennt, als uns bequemer und feiger zu machen,
in Handlungen der List, des Diebstahls und der Lüge,
in Handlungen, welche zwischen der idealen und der
praktischen Seite unseres Wesens eine Kluft befestigen
und einen Bann auf Vernunft und Gefühl legen —
da ist nichts als Abnahme, ja Verneinung des Geistes.

Die Hindus schreiben in ihren heiligen Büchern:
„Nur Kinder, nicht die Unterrichteten sprechen von der
Denk= und von der Willenskraft des Menschen als
von Zweierlei. Sie sind nur Eines, denn Beide er-
reichen dasselbe Ziel und der Punkt, der sich kraft
der einen erringen läßt, ist auch durch die andere zu
gewinnen. Nur der Mann sieht, welcher sieht, daß
beide Eins sind.“ Der Maßstab der That ist die Ge-
sinnung, aus der sie hervor geht. Die größte That
mag leicht aus dem verborgensten Zufall entspringen.

Die Mißachtung des Geistes rührt nicht von den
Leuten an der Spitze her, sondern von den untergeordneten
Schichten. Die kräftigen Häupter der praktischen Volks-
klassen sind durchdrungen von den Zeitideen und haben
zu viele geistige Berührungspunkte mit den denkenden
Köpfen im Volk. Von Männern, die in einer Art
vortrefflich sind, ist nicht zu erwarten, daß sie Vor-
trefflichkeit in einer andern mißkennen. Bei solchen
Leuten bleibt Talleyrands Frage immer die erste; nicht:
ist er reich? ist er angestellt? ist er wohlgesinnt? hat er
diese oder jene Fähigkeit? ist er von der Bewegungs= oder
von der conservativen Partei? sondern: „Jst er etwas?
Kommt er für etwas auf?“ Er muß etwas taugen in
seiner Weise. Das ist alles, was Talleyrand, was
State=Street, * was der gesunde Menschenverstand ver-
langen. Sey ächt und der Bewunderung werth, nicht
nach unserem, sondern nach deinem Sinn. Fähige
Menschen fragen nicht darnach, in welcher Art ein
Mensch fähig ist, sondern nur, ob er es ist. Ein
[Ende Spaltensatz]

* Am ersten Montag im November werden in den
Vereinigten Staaten alljährlich die politischen Wahlen
vorgenommen.
    A. d. U.
* Die Straße in Boston, wo die großen Bankiers und
Kapitalisten wohnen. Auch sie, meint der Verfasser, fra-
gen: Is the man good? wenn gleich in einem andern
Sinn als etwa die Jdeologen.
   A. d. U.
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[1083/0003] 1083 Schwindelei bewahrt wird, kann sie weder widerlegen, noch curiren. Laßt jedoch einen Mann den umfassen- den Blick besitzen, mit dem er dieses isolirte Wunder in seinen wahren Zusammenhang zurückversetzt, so ver- schwindet die Täuschung, und wenn der Menge die Vernunft wiederkehrt, dankt sie es der Vernunft des Warners. Der ausgebildete Mann ist der Mann aller Zeiten; doch muß auch er wie andere Menschen wünschen, mit seinen Zeitgenossen gut zu stehen. Oberflächliche Leute hängen indeß ihm und der Clerisei leicht eine gewisse Lächerlichkeit an, die aber nur Bedeutung gewinnt, wenn sie der Mann beachtet. Jn Amerika, wo geselliger Verkehr und öffentliche Meinung eine so nachdrucksame Macht bilden, gilt vorzüglich der praktische Mann, und der besitzende Theil der Gesellschaft wird in jedem Kreise mit bedeutungsvollem Respekt genannt. Was die Jdeologen betrifft, so theilt unser Volk die Meinung Bonapartes: Jdeen sind der gesellschaftlichen Ordnung und Bequem- lichkeit feindselig und machen am Ende ihren Besitzer zum Narren. Aber eine werthvolle Schiffsladung von Newyork nach Smyrna befördern, herumrennen, um einer Gesellschaft, die fünf= oder zehntausend Spindeln in Gang setzt, Subscribenten zu verschaffen, einen Cau- cus zu Stande bringen, auf die Vorurtheile und die Leichtgläubigkeit des Landvolks einwirken, um sich die Stimmen desselben im November * zu sichern — solches gilt für praktisch und empfehlend. Wenn ich einem beschaulichen Leben eine Thätig- keit weit höherer Art gegenüber stelle, so möchte ich mich doch nicht geradezu und unbedingt zu Gunsten der letzteren entscheiden. Der Mensch hat einen so hohen Einsatz an innerer Erleuchtung, daß der Mönch oder Ein- siedler gar viel zur Rechtfertigung seines in Nachdenken und Gebet verbrachten Daseyns vorbringen kann. Eine gewisse Parteilichkeit, Voreiligkeit, Verlust des Gleich- gewichts ist die Taxe, welche jede Handlung bezahlen muß. Handle, wenn du willst, aber du thust es auf deine Gefahr. Seine Thaten wachsen dem Menschen über den Kopf. Zeige mir Einen, der gehandelt hat und nicht das Opfer und der Sklave seines Handelns geworden ist! Was sie gethan haben, bestimmt und zwingt sie dasselbe wieder zu thun. Die erste That, welche ein Experiment seyn sollte, wird zum Sakra- ment. Der kecke Reformator verkörpert seinen Gedan- ken in einem Ritus oder Verbündniß, er und seine Freunde hängen sich an die Form, und der Gedanke kommt ihnen abhanden. So hat der Quäker das Quäker- thum, der Shaker sein Kloster und seine Tänze ge- stiftet, und obgleich jeder vom Geist schwatzt, so ist doch kein Geist zu finden, sondern nur Wiederholung, der Widerpart des Geistes. Aber wo sind die heuti- gen Wirkungen des Geistes? Schon in den Regungen unseres Enthusiasmus ist seine Abnahme zu bemerken; aber in all jener niedern Thätigkeit, die kein anderes Ziel kennt, als uns bequemer und feiger zu machen, in Handlungen der List, des Diebstahls und der Lüge, in Handlungen, welche zwischen der idealen und der praktischen Seite unseres Wesens eine Kluft befestigen und einen Bann auf Vernunft und Gefühl legen — da ist nichts als Abnahme, ja Verneinung des Geistes. Die Hindus schreiben in ihren heiligen Büchern: „Nur Kinder, nicht die Unterrichteten sprechen von der Denk= und von der Willenskraft des Menschen als von Zweierlei. Sie sind nur Eines, denn Beide er- reichen dasselbe Ziel und der Punkt, der sich kraft der einen erringen läßt, ist auch durch die andere zu gewinnen. Nur der Mann sieht, welcher sieht, daß beide Eins sind.“ Der Maßstab der That ist die Ge- sinnung, aus der sie hervor geht. Die größte That mag leicht aus dem verborgensten Zufall entspringen. Die Mißachtung des Geistes rührt nicht von den Leuten an der Spitze her, sondern von den untergeordneten Schichten. Die kräftigen Häupter der praktischen Volks- klassen sind durchdrungen von den Zeitideen und haben zu viele geistige Berührungspunkte mit den denkenden Köpfen im Volk. Von Männern, die in einer Art vortrefflich sind, ist nicht zu erwarten, daß sie Vor- trefflichkeit in einer andern mißkennen. Bei solchen Leuten bleibt Talleyrands Frage immer die erste; nicht: ist er reich? ist er angestellt? ist er wohlgesinnt? hat er diese oder jene Fähigkeit? ist er von der Bewegungs= oder von der conservativen Partei? sondern: „Jst er etwas? Kommt er für etwas auf?“ Er muß etwas taugen in seiner Weise. Das ist alles, was Talleyrand, was State=Street, * was der gesunde Menschenverstand ver- langen. Sey ächt und der Bewunderung werth, nicht nach unserem, sondern nach deinem Sinn. Fähige Menschen fragen nicht darnach, in welcher Art ein Mensch fähig ist, sondern nur, ob er es ist. Ein * Am ersten Montag im November werden in den Vereinigten Staaten alljährlich die politischen Wahlen vorgenommen. A. d. U. * Die Straße in Boston, wo die großen Bankiers und Kapitalisten wohnen. Auch sie, meint der Verfasser, fra- gen: Is the man good? wenn gleich in einem andern Sinn als etwa die Jdeologen. A. d. U.

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856, S. 1083. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/3>, abgerufen am 21.11.2024.