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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] auch jeder Rosenstock die seiner Gattung zukommende
Norm der Blattstellung genau einhält und der kaukasische
Typus in allen Europäern sich ausspricht. Die Egypter
unterscheiden auf ihren Reliefs die eigene Nationalphy-
siognomie des Juden und Negers, aber sie charakterisiren
die Jndividualitäten nicht als solche, und die griechi-
schen Plastiker bilden im griechischen Profil ein Jdeal,
das dem modernen Physiognomiker Lavater so verhaßt und
langweilig war, weil sich das Absonderliche in ihm nur
schwer oder gar nicht ausprägt. Der Maler hält sich
dagegen an jene originale Triebkraft des Einzelnen, er
geht ihr nach und verhilft ihr zu ihrem Recht, und
wenn Nothwendigkeit und Willkür streiten, tritt er
lieber auf die Seite der letzteren, weil auch in der Ver-
irrung doch die Freiheit des eigenthümlichen Selbstes
sich bethätigt. Zugleich aber steht jedes Lebendige im
allgemeinen Weltzusammenhang, und die verschiedenen
Jndividuen treffen in ihrer Entwicklung aufeinander,
ihre Bahnen kreuzen sich, ohne daß dieß Zusammen-
treffen von einem oder dem andern beabsichtigt gewesen
wäre, und was wir so ohne unser Wollen und Zuthun
erfahren, was sich so für uns ereignet, ohne daß wir
den Grund erkennen, das nennen wir das Zufällige.

Jndem die Malerei das Gesammtleben und die
Wechselwirkung der Dinge darstellt, wendet sie sich
darum auch mit Vorliebe dieser bunten Fülle des Man-
nigfaltigen, diesen zufälligen Einflüssen des Einen auf
das Andere zu. Das Jdeal der Plastik ruhte als ein
Organismus selbstgenugsam in seiner Vollendung; der
Maler taucht seine Gestalten in das Wechselleben der
ganzen Natur; eine gemeinsame Luft umfließt, ein ge-
meinsames Licht umstrahlt sie alle, und reflektirt in
einem tausendstimmigen Echo von einem Gegenstande
zum Andern, und die Thätigkeit des Einen wird stets
zum Motiv der Bewegung oder Empfindung für das
Andere, jegliches greift theilnehmend ein in den allge-
meinen Proceß der Entwicklung, an jeglichem erscheint
der ihm zufällige Einfluß der Umgebung mitgesetzt. Und
so können wir sagen: die Malerei schildert das Jndi-
viduelle der einzelnen Wesen und Kräfte in seinem freien
Trieb, in seiner originalen Entwicklung, zugleich wie es
die Einflüsse der Außenwelt absichtslos erfährt. Statt
strenger architektonischer Regelrichtigkeit gilt darum das
Ungeordnete, Trümmerhafte oder Ueberwuchernde für
malerisch, wenn durch das scheinbar Zufällige die Basis
der Symmetrie und in der Zusammenstimmung des
Mannigfaltigen die Einheit und das Gesetz als Har-
monie empfunden wird. Ohne dieß Letztere hätten wir
Verwirrung und Zerstörung; das Schöne erfreut uns
eben dann, wann in und durch die Freiheit die allgemeine
Norm der Weltordnung nicht aufgelöst, sondern erfüllt
[Spaltenumbruch] wird. Wir sehen dann das Spiel selbstständiger Kräfte,
wie es dem gemeinsamen Lebensgrund entsprungen ist
und in seiner Regsamkeit und Fülle wieder zusammen-
stimmt.

Dem Willkürlichen und Zufälligen in der Außen-
welt entspricht in der Seele des Künstlers das Phan-
tastische, indem die Phantasie sich von der Regel des
Verstandes entbindet und mit den Formen und Normen
der Wirklichkeit spielt. Die Architektur kann ihm höch-
stens im Ornamente einmal Raum geben; die Plastik
schließt es von der klaren Bestimmtheit ihrer Gebilde
aus; wie aber die Malerei nicht bloß das helle Tages-
licht, sondern auch Dämmerung und Nacht wiedergibt,
und dabei der Ahnung des Beschauers vieles überlassen
muß, so erlaubt sie dem Künstler ein freieres Spiel
mit den Formen der Natur, sobald er sich nur nicht
in tolle Wesenlosigkeit und wirre Gespensterhaftigkeit
verirrt und leere Fratzen schafft, sondern die tiefsinnige
Jnnerlichkeit des Gemüths sich darin offenbart, wie bei
Albrecht Dürer, oder das Maß und die Harmonie der
Composition und der Adel des Styls das Einzelne wie-
der dem besonnenen Geiste unterwirft, wie bei Kaul-
bach. Auf dem verwandten Gebiete der Poesie wäre
Shakespeare vor allen zu nennen, während unsere ro-
mantische Schule sich häufig in gehaltlose Gaukeleien oder
in wahnsinnigen Spuk verlor.

Jn der Architektur wie in der anorganischen Natur
herrscht die Nothwendigkeit; der plastische Charakter er-
füllt sich mit dem objektiven Gehalt des Wahren und
Guten; in der Malerei waltet das Jndividuelle in seiner
Selbstständigkeit, aber so, daß aus Willkür und Zufall
die freie Harmonie des Ganzen geboren wird. Oder
um einen geistvollen Ausspruch Schnaases in den Zu-
sammenhang unserer Entwicklung aufzunehmen: "Die
drei Künste schreiten in einer natürlichen Ordnung fort,
jede folgende faßt ein immer tieferes geistiges Princip
auf: die Architektur nur das Leben äußerer Ordnung,
wie es auch in der unorganischen Natur erscheint, die
Sculptur das Leben des natürlichen Organismus, die
Malerei das geistige Gesammtleben der Welt. Dieses
Gesammtleben aber läßt sich überall nicht in einzelnen
bestimmten materiellen Stoffen nachweisen; es rinnt
nicht in bestimmten Adern und Nervenfäden, sondern
es ist durch die feinste Berührung der Dinge mit ein-
ander hervorgebracht. Es setzt dabei die andern ma-
teriellen Regionen voraus, aber weil es an ihrer Schwere
nicht haftet und sich nur über ihnen und nachdem sie
vollendet sind, entwickelt, so haben sie für dieses geistige
Leben keine Bedeutung durch sich selbst, sondern nur
durch ihren Schein, der Körper nicht wirklich, sondern
nur durch seine Lichtwirkungen."

[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] auch jeder Rosenstock die seiner Gattung zukommende
Norm der Blattstellung genau einhält und der kaukasische
Typus in allen Europäern sich ausspricht. Die Egypter
unterscheiden auf ihren Reliefs die eigene Nationalphy-
siognomie des Juden und Negers, aber sie charakterisiren
die Jndividualitäten nicht als solche, und die griechi-
schen Plastiker bilden im griechischen Profil ein Jdeal,
das dem modernen Physiognomiker Lavater so verhaßt und
langweilig war, weil sich das Absonderliche in ihm nur
schwer oder gar nicht ausprägt. Der Maler hält sich
dagegen an jene originale Triebkraft des Einzelnen, er
geht ihr nach und verhilft ihr zu ihrem Recht, und
wenn Nothwendigkeit und Willkür streiten, tritt er
lieber auf die Seite der letzteren, weil auch in der Ver-
irrung doch die Freiheit des eigenthümlichen Selbstes
sich bethätigt. Zugleich aber steht jedes Lebendige im
allgemeinen Weltzusammenhang, und die verschiedenen
Jndividuen treffen in ihrer Entwicklung aufeinander,
ihre Bahnen kreuzen sich, ohne daß dieß Zusammen-
treffen von einem oder dem andern beabsichtigt gewesen
wäre, und was wir so ohne unser Wollen und Zuthun
erfahren, was sich so für uns ereignet, ohne daß wir
den Grund erkennen, das nennen wir das Zufällige.

Jndem die Malerei das Gesammtleben und die
Wechselwirkung der Dinge darstellt, wendet sie sich
darum auch mit Vorliebe dieser bunten Fülle des Man-
nigfaltigen, diesen zufälligen Einflüssen des Einen auf
das Andere zu. Das Jdeal der Plastik ruhte als ein
Organismus selbstgenugsam in seiner Vollendung; der
Maler taucht seine Gestalten in das Wechselleben der
ganzen Natur; eine gemeinsame Luft umfließt, ein ge-
meinsames Licht umstrahlt sie alle, und reflektirt in
einem tausendstimmigen Echo von einem Gegenstande
zum Andern, und die Thätigkeit des Einen wird stets
zum Motiv der Bewegung oder Empfindung für das
Andere, jegliches greift theilnehmend ein in den allge-
meinen Proceß der Entwicklung, an jeglichem erscheint
der ihm zufällige Einfluß der Umgebung mitgesetzt. Und
so können wir sagen: die Malerei schildert das Jndi-
viduelle der einzelnen Wesen und Kräfte in seinem freien
Trieb, in seiner originalen Entwicklung, zugleich wie es
die Einflüsse der Außenwelt absichtslos erfährt. Statt
strenger architektonischer Regelrichtigkeit gilt darum das
Ungeordnete, Trümmerhafte oder Ueberwuchernde für
malerisch, wenn durch das scheinbar Zufällige die Basis
der Symmetrie und in der Zusammenstimmung des
Mannigfaltigen die Einheit und das Gesetz als Har-
monie empfunden wird. Ohne dieß Letztere hätten wir
Verwirrung und Zerstörung; das Schöne erfreut uns
eben dann, wann in und durch die Freiheit die allgemeine
Norm der Weltordnung nicht aufgelöst, sondern erfüllt
[Spaltenumbruch] wird. Wir sehen dann das Spiel selbstständiger Kräfte,
wie es dem gemeinsamen Lebensgrund entsprungen ist
und in seiner Regsamkeit und Fülle wieder zusammen-
stimmt.

Dem Willkürlichen und Zufälligen in der Außen-
welt entspricht in der Seele des Künstlers das Phan-
tastische, indem die Phantasie sich von der Regel des
Verstandes entbindet und mit den Formen und Normen
der Wirklichkeit spielt. Die Architektur kann ihm höch-
stens im Ornamente einmal Raum geben; die Plastik
schließt es von der klaren Bestimmtheit ihrer Gebilde
aus; wie aber die Malerei nicht bloß das helle Tages-
licht, sondern auch Dämmerung und Nacht wiedergibt,
und dabei der Ahnung des Beschauers vieles überlassen
muß, so erlaubt sie dem Künstler ein freieres Spiel
mit den Formen der Natur, sobald er sich nur nicht
in tolle Wesenlosigkeit und wirre Gespensterhaftigkeit
verirrt und leere Fratzen schafft, sondern die tiefsinnige
Jnnerlichkeit des Gemüths sich darin offenbart, wie bei
Albrecht Dürer, oder das Maß und die Harmonie der
Composition und der Adel des Styls das Einzelne wie-
der dem besonnenen Geiste unterwirft, wie bei Kaul-
bach. Auf dem verwandten Gebiete der Poesie wäre
Shakespeare vor allen zu nennen, während unsere ro-
mantische Schule sich häufig in gehaltlose Gaukeleien oder
in wahnsinnigen Spuk verlor.

Jn der Architektur wie in der anorganischen Natur
herrscht die Nothwendigkeit; der plastische Charakter er-
füllt sich mit dem objektiven Gehalt des Wahren und
Guten; in der Malerei waltet das Jndividuelle in seiner
Selbstständigkeit, aber so, daß aus Willkür und Zufall
die freie Harmonie des Ganzen geboren wird. Oder
um einen geistvollen Ausspruch Schnaases in den Zu-
sammenhang unserer Entwicklung aufzunehmen: „Die
drei Künste schreiten in einer natürlichen Ordnung fort,
jede folgende faßt ein immer tieferes geistiges Princip
auf: die Architektur nur das Leben äußerer Ordnung,
wie es auch in der unorganischen Natur erscheint, die
Sculptur das Leben des natürlichen Organismus, die
Malerei das geistige Gesammtleben der Welt. Dieses
Gesammtleben aber läßt sich überall nicht in einzelnen
bestimmten materiellen Stoffen nachweisen; es rinnt
nicht in bestimmten Adern und Nervenfäden, sondern
es ist durch die feinste Berührung der Dinge mit ein-
ander hervorgebracht. Es setzt dabei die andern ma-
teriellen Regionen voraus, aber weil es an ihrer Schwere
nicht haftet und sich nur über ihnen und nachdem sie
vollendet sind, entwickelt, so haben sie für dieses geistige
Leben keine Bedeutung durch sich selbst, sondern nur
durch ihren Schein, der Körper nicht wirklich, sondern
nur durch seine Lichtwirkungen.“

[Ende Spaltensatz]
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Das Jdeal der Plastik ruhte als ein Organismus selbstgenugsam in seiner Vollendung; der Maler taucht seine Gestalten in das Wechselleben der ganzen Natur; eine gemeinsame Luft umfließt, ein ge- meinsames Licht umstrahlt sie alle, und reflektirt in einem tausendstimmigen Echo von einem Gegenstande zum Andern, und die Thätigkeit des Einen wird stets zum Motiv der Bewegung oder Empfindung für das Andere, jegliches greift theilnehmend ein in den allge- meinen Proceß der Entwicklung, an jeglichem erscheint der ihm zufällige Einfluß der Umgebung mitgesetzt. Und so können wir sagen: die Malerei schildert das Jndi- viduelle der einzelnen Wesen und Kräfte in seinem freien Trieb, in seiner originalen Entwicklung, zugleich wie es die Einflüsse der Außenwelt absichtslos erfährt. 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Die Architektur kann ihm höch- stens im Ornamente einmal Raum geben; die Plastik schließt es von der klaren Bestimmtheit ihrer Gebilde aus; wie aber die Malerei nicht bloß das helle Tages- licht, sondern auch Dämmerung und Nacht wiedergibt, und dabei der Ahnung des Beschauers vieles überlassen muß, so erlaubt sie dem Künstler ein freieres Spiel mit den Formen der Natur, sobald er sich nur nicht in tolle Wesenlosigkeit und wirre Gespensterhaftigkeit verirrt und leere Fratzen schafft, sondern die tiefsinnige Jnnerlichkeit des Gemüths sich darin offenbart, wie bei Albrecht Dürer, oder das Maß und die Harmonie der Composition und der Adel des Styls das Einzelne wie- der dem besonnenen Geiste unterwirft, wie bei Kaul- bach. Auf dem verwandten Gebiete der Poesie wäre Shakespeare vor allen zu nennen, während unsere ro- mantische Schule sich häufig in gehaltlose Gaukeleien oder in wahnsinnigen Spuk verlor. 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Es setzt dabei die andern ma- teriellen Regionen voraus, aber weil es an ihrer Schwere nicht haftet und sich nur über ihnen und nachdem sie vollendet sind, entwickelt, so haben sie für dieses geistige Leben keine Bedeutung durch sich selbst, sondern nur durch ihren Schein, der Körper nicht wirklich, sondern nur durch seine Lichtwirkungen.“

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856, S. 1044. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt44_1856/12>, abgerufen am 23.11.2024.