Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

[Beginn Spaltensatz] verschiedene Geistesrichtung eines Phidias und Praxi-
teles zeigt sich nicht darin, daß Praxiteles einen andern
Zeus, eine andere Pallas bildete, die in ihrer Weise
den Werken des Phidias ebenbürtig wäre, sondern
darin, daß er einem andern Jdeal, dem der Aphrodite,
die vollendete Verkörperung verleiht. Michel Angelo
und Raphael haben beide Gott Vater gemalt, und in-
dem jeder seine Geisteseigenthümlichkeit im Bild aus-
prägte, stellte ihn jener im Sturm, dieser im Glanz
der aufgehenden Morgensonne dar. Es handelt sich in
der Malerei durchaus nicht bloß um den Gegenstand,
sondern um die Subjektivität des schaffenden Künstlers;
sein Geist, seine Empfindung soll das Bild abspiegeln,
denn er stellt die Welt dar, wie er auf seinem Stand-
punkt sie sieht. Selbst bei der Abzeichnung einer be-
stimmten Landschaft hat er die Aufgabe, den richtigen
Ort zu finden, von welchem aus sie sich wie von selbst
zum Bilde rundet, und es zeigt sich sein Naturgefühl
und sein malerisches Vermögen in dieser Wahl des
Standpunktes. Wie viel mehr gilt dieß bei Geschichts-
bildern, deren handelnde Persönlichkeiten erst von der
Phantasie geschaffen und zum Ganzen geordnet werden
müssen.

Wenn Kant die alte gewöhnliche Ansicht nicht theilte,
daß Raum und Zeit Wesenheiten für sich wären, in
denen sich die Dinge befänden wie in Behältern, wenn
er noch weniger den nichtigen Begriff eines leeren und
doch seyenden Raumes annehmen konnte, so ging er im
Gegensatz gegen solche Schiefheit oder Gedankenlosigkeit
dazu fort, Raum und Zeit nur für unsere Anschauungs-
formen zu halten, in die wir unsere Vorstellungsbilder
von der Welt versetzten, ohne daß sie den Dingen an
sich zukämen. Nun lehrt aber gleicherweise das freie
Denken wie die Beobachtung, daß alles Lebendige sich
entwickelt, das heißt einen Wechsel von Zuständen und
Veränderungen nach einander hervorbringt und erfährt,
also in seinem Werden die Zeitfolge seiner Entfaltung
erzeugt; sie lehren, daß alles Reale seine Selbstständig-
keit und eigene Wesenhaftigkeit dadurch erweist, daß
es sich von allem andern unterscheidet und sein Für-
sichseyn allem andern gegenüber als ein Undurchdring-
liches geltend macht, indem es sich eine eigenthümliche
Sphäre des Daseyns setzt und behauptet, das heißt,
indem es sich eine räumliche Existenz gibt, die innere
Bildungskraft in der Formung und Erfüllung dieses
seines Raums bewährt. Raum und Zeit sind also die
Grundanschauungen der Erkenntniß, weil sie die Grund-
formen aller Wirklichkeit sind. Die ewigen Jdeen,
das Geistige in Raum und Zeit zu offenbaren und
zur Erscheinung zu bringen, ist die Aufgabe der
Kunst. Dadurch führt sie in der That über Kants
[Spaltenumbruch] einseitige Subjektivitätslehre zu der eben erörterten Ein-
sicht und kann nur von ihr aus verstanden und gewür-
digt werden.

Zugleich aber widerlegt sich durch die Kunst einer
der verbreitetsten Jrrthümer, der jede richtige Einsicht
in die Natur und den Geist und deren Jneinanderwirken
geradezu unmöglich macht, und die Schuld trägt, wenn
ihm gegenüber der Materialismus selbst wieder in un-
seren Tagen sich ausbreiten konnte. Man meint näm-
lich Raum und Zeit auf die Körperwelt beschränken,
die Seele aber, und vornehmlich Gott, von ihnen aus-
schließen zu sollen. Aber dann ist die Seele nirgendwo
und nirgendwann, und ihre Existenz ist gleich der Got-
tes ein bloßer Name. Gott ist allerdings nicht von
Raum und Zeit beschränkt, sondern der allen Raum
und alle Zeit in der Entfaltung seiner Unendlichkeit
Setzende und Erfüllende; in ihm leben, weben und sind
wir, alle besonderen Wirklichkeiten, bewußte und un-
bewußte, geistige und leibliche, erstehen durch ihn und
aus ihm, er verleiht ihnen aus seiner Natur die
Kraft der Selbstgestaltung und Selbstentwicklung, wo-
durch sie ihren Raum und ihre Zeit sich hervorbrin-
gen und dadurch eben so gegen andere Wesen sich be-
grenzen, als von ihnen begrenzt werden. Die Seele ist
die leibbildende Lebenskraft, die in einem bestimmten
Raum sich verwirklicht, indem sie denselben formt und
in ihn, als in ihre Daseynssphäre, die ihr zum Aufbau
des Körpers dienlichen Stoffe hinein zieht und in dem
beständigen Wechsel dieser Stoffe sich fortwährend erhält
und sie als einheitliche Kraft durchwohnt und durch-
waltet, im Selbstgefühl dem ganzen Leibe gegenwärtig
ist und nicht irgendwo in ihm sitzt, sondern seine ganze
Ausdehnung beherrscht, umschreibt und erfüllt. Sie
bildet sich im Leibe das Organ ihrer Thätigkeit, sie
erwacht dadurch zum Selbstbewußtseyn und erbaut auf
der Grundlage dieser ihrer Realität die ideale Welt der
Gedanken, das Reich der Freiheit.

Die Plastik bildet den Typus der Verkörperung
der Seele in festem Material ab, die Malerei erfaßt
die einzelnen Seelenregungen, wie sie auch im flüch-
tigen Mienenspiel, und nicht sowohl im ruhigen Beste-
hen und in sich Beschlossenseyn, als in den einzelnen
Handlungen und Bewegungen sich offenbaren. Denn die
Malerei erfaßt nicht eine Jndividualität als eine Welt
für sich, sondern in ihrer Wechselwirkung mit andern
Jndividualitäten, in ihrem Zusammenhange mit der
Natur; äußere Einflüsse machen sich an ihr geltend und
stören jenes Beruhen auf sich selbst, indem sie die
Reaktion wach rufen oder eine gemeinsame Thätigkeit
veranlassen. Jn der Architektur ist alles durch das Gesetz
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] verschiedene Geistesrichtung eines Phidias und Praxi-
teles zeigt sich nicht darin, daß Praxiteles einen andern
Zeus, eine andere Pallas bildete, die in ihrer Weise
den Werken des Phidias ebenbürtig wäre, sondern
darin, daß er einem andern Jdeal, dem der Aphrodite,
die vollendete Verkörperung verleiht. Michel Angelo
und Raphael haben beide Gott Vater gemalt, und in-
dem jeder seine Geisteseigenthümlichkeit im Bild aus-
prägte, stellte ihn jener im Sturm, dieser im Glanz
der aufgehenden Morgensonne dar. Es handelt sich in
der Malerei durchaus nicht bloß um den Gegenstand,
sondern um die Subjektivität des schaffenden Künstlers;
sein Geist, seine Empfindung soll das Bild abspiegeln,
denn er stellt die Welt dar, wie er auf seinem Stand-
punkt sie sieht. Selbst bei der Abzeichnung einer be-
stimmten Landschaft hat er die Aufgabe, den richtigen
Ort zu finden, von welchem aus sie sich wie von selbst
zum Bilde rundet, und es zeigt sich sein Naturgefühl
und sein malerisches Vermögen in dieser Wahl des
Standpunktes. Wie viel mehr gilt dieß bei Geschichts-
bildern, deren handelnde Persönlichkeiten erst von der
Phantasie geschaffen und zum Ganzen geordnet werden
müssen.

Wenn Kant die alte gewöhnliche Ansicht nicht theilte,
daß Raum und Zeit Wesenheiten für sich wären, in
denen sich die Dinge befänden wie in Behältern, wenn
er noch weniger den nichtigen Begriff eines leeren und
doch seyenden Raumes annehmen konnte, so ging er im
Gegensatz gegen solche Schiefheit oder Gedankenlosigkeit
dazu fort, Raum und Zeit nur für unsere Anschauungs-
formen zu halten, in die wir unsere Vorstellungsbilder
von der Welt versetzten, ohne daß sie den Dingen an
sich zukämen. Nun lehrt aber gleicherweise das freie
Denken wie die Beobachtung, daß alles Lebendige sich
entwickelt, das heißt einen Wechsel von Zuständen und
Veränderungen nach einander hervorbringt und erfährt,
also in seinem Werden die Zeitfolge seiner Entfaltung
erzeugt; sie lehren, daß alles Reale seine Selbstständig-
keit und eigene Wesenhaftigkeit dadurch erweist, daß
es sich von allem andern unterscheidet und sein Für-
sichseyn allem andern gegenüber als ein Undurchdring-
liches geltend macht, indem es sich eine eigenthümliche
Sphäre des Daseyns setzt und behauptet, das heißt,
indem es sich eine räumliche Existenz gibt, die innere
Bildungskraft in der Formung und Erfüllung dieses
seines Raums bewährt. Raum und Zeit sind also die
Grundanschauungen der Erkenntniß, weil sie die Grund-
formen aller Wirklichkeit sind. Die ewigen Jdeen,
das Geistige in Raum und Zeit zu offenbaren und
zur Erscheinung zu bringen, ist die Aufgabe der
Kunst. Dadurch führt sie in der That über Kants
[Spaltenumbruch] einseitige Subjektivitätslehre zu der eben erörterten Ein-
sicht und kann nur von ihr aus verstanden und gewür-
digt werden.

Zugleich aber widerlegt sich durch die Kunst einer
der verbreitetsten Jrrthümer, der jede richtige Einsicht
in die Natur und den Geist und deren Jneinanderwirken
geradezu unmöglich macht, und die Schuld trägt, wenn
ihm gegenüber der Materialismus selbst wieder in un-
seren Tagen sich ausbreiten konnte. Man meint näm-
lich Raum und Zeit auf die Körperwelt beschränken,
die Seele aber, und vornehmlich Gott, von ihnen aus-
schließen zu sollen. Aber dann ist die Seele nirgendwo
und nirgendwann, und ihre Existenz ist gleich der Got-
tes ein bloßer Name. Gott ist allerdings nicht von
Raum und Zeit beschränkt, sondern der allen Raum
und alle Zeit in der Entfaltung seiner Unendlichkeit
Setzende und Erfüllende; in ihm leben, weben und sind
wir, alle besonderen Wirklichkeiten, bewußte und un-
bewußte, geistige und leibliche, erstehen durch ihn und
aus ihm, er verleiht ihnen aus seiner Natur die
Kraft der Selbstgestaltung und Selbstentwicklung, wo-
durch sie ihren Raum und ihre Zeit sich hervorbrin-
gen und dadurch eben so gegen andere Wesen sich be-
grenzen, als von ihnen begrenzt werden. Die Seele ist
die leibbildende Lebenskraft, die in einem bestimmten
Raum sich verwirklicht, indem sie denselben formt und
in ihn, als in ihre Daseynssphäre, die ihr zum Aufbau
des Körpers dienlichen Stoffe hinein zieht und in dem
beständigen Wechsel dieser Stoffe sich fortwährend erhält
und sie als einheitliche Kraft durchwohnt und durch-
waltet, im Selbstgefühl dem ganzen Leibe gegenwärtig
ist und nicht irgendwo in ihm sitzt, sondern seine ganze
Ausdehnung beherrscht, umschreibt und erfüllt. Sie
bildet sich im Leibe das Organ ihrer Thätigkeit, sie
erwacht dadurch zum Selbstbewußtseyn und erbaut auf
der Grundlage dieser ihrer Realität die ideale Welt der
Gedanken, das Reich der Freiheit.

Die Plastik bildet den Typus der Verkörperung
der Seele in festem Material ab, die Malerei erfaßt
die einzelnen Seelenregungen, wie sie auch im flüch-
tigen Mienenspiel, und nicht sowohl im ruhigen Beste-
hen und in sich Beschlossenseyn, als in den einzelnen
Handlungen und Bewegungen sich offenbaren. Denn die
Malerei erfaßt nicht eine Jndividualität als eine Welt
für sich, sondern in ihrer Wechselwirkung mit andern
Jndividualitäten, in ihrem Zusammenhange mit der
Natur; äußere Einflüsse machen sich an ihr geltend und
stören jenes Beruhen auf sich selbst, indem sie die
Reaktion wach rufen oder eine gemeinsame Thätigkeit
veranlassen. Jn der Architektur ist alles durch das Gesetz
[Ende Spaltensatz]

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <p><pb facs="#f0010" n="1042"/><fw type="pageNum" place="top">1042</fw><cb type="start"/>
verschiedene Geistesrichtung eines Phidias und Praxi-<lb/>
teles zeigt sich nicht darin, daß Praxiteles einen andern<lb/>
Zeus, eine andere Pallas bildete, die in ihrer Weise<lb/>
den Werken des Phidias ebenbürtig wäre, sondern<lb/>
darin, daß er einem andern Jdeal, dem der Aphrodite,<lb/>
die vollendete Verkörperung verleiht. Michel Angelo<lb/>
und Raphael haben beide Gott Vater gemalt, und in-<lb/>
dem jeder seine Geisteseigenthümlichkeit im Bild aus-<lb/>
prägte, stellte ihn jener im Sturm, dieser im Glanz<lb/>
der aufgehenden Morgensonne dar. Es handelt sich in<lb/>
der Malerei durchaus nicht bloß um den Gegenstand,<lb/>
sondern um die Subjektivität des schaffenden Künstlers;<lb/>
sein Geist, seine Empfindung soll das Bild abspiegeln,<lb/>
denn er stellt die Welt dar, wie er auf seinem Stand-<lb/>
punkt sie sieht. Selbst bei der Abzeichnung einer be-<lb/>
stimmten Landschaft hat er die Aufgabe, den richtigen<lb/>
Ort zu finden, von welchem aus sie sich wie von selbst<lb/>
zum Bilde rundet, und es zeigt sich sein Naturgefühl<lb/>
und sein malerisches Vermögen in dieser Wahl des<lb/>
Standpunktes. Wie viel mehr gilt dieß bei Geschichts-<lb/>
bildern, deren handelnde Persönlichkeiten erst von der<lb/>
Phantasie geschaffen und zum Ganzen geordnet werden<lb/>
müssen.</p><lb/>
        <p>Wenn Kant die alte gewöhnliche Ansicht nicht theilte,<lb/>
daß Raum und Zeit Wesenheiten für sich wären, in<lb/>
denen sich die Dinge befänden wie in Behältern, wenn<lb/>
er noch weniger den nichtigen Begriff eines leeren und<lb/>
doch seyenden Raumes annehmen konnte, so ging er im<lb/>
Gegensatz gegen solche Schiefheit oder Gedankenlosigkeit<lb/>
dazu fort, Raum und Zeit nur für unsere Anschauungs-<lb/>
formen zu halten, in die wir unsere Vorstellungsbilder<lb/>
von der Welt versetzten, ohne daß sie den Dingen an<lb/>
sich zukämen. Nun lehrt aber gleicherweise das freie<lb/>
Denken wie die Beobachtung, daß alles Lebendige sich<lb/>
entwickelt, das heißt einen Wechsel von Zuständen und<lb/>
Veränderungen nach einander hervorbringt und erfährt,<lb/>
also in seinem Werden die Zeitfolge seiner Entfaltung<lb/>
erzeugt; sie lehren, daß alles Reale seine Selbstständig-<lb/>
keit und eigene Wesenhaftigkeit dadurch erweist, daß<lb/>
es sich von allem andern unterscheidet und sein Für-<lb/>
sichseyn allem andern gegenüber als ein Undurchdring-<lb/>
liches geltend macht, indem es sich eine eigenthümliche<lb/>
Sphäre des Daseyns setzt und behauptet, das heißt,<lb/>
indem es sich eine räumliche Existenz gibt, die innere<lb/>
Bildungskraft in der Formung und Erfüllung dieses<lb/>
seines Raums bewährt. Raum und Zeit sind also die<lb/>
Grundanschauungen der Erkenntniß, weil sie die Grund-<lb/>
formen aller Wirklichkeit sind. Die ewigen Jdeen,<lb/>
das Geistige in Raum und Zeit zu offenbaren und<lb/>
zur Erscheinung zu bringen, ist die Aufgabe der<lb/>
Kunst. Dadurch führt sie in der That über Kants<lb/><cb n="2"/>
einseitige Subjektivitätslehre zu der eben erörterten Ein-<lb/>
sicht und kann nur von ihr aus verstanden und gewür-<lb/>
digt werden.</p><lb/>
        <p>Zugleich aber widerlegt sich durch die Kunst einer<lb/>
der verbreitetsten Jrrthümer, der jede richtige Einsicht<lb/>
in die Natur und den Geist und deren Jneinanderwirken<lb/>
geradezu unmöglich macht, und die Schuld trägt, wenn<lb/>
ihm gegenüber der Materialismus selbst wieder in un-<lb/>
seren Tagen sich ausbreiten konnte. Man meint näm-<lb/>
lich Raum und Zeit auf die Körperwelt beschränken,<lb/>
die Seele aber, und vornehmlich Gott, von ihnen aus-<lb/>
schließen zu sollen. Aber dann ist die Seele nirgendwo<lb/>
und nirgendwann, und ihre Existenz ist gleich der Got-<lb/>
tes ein bloßer Name. Gott ist allerdings nicht von<lb/>
Raum und Zeit beschränkt, sondern der allen Raum<lb/>
und alle Zeit in der Entfaltung seiner Unendlichkeit<lb/>
Setzende und Erfüllende; in ihm leben, weben und sind<lb/>
wir, alle besonderen Wirklichkeiten, bewußte und un-<lb/>
bewußte, geistige und leibliche, erstehen durch ihn und<lb/>
aus ihm, er verleiht ihnen aus seiner Natur die<lb/>
Kraft der Selbstgestaltung und Selbstentwicklung, wo-<lb/>
durch sie ihren Raum und ihre Zeit sich hervorbrin-<lb/>
gen und dadurch eben so gegen andere Wesen sich be-<lb/>
grenzen, als von ihnen begrenzt werden. Die Seele ist<lb/>
die leibbildende Lebenskraft, die in einem bestimmten<lb/>
Raum sich verwirklicht, indem sie denselben formt und<lb/>
in ihn, als in ihre Daseynssphäre, die ihr zum Aufbau<lb/>
des Körpers dienlichen Stoffe hinein zieht und in dem<lb/>
beständigen Wechsel dieser Stoffe sich fortwährend erhält<lb/>
und sie als einheitliche Kraft durchwohnt und durch-<lb/>
waltet, im Selbstgefühl dem ganzen Leibe gegenwärtig<lb/>
ist und nicht irgendwo in ihm sitzt, sondern seine ganze<lb/>
Ausdehnung beherrscht, umschreibt und erfüllt. Sie<lb/>
bildet sich im Leibe das Organ ihrer Thätigkeit, sie<lb/>
erwacht dadurch zum Selbstbewußtseyn und erbaut auf<lb/>
der Grundlage dieser ihrer Realität die ideale Welt der<lb/>
Gedanken, das Reich der Freiheit.</p><lb/>
        <p>Die Plastik bildet den Typus der Verkörperung<lb/>
der Seele in festem Material ab, die Malerei erfaßt<lb/>
die einzelnen Seelenregungen, wie sie auch im flüch-<lb/>
tigen Mienenspiel, und nicht sowohl im ruhigen Beste-<lb/>
hen und in sich Beschlossenseyn, als in den einzelnen<lb/>
Handlungen und Bewegungen sich offenbaren. Denn die<lb/>
Malerei erfaßt nicht eine Jndividualität als eine Welt<lb/>
für sich, sondern in ihrer Wechselwirkung mit andern<lb/>
Jndividualitäten, in ihrem Zusammenhange mit der<lb/>
Natur; äußere Einflüsse machen sich an ihr geltend und<lb/>
stören jenes Beruhen auf sich selbst, indem sie die<lb/>
Reaktion wach rufen oder eine gemeinsame Thätigkeit<lb/>
veranlassen. Jn der Architektur ist alles durch das Gesetz<lb/><cb type="end"/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1042/0010] 1042 verschiedene Geistesrichtung eines Phidias und Praxi- teles zeigt sich nicht darin, daß Praxiteles einen andern Zeus, eine andere Pallas bildete, die in ihrer Weise den Werken des Phidias ebenbürtig wäre, sondern darin, daß er einem andern Jdeal, dem der Aphrodite, die vollendete Verkörperung verleiht. Michel Angelo und Raphael haben beide Gott Vater gemalt, und in- dem jeder seine Geisteseigenthümlichkeit im Bild aus- prägte, stellte ihn jener im Sturm, dieser im Glanz der aufgehenden Morgensonne dar. Es handelt sich in der Malerei durchaus nicht bloß um den Gegenstand, sondern um die Subjektivität des schaffenden Künstlers; sein Geist, seine Empfindung soll das Bild abspiegeln, denn er stellt die Welt dar, wie er auf seinem Stand- punkt sie sieht. Selbst bei der Abzeichnung einer be- stimmten Landschaft hat er die Aufgabe, den richtigen Ort zu finden, von welchem aus sie sich wie von selbst zum Bilde rundet, und es zeigt sich sein Naturgefühl und sein malerisches Vermögen in dieser Wahl des Standpunktes. Wie viel mehr gilt dieß bei Geschichts- bildern, deren handelnde Persönlichkeiten erst von der Phantasie geschaffen und zum Ganzen geordnet werden müssen. Wenn Kant die alte gewöhnliche Ansicht nicht theilte, daß Raum und Zeit Wesenheiten für sich wären, in denen sich die Dinge befänden wie in Behältern, wenn er noch weniger den nichtigen Begriff eines leeren und doch seyenden Raumes annehmen konnte, so ging er im Gegensatz gegen solche Schiefheit oder Gedankenlosigkeit dazu fort, Raum und Zeit nur für unsere Anschauungs- formen zu halten, in die wir unsere Vorstellungsbilder von der Welt versetzten, ohne daß sie den Dingen an sich zukämen. Nun lehrt aber gleicherweise das freie Denken wie die Beobachtung, daß alles Lebendige sich entwickelt, das heißt einen Wechsel von Zuständen und Veränderungen nach einander hervorbringt und erfährt, also in seinem Werden die Zeitfolge seiner Entfaltung erzeugt; sie lehren, daß alles Reale seine Selbstständig- keit und eigene Wesenhaftigkeit dadurch erweist, daß es sich von allem andern unterscheidet und sein Für- sichseyn allem andern gegenüber als ein Undurchdring- liches geltend macht, indem es sich eine eigenthümliche Sphäre des Daseyns setzt und behauptet, das heißt, indem es sich eine räumliche Existenz gibt, die innere Bildungskraft in der Formung und Erfüllung dieses seines Raums bewährt. Raum und Zeit sind also die Grundanschauungen der Erkenntniß, weil sie die Grund- formen aller Wirklichkeit sind. Die ewigen Jdeen, das Geistige in Raum und Zeit zu offenbaren und zur Erscheinung zu bringen, ist die Aufgabe der Kunst. Dadurch führt sie in der That über Kants einseitige Subjektivitätslehre zu der eben erörterten Ein- sicht und kann nur von ihr aus verstanden und gewür- digt werden. Zugleich aber widerlegt sich durch die Kunst einer der verbreitetsten Jrrthümer, der jede richtige Einsicht in die Natur und den Geist und deren Jneinanderwirken geradezu unmöglich macht, und die Schuld trägt, wenn ihm gegenüber der Materialismus selbst wieder in un- seren Tagen sich ausbreiten konnte. Man meint näm- lich Raum und Zeit auf die Körperwelt beschränken, die Seele aber, und vornehmlich Gott, von ihnen aus- schließen zu sollen. Aber dann ist die Seele nirgendwo und nirgendwann, und ihre Existenz ist gleich der Got- tes ein bloßer Name. Gott ist allerdings nicht von Raum und Zeit beschränkt, sondern der allen Raum und alle Zeit in der Entfaltung seiner Unendlichkeit Setzende und Erfüllende; in ihm leben, weben und sind wir, alle besonderen Wirklichkeiten, bewußte und un- bewußte, geistige und leibliche, erstehen durch ihn und aus ihm, er verleiht ihnen aus seiner Natur die Kraft der Selbstgestaltung und Selbstentwicklung, wo- durch sie ihren Raum und ihre Zeit sich hervorbrin- gen und dadurch eben so gegen andere Wesen sich be- grenzen, als von ihnen begrenzt werden. Die Seele ist die leibbildende Lebenskraft, die in einem bestimmten Raum sich verwirklicht, indem sie denselben formt und in ihn, als in ihre Daseynssphäre, die ihr zum Aufbau des Körpers dienlichen Stoffe hinein zieht und in dem beständigen Wechsel dieser Stoffe sich fortwährend erhält und sie als einheitliche Kraft durchwohnt und durch- waltet, im Selbstgefühl dem ganzen Leibe gegenwärtig ist und nicht irgendwo in ihm sitzt, sondern seine ganze Ausdehnung beherrscht, umschreibt und erfüllt. Sie bildet sich im Leibe das Organ ihrer Thätigkeit, sie erwacht dadurch zum Selbstbewußtseyn und erbaut auf der Grundlage dieser ihrer Realität die ideale Welt der Gedanken, das Reich der Freiheit. Die Plastik bildet den Typus der Verkörperung der Seele in festem Material ab, die Malerei erfaßt die einzelnen Seelenregungen, wie sie auch im flüch- tigen Mienenspiel, und nicht sowohl im ruhigen Beste- hen und in sich Beschlossenseyn, als in den einzelnen Handlungen und Bewegungen sich offenbaren. Denn die Malerei erfaßt nicht eine Jndividualität als eine Welt für sich, sondern in ihrer Wechselwirkung mit andern Jndividualitäten, in ihrem Zusammenhange mit der Natur; äußere Einflüsse machen sich an ihr geltend und stören jenes Beruhen auf sich selbst, indem sie die Reaktion wach rufen oder eine gemeinsame Thätigkeit veranlassen. Jn der Architektur ist alles durch das Gesetz

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt44_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt44_1856/10
Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856, S. 1042. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt44_1856/10>, abgerufen am 18.06.2024.