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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 6. Stuttgart/Tübingen, 10. Februar 1856.

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[Beginn Spaltensatz] mühseligen, zu Pferde vollbrachten Reise kam er Abends
über Friedberg in Frankfurt an und wurde von Goethe
mit der wärmsten Liebe, von den Eltern. mit zuvorkom-
mender Gastfreundschaft aufgenommen.

Am folgenden Tage besuchte er Herrn von Lersner und
fand in ihm einen trefflichen Greis, voll Höflichkeit, Ge-
fälligkeit und aufgeklärter Religiosität. Seine Augen
wurden geschickt zur Operation gefunden. Nach mehreren
ärztlichen Vorbereitungen ward endlich der Staar auf bei-
den Augen gestochen. Es hieß, der Patient habe nach der
Operation sogleich gesehen, bis der nöthige Verband das
Licht wieder abgehalten. Das Gerücht erscholl durch die
ganze Stadt, mehrere Personen aus und um Frankfurt
ließen sich operiren; sieben an der Zahl wurden sehend.
Allein Goethe bemerkte, daß Jung nicht heiter war und
daß ihm etwas auf dem Herzen liegen müsse. Auf freund-
liches Nachforschen bekannte er dann, er sey wegen des
Ausgangs seiner Hauptoperation in Sorgen. Den grauen
Staar durch den Hornhautschnitt zu operiren, war da-
mals noch die gewöhnliche Methode. Man kannte oder
übte weder die Depression noch die Zerstückelung der ver-
dunkelten Linse. Goethe hatte die Operation in Straß-
burg mehrmals gesehen. Gewöhnlich schien nichts leichter
zu seyn, wie sie denn auch Stilling hundertmal gelun-
gen war. Nach vollbrachtem schmerzlosem Schnitt durch
die unempfindliche Hornhaut sprang beim gelindesten Druck
die Linse von selbst heraus. Der Patient erblickte sogleich
die Gegenstände und mußte sich nun mit verbundenen
Augen gedulden, bis eine den Umständen angemessene Be-
handlung ihm erlaubte, sich des wiedergeschenkten Organs
nach Willen und Bequemlichkeit zu bedienen. Wie man-
cher Arme, dem Jung dieses Glück verschafft, wünschte
dem beglückenden Augenarzte Gottes Segen und Beloh-
nung, die jezt durch diesen reichen Mann abgetragen
werden sollte! -- Stilling bekannte nun Goethe, dieses
mal sey es so leicht und glücklich nicht hergegangen; die
Linse sey nicht herausgesprungen. Er habe sie holen und
zwar, weil sie angewachsen, ablösen müssen, und dieß sev
nicht ohne einige Gewalt abgegangen. Nun machte er
sich Vorwürfe, auch das andere Auge sogleich operirt zu
haben; allein man habe sich nun einmal fest vorgenommen
gehabt, beide Augen zugleich vorzunehmen. An einen
solchen Zufall habe man nicht gedacht, und da er einge-
treten, sich nicht sogleich gefaßt und besonnen. Genug,
auch die zweite Linse kam nicht von selbst, sie mußte
ebenfalls künstlich abgelöst und herausgeholt werden. --
Zwischen Furcht und Hoffnung vergingen nun einige
Tage. Mehrere Aerzte unterstüzten Stilling in seiner
Nachbehandlung. Alles vergebens. Die Augen des reichen
Mannes entzündeten sich; eine unheilbare Blindheit schlug
jede Hoffnung nieder.

Da glaubte Stilling vergehen zu müssen. Nicht nur
zog sich Alles von dem Armen in seinem Unglück zurück,
er selbst begann an sich, an seiner Kunst zu verzweifeln;
er verlor sich selbst. Nur Goethe und dessen Eltern such-
[Spaltenumbruch] ten ihn aufzurichten. Selbst Lersner tröstete den tiefge-
beugten über die verunglückte Cur, die allerdings eine
Reihe betrübter Auftritte im Goethe'schen Hause nach
sich zog. Goethe, seine Eltern, der arme Stilling spielten
jezt das unerfreuliche Drama Hiobs von Anfang bis zu
Ende durch, mit dem Unterschied, daß der leztere die
Rolle der scheltenden Freunde selbst übernahm. Gewohnt,
alles was ihm in seinem Leben wiederfuhr, der Einwir-
kung einer höheren Hand zuzuschreiben, wollte er diesen
Vorfall als Strafe bisheriger Fehler ansehen, und wie
man sich auch verständigen mochte, immer kam man doch
zulezt auf das vernünftige nothwendige Resultat, Gottes
Rathschlüsse seyen unerforschlich. Wie drückend es für
Jung in diesem Gemüthszustande war, nach so uner-
wünschtem Erfolg die vorher bedungenen tausend Gulden
zu empfangen, war allen klar. Jndessen sollte diese
Summe bei seiner Rückkehr einen Theil der Schulden
tilgen, die von früheren traurigen Zuständen her auf ihm
lasteten. Trostlos schied er von Goethe und dessen Hause;
nur das felsenfeste Vertrauen auf Gott hielt den Tiefge-
beugten aufrecht. Man kann sich aber vorstellen, in
welcher trüben Stimmung Jung = Stilling die Seinigen
wieder sah und zu seinen gewöhnlichen Geschäften zurück-
kehrte. -- Jm folgenden Sommer erhielt er einen Brief von
Lersners Hausarzt, worin ihm dieser rieth, seinem guten
Rufe dadurch die Krone aufzusetzen, daß er aus freien
Stücken Herrn von Lersner noch einmal besuchte um, da
dieser seine unheilbare Blindheit sehr schwer empfinde, die
Augen noch einmal zu untersuchen und alles mögliche auf-
zubieten. Wider den Rath seiner Freunde, bloß seinem
besseren Selbst folgend, unternahm er noch einmal die
Reise, zu der er hundert Thaler von einem Freund leihen
mußte, und kehrte wieder bei Goethe ein. Lersner ward
durch diesen unerwarteten Besuch sehr gerührt. Jndessen
konnte an seinen Augen nichts mehr unternommen werden.
Mehrere Patienten fanden sich wiederum ein, die Stilling
mit verschiedenem Erfolg operirte. So verflossen ihm acht
traurige Wochen in Frankfurt.

Wieder nach Elberfeld zurückgekehrt, setzte Stilling
sein gewöhnliches sorgenvolles Leben fort. Jm Früh-
ling des folgenden Jahrs mußte er eine andere Wohnung
beziehen. Bisher hatte er seine Hausmiethe, siebzig
Reichsthaler, richtig bezahlen können; jezt war aber kein
Heller dazu vorräthig. Und doch durfte er nach dem Ge-
setze nicht eher ausziehen, als bis die Miethe abgetragen
war. Vom äußersten Kummer gedrückt, ging er zu sei-
nem Hausherrn, ihn um Geduld anzusprechen. Dieser,
ein redlicher aber strenger und genauer Kaufmann, sagte
ihm nach einigem Bedenken: "Ziehen Sie in Gottes Na-
men, aber unter der Bedingung, in vierzehn Tagen zu
zahlen." -- Jm festen Vertrauen auf Gott versprach es
Stilling, zog in seine neue Wohnung, deren bequemere
Einrichtung nebst der Aussicht in Gottes sreie Natur ihn hei-
terer würde gestimmt haben, hätte sich nicht das Ende der
vierzehn Tage genähert, ohne die geringste Aussicht, die
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] mühseligen, zu Pferde vollbrachten Reise kam er Abends
über Friedberg in Frankfurt an und wurde von Goethe
mit der wärmsten Liebe, von den Eltern. mit zuvorkom-
mender Gastfreundschaft aufgenommen.

Am folgenden Tage besuchte er Herrn von Lersner und
fand in ihm einen trefflichen Greis, voll Höflichkeit, Ge-
fälligkeit und aufgeklärter Religiosität. Seine Augen
wurden geschickt zur Operation gefunden. Nach mehreren
ärztlichen Vorbereitungen ward endlich der Staar auf bei-
den Augen gestochen. Es hieß, der Patient habe nach der
Operation sogleich gesehen, bis der nöthige Verband das
Licht wieder abgehalten. Das Gerücht erscholl durch die
ganze Stadt, mehrere Personen aus und um Frankfurt
ließen sich operiren; sieben an der Zahl wurden sehend.
Allein Goethe bemerkte, daß Jung nicht heiter war und
daß ihm etwas auf dem Herzen liegen müsse. Auf freund-
liches Nachforschen bekannte er dann, er sey wegen des
Ausgangs seiner Hauptoperation in Sorgen. Den grauen
Staar durch den Hornhautschnitt zu operiren, war da-
mals noch die gewöhnliche Methode. Man kannte oder
übte weder die Depression noch die Zerstückelung der ver-
dunkelten Linse. Goethe hatte die Operation in Straß-
burg mehrmals gesehen. Gewöhnlich schien nichts leichter
zu seyn, wie sie denn auch Stilling hundertmal gelun-
gen war. Nach vollbrachtem schmerzlosem Schnitt durch
die unempfindliche Hornhaut sprang beim gelindesten Druck
die Linse von selbst heraus. Der Patient erblickte sogleich
die Gegenstände und mußte sich nun mit verbundenen
Augen gedulden, bis eine den Umständen angemessene Be-
handlung ihm erlaubte, sich des wiedergeschenkten Organs
nach Willen und Bequemlichkeit zu bedienen. Wie man-
cher Arme, dem Jung dieses Glück verschafft, wünschte
dem beglückenden Augenarzte Gottes Segen und Beloh-
nung, die jezt durch diesen reichen Mann abgetragen
werden sollte! — Stilling bekannte nun Goethe, dieses
mal sey es so leicht und glücklich nicht hergegangen; die
Linse sey nicht herausgesprungen. Er habe sie holen und
zwar, weil sie angewachsen, ablösen müssen, und dieß sev
nicht ohne einige Gewalt abgegangen. Nun machte er
sich Vorwürfe, auch das andere Auge sogleich operirt zu
haben; allein man habe sich nun einmal fest vorgenommen
gehabt, beide Augen zugleich vorzunehmen. An einen
solchen Zufall habe man nicht gedacht, und da er einge-
treten, sich nicht sogleich gefaßt und besonnen. Genug,
auch die zweite Linse kam nicht von selbst, sie mußte
ebenfalls künstlich abgelöst und herausgeholt werden. —
Zwischen Furcht und Hoffnung vergingen nun einige
Tage. Mehrere Aerzte unterstüzten Stilling in seiner
Nachbehandlung. Alles vergebens. Die Augen des reichen
Mannes entzündeten sich; eine unheilbare Blindheit schlug
jede Hoffnung nieder.

Da glaubte Stilling vergehen zu müssen. Nicht nur
zog sich Alles von dem Armen in seinem Unglück zurück,
er selbst begann an sich, an seiner Kunst zu verzweifeln;
er verlor sich selbst. Nur Goethe und dessen Eltern such-
[Spaltenumbruch] ten ihn aufzurichten. Selbst Lersner tröstete den tiefge-
beugten über die verunglückte Cur, die allerdings eine
Reihe betrübter Auftritte im Goethe'schen Hause nach
sich zog. Goethe, seine Eltern, der arme Stilling spielten
jezt das unerfreuliche Drama Hiobs von Anfang bis zu
Ende durch, mit dem Unterschied, daß der leztere die
Rolle der scheltenden Freunde selbst übernahm. Gewohnt,
alles was ihm in seinem Leben wiederfuhr, der Einwir-
kung einer höheren Hand zuzuschreiben, wollte er diesen
Vorfall als Strafe bisheriger Fehler ansehen, und wie
man sich auch verständigen mochte, immer kam man doch
zulezt auf das vernünftige nothwendige Resultat, Gottes
Rathschlüsse seyen unerforschlich. Wie drückend es für
Jung in diesem Gemüthszustande war, nach so uner-
wünschtem Erfolg die vorher bedungenen tausend Gulden
zu empfangen, war allen klar. Jndessen sollte diese
Summe bei seiner Rückkehr einen Theil der Schulden
tilgen, die von früheren traurigen Zuständen her auf ihm
lasteten. Trostlos schied er von Goethe und dessen Hause;
nur das felsenfeste Vertrauen auf Gott hielt den Tiefge-
beugten aufrecht. Man kann sich aber vorstellen, in
welcher trüben Stimmung Jung = Stilling die Seinigen
wieder sah und zu seinen gewöhnlichen Geschäften zurück-
kehrte. — Jm folgenden Sommer erhielt er einen Brief von
Lersners Hausarzt, worin ihm dieser rieth, seinem guten
Rufe dadurch die Krone aufzusetzen, daß er aus freien
Stücken Herrn von Lersner noch einmal besuchte um, da
dieser seine unheilbare Blindheit sehr schwer empfinde, die
Augen noch einmal zu untersuchen und alles mögliche auf-
zubieten. Wider den Rath seiner Freunde, bloß seinem
besseren Selbst folgend, unternahm er noch einmal die
Reise, zu der er hundert Thaler von einem Freund leihen
mußte, und kehrte wieder bei Goethe ein. Lersner ward
durch diesen unerwarteten Besuch sehr gerührt. Jndessen
konnte an seinen Augen nichts mehr unternommen werden.
Mehrere Patienten fanden sich wiederum ein, die Stilling
mit verschiedenem Erfolg operirte. So verflossen ihm acht
traurige Wochen in Frankfurt.

Wieder nach Elberfeld zurückgekehrt, setzte Stilling
sein gewöhnliches sorgenvolles Leben fort. Jm Früh-
ling des folgenden Jahrs mußte er eine andere Wohnung
beziehen. Bisher hatte er seine Hausmiethe, siebzig
Reichsthaler, richtig bezahlen können; jezt war aber kein
Heller dazu vorräthig. Und doch durfte er nach dem Ge-
setze nicht eher ausziehen, als bis die Miethe abgetragen
war. Vom äußersten Kummer gedrückt, ging er zu sei-
nem Hausherrn, ihn um Geduld anzusprechen. Dieser,
ein redlicher aber strenger und genauer Kaufmann, sagte
ihm nach einigem Bedenken: „Ziehen Sie in Gottes Na-
men, aber unter der Bedingung, in vierzehn Tagen zu
zahlen.“ — Jm festen Vertrauen auf Gott versprach es
Stilling, zog in seine neue Wohnung, deren bequemere
Einrichtung nebst der Aussicht in Gottes sreie Natur ihn hei-
terer würde gestimmt haben, hätte sich nicht das Ende der
vierzehn Tage genähert, ohne die geringste Aussicht, die
[Ende Spaltensatz]

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Den grauen Staar durch den Hornhautschnitt zu operiren, war da- mals noch die gewöhnliche Methode. Man kannte oder übte weder die Depression noch die Zerstückelung der ver- dunkelten Linse. Goethe hatte die Operation in Straß- burg mehrmals gesehen. Gewöhnlich schien nichts leichter zu seyn, wie sie denn auch Stilling hundertmal gelun- gen war. Nach vollbrachtem schmerzlosem Schnitt durch die unempfindliche Hornhaut sprang beim gelindesten Druck die Linse von selbst heraus. Der Patient erblickte sogleich die Gegenstände und mußte sich nun mit verbundenen Augen gedulden, bis eine den Umständen angemessene Be- handlung ihm erlaubte, sich des wiedergeschenkten Organs nach Willen und Bequemlichkeit zu bedienen. 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Die Augen des reichen Mannes entzündeten sich; eine unheilbare Blindheit schlug jede Hoffnung nieder. Da glaubte Stilling vergehen zu müssen. Nicht nur zog sich Alles von dem Armen in seinem Unglück zurück, er selbst begann an sich, an seiner Kunst zu verzweifeln; er verlor sich selbst. Nur Goethe und dessen Eltern such- ten ihn aufzurichten. Selbst Lersner tröstete den tiefge- beugten über die verunglückte Cur, die allerdings eine Reihe betrübter Auftritte im Goethe'schen Hause nach sich zog. Goethe, seine Eltern, der arme Stilling spielten jezt das unerfreuliche Drama Hiobs von Anfang bis zu Ende durch, mit dem Unterschied, daß der leztere die Rolle der scheltenden Freunde selbst übernahm. 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Man kann sich aber vorstellen, in welcher trüben Stimmung Jung = Stilling die Seinigen wieder sah und zu seinen gewöhnlichen Geschäften zurück- kehrte. — Jm folgenden Sommer erhielt er einen Brief von Lersners Hausarzt, worin ihm dieser rieth, seinem guten Rufe dadurch die Krone aufzusetzen, daß er aus freien Stücken Herrn von Lersner noch einmal besuchte um, da dieser seine unheilbare Blindheit sehr schwer empfinde, die Augen noch einmal zu untersuchen und alles mögliche auf- zubieten. Wider den Rath seiner Freunde, bloß seinem besseren Selbst folgend, unternahm er noch einmal die Reise, zu der er hundert Thaler von einem Freund leihen mußte, und kehrte wieder bei Goethe ein. Lersner ward durch diesen unerwarteten Besuch sehr gerührt. Jndessen konnte an seinen Augen nichts mehr unternommen werden. Mehrere Patienten fanden sich wiederum ein, die Stilling mit verschiedenem Erfolg operirte. So verflossen ihm acht traurige Wochen in Frankfurt. Wieder nach Elberfeld zurückgekehrt, setzte Stilling sein gewöhnliches sorgenvolles Leben fort. Jm Früh- ling des folgenden Jahrs mußte er eine andere Wohnung beziehen. Bisher hatte er seine Hausmiethe, siebzig Reichsthaler, richtig bezahlen können; jezt war aber kein Heller dazu vorräthig. Und doch durfte er nach dem Ge- setze nicht eher ausziehen, als bis die Miethe abgetragen war. Vom äußersten Kummer gedrückt, ging er zu sei- nem Hausherrn, ihn um Geduld anzusprechen. Dieser, ein redlicher aber strenger und genauer Kaufmann, sagte ihm nach einigem Bedenken: „Ziehen Sie in Gottes Na- men, aber unter der Bedingung, in vierzehn Tagen zu zahlen.“ — Jm festen Vertrauen auf Gott versprach es Stilling, zog in seine neue Wohnung, deren bequemere Einrichtung nebst der Aussicht in Gottes sreie Natur ihn hei- terer würde gestimmt haben, hätte sich nicht das Ende der vierzehn Tage genähert, ohne die geringste Aussicht, die

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 6. Stuttgart/Tübingen, 10. Februar 1856, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt06_1856/23>, abgerufen am 22.11.2024.