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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] der Schwere gebunden und gehalten; die Skulptur löst
die Starrheit der Gestalt, und indem sie den Schwer-
punkt in das Jnnere derselben legt, gibt sie den Glie-
dern die Möglichkeit freier Bewegung oder stellt sie in
den Punkt des schwebenden Gleichgewichts zweier ent-
gegengesetzten Bewegungen; die Malerei kann zwar noch
nicht, wie die Musik, die Zeitfolge als solche im Flusse
der Empfindungen, noch nicht den wirklichen Fortschritt
der Handlung, gleich der Dichtkunst, darstellen, aber sie
greift in das bewegte Leben hinein und hebt einen seiner
wechselnden Momente hervor, und wie sie nicht so sehr
die Totalität des Charakters in ihrem Beharren, als
die besondern Erregungen des Gemüths, die besondern
Stimmungen der Seele und die Geberden und Hand-
lungen ergreift, durch die sie sich kund geben, gewinnt
sie Halt und Ruhe in der Composition des Gan-
zen, während im Einzelnen die Lebensäußerung des
Einen der Beweggrund für die Stellung und Thätig-
keit des Andern wird und dadurch der veranschaulichte
Augenblick einen Reichthum von Bewegungen enthüllt,
indem die gegenwärtige Lage weder vorher da war, noch
nachher da seyn wird, sondern auf ihr Vor und Nach
hinweist. Jn springenden, schwebenden, stürzenden,
fliegenden Gestalten freut sich die Malerei ihrer eigen-
thümlichen Macht und Herrlichkeit, ihres Vorzuges.
Denn indem sie nicht die an sich seyende Realität der
Gegenstände darstellt, sondern sie nur auffaßt, wie sie
uns erscheinen, statt der Dinge selbst ihr Spiegelbild im
Auge wiedergibt und durch das Licht die Gestalten mo-
dellirt, befreit sie sich von der Schwere, der die Skulptur
in der vollen, runden Körperlichkeit ihrer Schöpfungen
verhastet bleibt. Das Werk der Malerei wäre steif und
starr, das den plastischen Styl streng einhalten wollte;
es legte sich eine Fessel an, welche die im Licht schwim-
menden Farbenbilder der Dinge nicht bindet. Das
jüngste Gericht von Michel Angelo und Cornelius, die
Disputa und Transfiguration Raphaels, Kaulbachs
Hunnenschlacht und Homer zeigen den malerischen Styl
in dieser Freiheit der Bewegung, in dieser Lösung des
Bannes der Schwere, und der vorzugsweise malerische
Sinn des letztgenannten Meisters offenbart sich nicht
bloß in der dramatischen Bewegtheit seiner Compositio-
nen, sondern auch in der Lust an schwebenden Gestalten
und in der Kunst sie darzustellen.

Mit der Ueberwindung der Schwere hängt auch
die der Masse zusammen. Die Architektur wirkt durch
die Massenhaftigkeit der Gebäude; wenn auch alle Ver-
hältnisse und Formen im Modell eines Gebäudes richtig
angegeben sind, den ästhetisch überwältigenden Eindruck
gewinnen wir erst durch die imposante Größe der Aus-
dehnung, gegen die wir uns selber verschwindend klein
[Spaltenumbruch] vorkommen; in der Beherrschung und Besiegung der
Masse als solcher bewährt sich hier der Sieg der Jdee
um so herrlicher, je wuchtvoller und ausgedehnter jene
hervortritt. Selbst die Colossalgebilde der Skulptur sind
doch klein neben der Pyramide oder dem thurmgekrönten
Dom, und das gewöhnliche Maaß der Bildsäule nähert
sich dem menschlichen; es ist die Schönheit der Form
hier das Erste und Vorwiegende. Die Malerei aber
gibt die volle Körperlichkeit ganz auf; sie gestaltet nur
auf der Fläche, und der geringe Farbstoff, den sie an-
wendet, hat nur in so fern Bedeutung, als er die
Aetherwellen auf eine eigenthümliche Weise bricht, ein-
saugt oder zurückwirft und dadurch verschiedene Licht-
empfindungen in unserem Auge hervorruft. Das Licht
ist hier der Träger des Kunstwerks, das an der gröbe-
ren festen Materie nur haftet, nur einen Anhalt ge-
winnt, aber auf den Wellen des Aethers durch den
Farbenreiz in unserem Auge lebendig wird. Eine dünne
Schicht neben einander gelagerter oder mit einander
verschmolzener Metalloxyde wird auf ihrer Oberfläche
der Anlaß für die Lichtschwingungen, die unser Auge
treffen, die unser anschauender Geist wieder zu dem
Bilde verbindet, in welchem er den Geist und die Phan-
tasie des Malers wieder erkennt.

Jn der Architektur hatten wir die Darstellung all-
gemeiner Jdeen und Geistesrichtungen mittelst allge-
meiner Weltkräfte unter der Herrschaft des Gesetzes,
das durch die Construction selbst in seiner Strenge als
die unverrückbare Grundlage alles Besondern erschien;
die Plastik sprach das Wesen des persönlichen Geistes
in der Totalität des Charakters aus, und veranschau-
lichte in der Gestalt des Leibes den gattungsmäßigen
Typus, das ewige Jdeal; die Malerei schreitet zum
bestimmten Ausdruck des Jndividuellen und in der Be-
sonderheit Eigenthümlichen fort, und hält sich auch bei
diesem an das Momentane, indem sie auch das flüch-
tigste Spiel innerer Regungen offenbart. Das Rauhe,
Wilde, Zerklüftete, Zerrissene, Phantastische nennen
wir vorzugsweise pittoresk in der Natur; an der glatt
sitzenden neuen Uniform geht der Maler vorüber und
hält sich lieber an den Bettlermantel, statt des neuen
regelmäßig gebauten und gleichmäßig angestrichenen
Hauses wählt er lieber die Ruine, und sucht den sorg-
samen Anzug des zu porträtirenden Mädchens durch
eine vom Wind zerkräuselte Locke oder gelöste Schleife
malerisch zu machen. Erinnern wir uns daran, daß
alles Leben sich nicht aus Gesetzen, sondern aus Prin-
cipien, aus realen Keimen nach Gesetzen entwickelt,
die jegliches mit der ihm eigenthümlichen Kraft auf eine
originale Weise erfüllt, so daß nicht einmal zwei Baum-
blätter oder zwei Nasen einander völlig gleich sind, wenn
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] der Schwere gebunden und gehalten; die Skulptur löst
die Starrheit der Gestalt, und indem sie den Schwer-
punkt in das Jnnere derselben legt, gibt sie den Glie-
dern die Möglichkeit freier Bewegung oder stellt sie in
den Punkt des schwebenden Gleichgewichts zweier ent-
gegengesetzten Bewegungen; die Malerei kann zwar noch
nicht, wie die Musik, die Zeitfolge als solche im Flusse
der Empfindungen, noch nicht den wirklichen Fortschritt
der Handlung, gleich der Dichtkunst, darstellen, aber sie
greift in das bewegte Leben hinein und hebt einen seiner
wechselnden Momente hervor, und wie sie nicht so sehr
die Totalität des Charakters in ihrem Beharren, als
die besondern Erregungen des Gemüths, die besondern
Stimmungen der Seele und die Geberden und Hand-
lungen ergreift, durch die sie sich kund geben, gewinnt
sie Halt und Ruhe in der Composition des Gan-
zen, während im Einzelnen die Lebensäußerung des
Einen der Beweggrund für die Stellung und Thätig-
keit des Andern wird und dadurch der veranschaulichte
Augenblick einen Reichthum von Bewegungen enthüllt,
indem die gegenwärtige Lage weder vorher da war, noch
nachher da seyn wird, sondern auf ihr Vor und Nach
hinweist. Jn springenden, schwebenden, stürzenden,
fliegenden Gestalten freut sich die Malerei ihrer eigen-
thümlichen Macht und Herrlichkeit, ihres Vorzuges.
Denn indem sie nicht die an sich seyende Realität der
Gegenstände darstellt, sondern sie nur auffaßt, wie sie
uns erscheinen, statt der Dinge selbst ihr Spiegelbild im
Auge wiedergibt und durch das Licht die Gestalten mo-
dellirt, befreit sie sich von der Schwere, der die Skulptur
in der vollen, runden Körperlichkeit ihrer Schöpfungen
verhastet bleibt. Das Werk der Malerei wäre steif und
starr, das den plastischen Styl streng einhalten wollte;
es legte sich eine Fessel an, welche die im Licht schwim-
menden Farbenbilder der Dinge nicht bindet. Das
jüngste Gericht von Michel Angelo und Cornelius, die
Disputa und Transfiguration Raphaels, Kaulbachs
Hunnenschlacht und Homer zeigen den malerischen Styl
in dieser Freiheit der Bewegung, in dieser Lösung des
Bannes der Schwere, und der vorzugsweise malerische
Sinn des letztgenannten Meisters offenbart sich nicht
bloß in der dramatischen Bewegtheit seiner Compositio-
nen, sondern auch in der Lust an schwebenden Gestalten
und in der Kunst sie darzustellen.

Mit der Ueberwindung der Schwere hängt auch
die der Masse zusammen. Die Architektur wirkt durch
die Massenhaftigkeit der Gebäude; wenn auch alle Ver-
hältnisse und Formen im Modell eines Gebäudes richtig
angegeben sind, den ästhetisch überwältigenden Eindruck
gewinnen wir erst durch die imposante Größe der Aus-
dehnung, gegen die wir uns selber verschwindend klein
[Spaltenumbruch] vorkommen; in der Beherrschung und Besiegung der
Masse als solcher bewährt sich hier der Sieg der Jdee
um so herrlicher, je wuchtvoller und ausgedehnter jene
hervortritt. Selbst die Colossalgebilde der Skulptur sind
doch klein neben der Pyramide oder dem thurmgekrönten
Dom, und das gewöhnliche Maaß der Bildsäule nähert
sich dem menschlichen; es ist die Schönheit der Form
hier das Erste und Vorwiegende. Die Malerei aber
gibt die volle Körperlichkeit ganz auf; sie gestaltet nur
auf der Fläche, und der geringe Farbstoff, den sie an-
wendet, hat nur in so fern Bedeutung, als er die
Aetherwellen auf eine eigenthümliche Weise bricht, ein-
saugt oder zurückwirft und dadurch verschiedene Licht-
empfindungen in unserem Auge hervorruft. Das Licht
ist hier der Träger des Kunstwerks, das an der gröbe-
ren festen Materie nur haftet, nur einen Anhalt ge-
winnt, aber auf den Wellen des Aethers durch den
Farbenreiz in unserem Auge lebendig wird. Eine dünne
Schicht neben einander gelagerter oder mit einander
verschmolzener Metalloxyde wird auf ihrer Oberfläche
der Anlaß für die Lichtschwingungen, die unser Auge
treffen, die unser anschauender Geist wieder zu dem
Bilde verbindet, in welchem er den Geist und die Phan-
tasie des Malers wieder erkennt.

Jn der Architektur hatten wir die Darstellung all-
gemeiner Jdeen und Geistesrichtungen mittelst allge-
meiner Weltkräfte unter der Herrschaft des Gesetzes,
das durch die Construction selbst in seiner Strenge als
die unverrückbare Grundlage alles Besondern erschien;
die Plastik sprach das Wesen des persönlichen Geistes
in der Totalität des Charakters aus, und veranschau-
lichte in der Gestalt des Leibes den gattungsmäßigen
Typus, das ewige Jdeal; die Malerei schreitet zum
bestimmten Ausdruck des Jndividuellen und in der Be-
sonderheit Eigenthümlichen fort, und hält sich auch bei
diesem an das Momentane, indem sie auch das flüch-
tigste Spiel innerer Regungen offenbart. Das Rauhe,
Wilde, Zerklüftete, Zerrissene, Phantastische nennen
wir vorzugsweise pittoresk in der Natur; an der glatt
sitzenden neuen Uniform geht der Maler vorüber und
hält sich lieber an den Bettlermantel, statt des neuen
regelmäßig gebauten und gleichmäßig angestrichenen
Hauses wählt er lieber die Ruine, und sucht den sorg-
samen Anzug des zu porträtirenden Mädchens durch
eine vom Wind zerkräuselte Locke oder gelöste Schleife
malerisch zu machen. Erinnern wir uns daran, daß
alles Leben sich nicht aus Gesetzen, sondern aus Prin-
cipien, aus realen Keimen nach Gesetzen entwickelt,
die jegliches mit der ihm eigenthümlichen Kraft auf eine
originale Weise erfüllt, so daß nicht einmal zwei Baum-
blätter oder zwei Nasen einander völlig gleich sind, wenn
[Ende Spaltensatz]

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Jn springenden, schwebenden, stürzenden, fliegenden Gestalten freut sich die Malerei ihrer eigen- thümlichen Macht und Herrlichkeit, ihres Vorzuges. Denn indem sie nicht die an sich seyende Realität der Gegenstände darstellt, sondern sie nur auffaßt, wie sie uns erscheinen, statt der Dinge selbst ihr Spiegelbild im Auge wiedergibt und durch das Licht die Gestalten mo- dellirt, befreit sie sich von der Schwere, der die Skulptur in der vollen, runden Körperlichkeit ihrer Schöpfungen verhastet bleibt. Das Werk der Malerei wäre steif und starr, das den plastischen Styl streng einhalten wollte; es legte sich eine Fessel an, welche die im Licht schwim- menden Farbenbilder der Dinge nicht bindet. 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Die Architektur wirkt durch die Massenhaftigkeit der Gebäude; wenn auch alle Ver- hältnisse und Formen im Modell eines Gebäudes richtig angegeben sind, den ästhetisch überwältigenden Eindruck gewinnen wir erst durch die imposante Größe der Aus- dehnung, gegen die wir uns selber verschwindend klein vorkommen; in der Beherrschung und Besiegung der Masse als solcher bewährt sich hier der Sieg der Jdee um so herrlicher, je wuchtvoller und ausgedehnter jene hervortritt. Selbst die Colossalgebilde der Skulptur sind doch klein neben der Pyramide oder dem thurmgekrönten Dom, und das gewöhnliche Maaß der Bildsäule nähert sich dem menschlichen; es ist die Schönheit der Form hier das Erste und Vorwiegende. Die Malerei aber gibt die volle Körperlichkeit ganz auf; sie gestaltet nur auf der Fläche, und der geringe Farbstoff, den sie an- wendet, hat nur in so fern Bedeutung, als er die Aetherwellen auf eine eigenthümliche Weise bricht, ein- saugt oder zurückwirft und dadurch verschiedene Licht- empfindungen in unserem Auge hervorruft. Das Licht ist hier der Träger des Kunstwerks, das an der gröbe- ren festen Materie nur haftet, nur einen Anhalt ge- winnt, aber auf den Wellen des Aethers durch den Farbenreiz in unserem Auge lebendig wird. Eine dünne Schicht neben einander gelagerter oder mit einander verschmolzener Metalloxyde wird auf ihrer Oberfläche der Anlaß für die Lichtschwingungen, die unser Auge treffen, die unser anschauender Geist wieder zu dem Bilde verbindet, in welchem er den Geist und die Phan- tasie des Malers wieder erkennt. 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Das Rauhe, Wilde, Zerklüftete, Zerrissene, Phantastische nennen wir vorzugsweise pittoresk in der Natur; an der glatt sitzenden neuen Uniform geht der Maler vorüber und hält sich lieber an den Bettlermantel, statt des neuen regelmäßig gebauten und gleichmäßig angestrichenen Hauses wählt er lieber die Ruine, und sucht den sorg- samen Anzug des zu porträtirenden Mädchens durch eine vom Wind zerkräuselte Locke oder gelöste Schleife malerisch zu machen. Erinnern wir uns daran, daß alles Leben sich nicht aus Gesetzen, sondern aus Prin- cipien, aus realen Keimen nach Gesetzen entwickelt, die jegliches mit der ihm eigenthümlichen Kraft auf eine originale Weise erfüllt, so daß nicht einmal zwei Baum- blätter oder zwei Nasen einander völlig gleich sind, wenn

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856, S. 1043. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt44_1856/11>, abgerufen am 15.06.2024.