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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 6. Stuttgart/Tübingen, 10. Februar 1856.

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[Beginn Spaltensatz] disputirte Stilling mit Ruhm und Ehre unter Spiel-
manns Dekanat, der ihn mit den größten Lobsprüchen zum
Doktor creirte. Tiefgerührt stand der Redliche auf dem
Katheder. Seine Seele erhob sich lauten Dankes voll zu
dem, der ihn aus dem Staube gezogen und nach so vielen
Prüfungen zu einem Berufe hatte gelangen lassen, zu
dem ihn sein Herz schon lange gezogen, und worin er sei-
nem innern Triebe gemäß Gott zu Ehren und seinen Näch-
sten zu Nutzen leben und sterben konnte. Am 21. März
1772 verließ er Straßburg und kam am 5. April zu
Ronsdorf an. Seine Christine empfing ihn unter Thrä-
nen und lautem Dankgebet zu Gott, der ihnen bisher so
wundersam geholfen. Am 1. Mai 1772 zog er mit seiner
Frau nach Elberfeld in das für ihn bestimmte Haus und
begann freudig seinen Beruf.

Goethe weilte indessen in Wetzlar. Seine strebsame
Jugend vermochte kaum den übeln Eindruck zu verwinden,
den der schleppende Gang des Visitationsgeschäfts bei dem
dortigen Reichskammergericht in ihm heraufbeschwor. Aber
schon begannen zwei große Stoffe der alten und neuen
Zeit sich seiner zu bemächtigen, Götz und Werther, letzterer
einer Liebe entsprungen, der er sich männlich selbst entriß,
um in Frankfurt nach des Vaters Wunsch den einförmi-
gen Lauf eines Advokaten zu beginnen.

Stillings häusliches Leben war gar vielen Wechsel-
fällen und Nahrungssorgen unterworfen. Eines Morgens
wurde er in einen Gasthof gerufen, wo ein fremder Patient
sich seinen Rath ausbat. Jn das Zimmer des Kranken geführt,
fand er diesen mit einem dicken Tuche um den Hals, den
Kopf tief in Tücher gewickelt. Der Fremde streckte die
Hand aus dem Bette und sagte mit dumpfer, schwacher
Stimme: "Herr Doktor, fühlen Sie mir einmal den Puls,
ich bin gar krank und schwach!" -- Stilling that dieses,
fand aber den Puls sehr regelmäßig und gesund und er-
klärte dieses auch dem vermeintlichen Kranken. Kaum
hatte er ausgesprochen, so hing auch Goethe an seinem
Halse. Stillings Freude war unbeschreiblich.

Goethe's Veranlassung zu dieser Reise war folgende.
Lavater, der um diese Zeit durch seine Frömmigkeit wie
durch seine Phystognomik sich einer großen Celebrität er-
freute, besuchte von Frankfurt aus zunächst Ems, dann
den Rhein. Jhn begleitete Goethe, der zwischen ihm,
dem von innen und außen reinlichen Gottseligen, und dem
cynisch freigeistigen Pädagogen Basedow die Reise machte,
die sich in seinem Leben durch die humoristische Erzählung
und die bekannten Verse auszeichnet:

" Wie nach Emmaus weiter ging's
Jn Sturm und Feuerschritten;
Prophete rechts, Prophete links,
Das Weltkind in der Mitten."

Jn Elberfeld lernte nun Stilling ebenfalls jenen merk-
würdigen Mann kennen, der so viel Gleichgestimmtes mit
ihm hatte. Beide verstanden einander und Jungs Schat-
[Spaltenumbruch] tenriß wurde seiner physiognomischen Sammlung einver-
leibt. Lavater war bei einem bekannten, sehr religiösen
Kaufmann eingekehrt. Niemals hatte sich wohl eine selt-
samer gemischte Gesellschaft als hier um den eirunden Tisch
des Hausherrn zusammengefunden. Nur Goethe konnte
nicht sitzen; er tanzte um den Tisch her, schnitt Gesichter
und zeigte nach seiner Art, wie königlich ihn der bunt-
gemischte Kreis amüsire. Die armen Elberfelder, an ein
so excentrisches Wesen nicht gewöhnt, meinten, der junge
Mann müsse nicht richtig im Kopfe seyn; Stilling aber
und seine Reisegefährten, die seine Weise schon sattsam
kannten, wollten sich vor Lachen ausschütten, wenn ihn
einer oder der andere mit starren, bemitleidenden Blicken
ansah und er denselben mit seinen großen blitzenden Au-
gen niederschmetterte. Hier war es auch, wo Goethe den
Aufsatz von Stillings Lebensgeschichte mitnahm, um ihn
zu Hause mit Muße lesen zu können. Wir werden sehen,
daß dieser Umstand Stilling später vom ersprießlichsten
Nutzen ward.

Nicht so fröhlich waren die Verhältnisse, unter denen
sich die beiden Freunde zu Anfang des Jahres 1775 in
Goethes Vaterstadt wiederfinden sollten. Jung = Stilling
hatte seit mehreren Jahren mit gutem Muth und from-
mem Selbstvertrauen viele Staaroperationen am Nieder-
rhein gemacht und sich dadurch einen ausgezeichneten Ruf
erworben. Redlichkeit, reine Gotteofurcht und Zuverlässig-
keit des Charakters erwarben ihm allgemeines Zutrauen,
das sich durch den Weg vielfacher Handelsverbindungen
stromaufwärts verbreitete. Diese Kunde gelangte auch zu
den Ohren des Oberhofmeisters von Lersner, eines edeln
Frankfurter Patriciers, der seit längeren Jahren am grauen
Staare litt. Nach dem Urtheile seines Arztes und anderer
Kunstgenossen war eine Operation im Stande dem Blin-
den das Tageslicht wieder zu geben. Lersner, alt, blind
und schwächlich, konnte die Reise nach Stillings Wohnort
nicht unternehmen; man machte daher diesem den Vorschlag
nach Frankfurt zu kommen, versprach ihm auch, die Kur
möge gelingen oder nicht, tausend Gulden. Diese Summe
strahlte dem armen, durch bedeutende Schulden gedrängten
Manne gewaltig in die Augen. Frau, Schwiegereltern,
Freunde riethen mit wenigen Ausnahmen zu dieser vielver-
sprechenden Reise. Dazu gesellte sich der innere Trieb, diesen
Ruf der Vorsehung zur Verbesserung seiner Glücksumstände
zu benützen. Stilling bereitete sich zur Reise nach Frank-
furt vor, sagte Herrn von Lersner zu und meldete Goethe,
der im Jahr 1775 noch bei seinen Eltern wohnte, seine
baldige Ankunft. Goethe freute sich innig, Stilling auf
einige Zeit bei sich zu haben. Mit gewohnter Gastfreund-
schaft boten ihm seine Eltern während der Zeit seines
Aufenthalts den Tisch an und mietheten ihm ein hübsches
Zimmer in der Nachbarschaft. Auch ließ Goethe eine
Nachricht über Stillings baldige Ankunft in Frankfurt in
die dortige Zeitung einrücken. Stillings wenige Freunde
freuten sich und hofften, andere sorgten, die meisten
wünschten, er möchte zu Schanden werden. Nach einer
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] disputirte Stilling mit Ruhm und Ehre unter Spiel-
manns Dekanat, der ihn mit den größten Lobsprüchen zum
Doktor creirte. Tiefgerührt stand der Redliche auf dem
Katheder. Seine Seele erhob sich lauten Dankes voll zu
dem, der ihn aus dem Staube gezogen und nach so vielen
Prüfungen zu einem Berufe hatte gelangen lassen, zu
dem ihn sein Herz schon lange gezogen, und worin er sei-
nem innern Triebe gemäß Gott zu Ehren und seinen Näch-
sten zu Nutzen leben und sterben konnte. Am 21. März
1772 verließ er Straßburg und kam am 5. April zu
Ronsdorf an. Seine Christine empfing ihn unter Thrä-
nen und lautem Dankgebet zu Gott, der ihnen bisher so
wundersam geholfen. Am 1. Mai 1772 zog er mit seiner
Frau nach Elberfeld in das für ihn bestimmte Haus und
begann freudig seinen Beruf.

Goethe weilte indessen in Wetzlar. Seine strebsame
Jugend vermochte kaum den übeln Eindruck zu verwinden,
den der schleppende Gang des Visitationsgeschäfts bei dem
dortigen Reichskammergericht in ihm heraufbeschwor. Aber
schon begannen zwei große Stoffe der alten und neuen
Zeit sich seiner zu bemächtigen, Götz und Werther, letzterer
einer Liebe entsprungen, der er sich männlich selbst entriß,
um in Frankfurt nach des Vaters Wunsch den einförmi-
gen Lauf eines Advokaten zu beginnen.

Stillings häusliches Leben war gar vielen Wechsel-
fällen und Nahrungssorgen unterworfen. Eines Morgens
wurde er in einen Gasthof gerufen, wo ein fremder Patient
sich seinen Rath ausbat. Jn das Zimmer des Kranken geführt,
fand er diesen mit einem dicken Tuche um den Hals, den
Kopf tief in Tücher gewickelt. Der Fremde streckte die
Hand aus dem Bette und sagte mit dumpfer, schwacher
Stimme: „Herr Doktor, fühlen Sie mir einmal den Puls,
ich bin gar krank und schwach!“ — Stilling that dieses,
fand aber den Puls sehr regelmäßig und gesund und er-
klärte dieses auch dem vermeintlichen Kranken. Kaum
hatte er ausgesprochen, so hing auch Goethe an seinem
Halse. Stillings Freude war unbeschreiblich.

Goethe's Veranlassung zu dieser Reise war folgende.
Lavater, der um diese Zeit durch seine Frömmigkeit wie
durch seine Phystognomik sich einer großen Celebrität er-
freute, besuchte von Frankfurt aus zunächst Ems, dann
den Rhein. Jhn begleitete Goethe, der zwischen ihm,
dem von innen und außen reinlichen Gottseligen, und dem
cynisch freigeistigen Pädagogen Basedow die Reise machte,
die sich in seinem Leben durch die humoristische Erzählung
und die bekannten Verse auszeichnet:

„ Wie nach Emmaus weiter ging's
Jn Sturm und Feuerschritten;
Prophete rechts, Prophete links,
Das Weltkind in der Mitten.“

Jn Elberfeld lernte nun Stilling ebenfalls jenen merk-
würdigen Mann kennen, der so viel Gleichgestimmtes mit
ihm hatte. Beide verstanden einander und Jungs Schat-
[Spaltenumbruch] tenriß wurde seiner physiognomischen Sammlung einver-
leibt. Lavater war bei einem bekannten, sehr religiösen
Kaufmann eingekehrt. Niemals hatte sich wohl eine selt-
samer gemischte Gesellschaft als hier um den eirunden Tisch
des Hausherrn zusammengefunden. Nur Goethe konnte
nicht sitzen; er tanzte um den Tisch her, schnitt Gesichter
und zeigte nach seiner Art, wie königlich ihn der bunt-
gemischte Kreis amüsire. Die armen Elberfelder, an ein
so excentrisches Wesen nicht gewöhnt, meinten, der junge
Mann müsse nicht richtig im Kopfe seyn; Stilling aber
und seine Reisegefährten, die seine Weise schon sattsam
kannten, wollten sich vor Lachen ausschütten, wenn ihn
einer oder der andere mit starren, bemitleidenden Blicken
ansah und er denselben mit seinen großen blitzenden Au-
gen niederschmetterte. Hier war es auch, wo Goethe den
Aufsatz von Stillings Lebensgeschichte mitnahm, um ihn
zu Hause mit Muße lesen zu können. Wir werden sehen,
daß dieser Umstand Stilling später vom ersprießlichsten
Nutzen ward.

Nicht so fröhlich waren die Verhältnisse, unter denen
sich die beiden Freunde zu Anfang des Jahres 1775 in
Goethes Vaterstadt wiederfinden sollten. Jung = Stilling
hatte seit mehreren Jahren mit gutem Muth und from-
mem Selbstvertrauen viele Staaroperationen am Nieder-
rhein gemacht und sich dadurch einen ausgezeichneten Ruf
erworben. Redlichkeit, reine Gotteofurcht und Zuverlässig-
keit des Charakters erwarben ihm allgemeines Zutrauen,
das sich durch den Weg vielfacher Handelsverbindungen
stromaufwärts verbreitete. Diese Kunde gelangte auch zu
den Ohren des Oberhofmeisters von Lersner, eines edeln
Frankfurter Patriciers, der seit längeren Jahren am grauen
Staare litt. Nach dem Urtheile seines Arztes und anderer
Kunstgenossen war eine Operation im Stande dem Blin-
den das Tageslicht wieder zu geben. Lersner, alt, blind
und schwächlich, konnte die Reise nach Stillings Wohnort
nicht unternehmen; man machte daher diesem den Vorschlag
nach Frankfurt zu kommen, versprach ihm auch, die Kur
möge gelingen oder nicht, tausend Gulden. Diese Summe
strahlte dem armen, durch bedeutende Schulden gedrängten
Manne gewaltig in die Augen. Frau, Schwiegereltern,
Freunde riethen mit wenigen Ausnahmen zu dieser vielver-
sprechenden Reise. Dazu gesellte sich der innere Trieb, diesen
Ruf der Vorsehung zur Verbesserung seiner Glücksumstände
zu benützen. Stilling bereitete sich zur Reise nach Frank-
furt vor, sagte Herrn von Lersner zu und meldete Goethe,
der im Jahr 1775 noch bei seinen Eltern wohnte, seine
baldige Ankunft. Goethe freute sich innig, Stilling auf
einige Zeit bei sich zu haben. Mit gewohnter Gastfreund-
schaft boten ihm seine Eltern während der Zeit seines
Aufenthalts den Tisch an und mietheten ihm ein hübsches
Zimmer in der Nachbarschaft. Auch ließ Goethe eine
Nachricht über Stillings baldige Ankunft in Frankfurt in
die dortige Zeitung einrücken. Stillings wenige Freunde
freuten sich und hofften, andere sorgten, die meisten
wünschten, er möchte zu Schanden werden. Nach einer
[Ende Spaltensatz]

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[142/0022] 142 disputirte Stilling mit Ruhm und Ehre unter Spiel- manns Dekanat, der ihn mit den größten Lobsprüchen zum Doktor creirte. Tiefgerührt stand der Redliche auf dem Katheder. Seine Seele erhob sich lauten Dankes voll zu dem, der ihn aus dem Staube gezogen und nach so vielen Prüfungen zu einem Berufe hatte gelangen lassen, zu dem ihn sein Herz schon lange gezogen, und worin er sei- nem innern Triebe gemäß Gott zu Ehren und seinen Näch- sten zu Nutzen leben und sterben konnte. Am 21. März 1772 verließ er Straßburg und kam am 5. April zu Ronsdorf an. Seine Christine empfing ihn unter Thrä- nen und lautem Dankgebet zu Gott, der ihnen bisher so wundersam geholfen. Am 1. Mai 1772 zog er mit seiner Frau nach Elberfeld in das für ihn bestimmte Haus und begann freudig seinen Beruf. Goethe weilte indessen in Wetzlar. 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Der Fremde streckte die Hand aus dem Bette und sagte mit dumpfer, schwacher Stimme: „Herr Doktor, fühlen Sie mir einmal den Puls, ich bin gar krank und schwach!“ — Stilling that dieses, fand aber den Puls sehr regelmäßig und gesund und er- klärte dieses auch dem vermeintlichen Kranken. Kaum hatte er ausgesprochen, so hing auch Goethe an seinem Halse. Stillings Freude war unbeschreiblich. Goethe's Veranlassung zu dieser Reise war folgende. Lavater, der um diese Zeit durch seine Frömmigkeit wie durch seine Phystognomik sich einer großen Celebrität er- freute, besuchte von Frankfurt aus zunächst Ems, dann den Rhein. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 6. Stuttgart/Tübingen, 10. Februar 1856, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt06_1856/22>, abgerufen am 25.11.2024.