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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 6. Stuttgart/Tübingen, 10. Februar 1856.

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[Beginn Spaltensatz] schuldigen siebzig Thaler bezahlen zu können. Stilling
und seine Frau wandten sich in brünstigem Gebet an
Gott und flehten um Hülfe. Endlich brach der gefürchtete
Freitag heran und mit ihm stieg die Seelenangst am
höchsten. Da, um zehn Uhr, trat der Briefträger herein;
in der einen Hand hielt er das Quittungsbuch, in der
andern einen schwer belasteten Brief. Voll Ahnung nahm
ihn Stilling an. Er war von Goethes Hand, und seit-
wärts stand: "Beschwert mit hundert und fünfzehn Reichs-
thaler in Gold." Mit freudigem Erstaunen erbrach er
den Brief und las. Goethe hatte ohne sein Wissen den
Anfang seiner Lebensgeschichte unter dem Titel: "Stillings
Jugend," drucken lassen und schickte ihm nun das Honorar
von Weimar aus zu, wohin er während Stillings lezter Reise
nach Frankfurt den bekannten, für ihn so folgereichen Ruf
erhalten und dort am 7. November 1775 eingetroffen
war. Geschwind quittirte Stilling, um nur den Brief-
träger fortzubringen; dann umarmten sich beide Eheleute,
weinten laut und lobten Gott.

Stillings Verbindung mit Goethe, ihre Korrespon-
denz, ihre gegenseitigen Besuche wurden von den " happy
fews
," von denen, die sich die Auserwählten Got-
tes nennen, auf's ärgste verlästert. Man schauderte vor
jenem, als vor einem Heiden, einem Freigeiste, und ver-
dachte es Stilling im höchsten Grade, daß er mit dem
verirrten Schafe Umgang habe. Jndessen von denen, die
da lästerten, fiel es keinem ein, den armen Stilling auch
nur mit einem Heller zu unterstützen. Gerade das Welt-
kind zeigte sich als das berufene Werkzeng in der Hand
der Vorsehung, den seltenen Mann zu trösten, zu unter-
stützen, aus Angst und Noth zu reißen. Kein Wunder,
daß Stilling seiner Lebensgeschichte die Ermahnung zu-
fügte: "Wer ein wahrer Diener Gottes seyn will, der
sondere sich nicht von den Menschen ab, sondern von der
Sünde. Vor allem schließe er sich nicht einer besondern
Gesellschaft an, die sich's zum alleinigen Zweck gemacht
hat, Gott besser zu dienen als andere. Von diesem Be-
wußtseyn des Besserdienens verleitet, wird sie allmählig
stolz, bekommt einen gemeinen Geist und artet allmählig
in Augenverdrehen und Scheinheiligkeit aus."

Der größte Dichter unserer Nation, mit jener leben-
digen Pietät im Herzen, die alles Große in der morali-
schen wie in der physischen Weltordnung willig verehrt,
war wirklich der Freundschaft eines ächt religiösen Man-
[Spaltenumbruch] nes nicht unwerth, war wahrlich würdig, Stillings Leben
der Oeffentlichkeit zu übergeben. Stillings Nachkommen
waren ihm ihr Lebelang dafür verpflichtet, so wie sie sein
edles Herz überhaupt in allem erkannten, was er schon
als akademischer Freund für ihren Vater gethan. Wie
verschieden auch die Richtung beider Geister war, sie blie-
ben im Alter und im Stillen Freunde. Die Art und
Weise, wie Goethe sich in seinem Leben über Jung-
Stilling äußert, hat diesen auf's tiefste gerührt. Noch im
Jahr 1815 besuchte ihn Goethe von Heidelberg aus in
Karlsruhe, wiewohl nur auf kurze Zeit, da Stilling ge-
rade an diesem Tuge abreisen mußte. Nie haben seine
Kinder ihn anders als mit gerührtem Herzen und der
größten Hochachtung von diesem geprüften Freunde spre-
chen hören.

Dem Verfasser, der mit bescheidener Hand beiden
edeln Geistern dieses kleine, anspruchlose Denkmal errich-
tet, möge es vergönnt seyn, diesem als passenden Schluß-
stein die Worte anzufügen, die Goethe schon zu seiner
Zeit über das Bestreben, die Naturwissenschaften dem
Christenthum feindlich gegenüber zu stellen, in prophetischer
Ahnung dem Manne anvertraute, dessen jugendliche Hin-
gebung sein Alter erheiterte: "Mögen auch die Natur-
wissenschaften in immer breiterer Tiefe und Ausdehnung
wachsen und der menschliche Geist sich erweitern wie er
will -- über die Hoheit und sittliche Cultur des Christen-
thums, wie er in den Evangelien leuchtet, wird er doch
nicht hinauskommen. Die christliche Religion ist über alle
Philosophie erhaben und bedarf ihrer Sätze nicht. Die
Unsterblichkeit der Seele hat innere Nothwendigkeit. Auch
ist es ein höchst vermessenes, sich selbst strafendes Begin-
nen, an die göttlichen Geheimnisse zu rühren, weil die
Menschen dabei in ein ihnen nicht zugetheiltes Element
gerathen, wie der ihnen unerklärliche Widerstreit zwischen
der Freiheit des Willens und der Allwissenheit Gottes
zeigt. Wenn auch von allem Mystieismus entfernt,
müssen wir doch immer zuletzt ein Unerforschliches einge-
stehen."

Und so schließe ich die Zusammenstellung zweier auf
den ersten Anblick so verschiedenartiger Naturen mit der
Hoffnung, sie werde nicht zum Nachtheil des Weltkindes
ausgefallen seyn.

   A. Clemens.
[Ende Spaltensatz]

Druck und Verlag der J. G. Cotta' schen Buchhandlung. Verantwortlicher Redakteur: Hauff.

[Beginn Spaltensatz] schuldigen siebzig Thaler bezahlen zu können. Stilling
und seine Frau wandten sich in brünstigem Gebet an
Gott und flehten um Hülfe. Endlich brach der gefürchtete
Freitag heran und mit ihm stieg die Seelenangst am
höchsten. Da, um zehn Uhr, trat der Briefträger herein;
in der einen Hand hielt er das Quittungsbuch, in der
andern einen schwer belasteten Brief. Voll Ahnung nahm
ihn Stilling an. Er war von Goethes Hand, und seit-
wärts stand: „Beschwert mit hundert und fünfzehn Reichs-
thaler in Gold.“ Mit freudigem Erstaunen erbrach er
den Brief und las. Goethe hatte ohne sein Wissen den
Anfang seiner Lebensgeschichte unter dem Titel: „Stillings
Jugend,“ drucken lassen und schickte ihm nun das Honorar
von Weimar aus zu, wohin er während Stillings lezter Reise
nach Frankfurt den bekannten, für ihn so folgereichen Ruf
erhalten und dort am 7. November 1775 eingetroffen
war. Geschwind quittirte Stilling, um nur den Brief-
träger fortzubringen; dann umarmten sich beide Eheleute,
weinten laut und lobten Gott.

Stillings Verbindung mit Goethe, ihre Korrespon-
denz, ihre gegenseitigen Besuche wurden von den » happy
fews
,« von denen, die sich die Auserwählten Got-
tes nennen, auf's ärgste verlästert. Man schauderte vor
jenem, als vor einem Heiden, einem Freigeiste, und ver-
dachte es Stilling im höchsten Grade, daß er mit dem
verirrten Schafe Umgang habe. Jndessen von denen, die
da lästerten, fiel es keinem ein, den armen Stilling auch
nur mit einem Heller zu unterstützen. Gerade das Welt-
kind zeigte sich als das berufene Werkzeng in der Hand
der Vorsehung, den seltenen Mann zu trösten, zu unter-
stützen, aus Angst und Noth zu reißen. Kein Wunder,
daß Stilling seiner Lebensgeschichte die Ermahnung zu-
fügte: „Wer ein wahrer Diener Gottes seyn will, der
sondere sich nicht von den Menschen ab, sondern von der
Sünde. Vor allem schließe er sich nicht einer besondern
Gesellschaft an, die sich's zum alleinigen Zweck gemacht
hat, Gott besser zu dienen als andere. Von diesem Be-
wußtseyn des Besserdienens verleitet, wird sie allmählig
stolz, bekommt einen gemeinen Geist und artet allmählig
in Augenverdrehen und Scheinheiligkeit aus.“

Der größte Dichter unserer Nation, mit jener leben-
digen Pietät im Herzen, die alles Große in der morali-
schen wie in der physischen Weltordnung willig verehrt,
war wirklich der Freundschaft eines ächt religiösen Man-
[Spaltenumbruch] nes nicht unwerth, war wahrlich würdig, Stillings Leben
der Oeffentlichkeit zu übergeben. Stillings Nachkommen
waren ihm ihr Lebelang dafür verpflichtet, so wie sie sein
edles Herz überhaupt in allem erkannten, was er schon
als akademischer Freund für ihren Vater gethan. Wie
verschieden auch die Richtung beider Geister war, sie blie-
ben im Alter und im Stillen Freunde. Die Art und
Weise, wie Goethe sich in seinem Leben über Jung-
Stilling äußert, hat diesen auf's tiefste gerührt. Noch im
Jahr 1815 besuchte ihn Goethe von Heidelberg aus in
Karlsruhe, wiewohl nur auf kurze Zeit, da Stilling ge-
rade an diesem Tuge abreisen mußte. Nie haben seine
Kinder ihn anders als mit gerührtem Herzen und der
größten Hochachtung von diesem geprüften Freunde spre-
chen hören.

Dem Verfasser, der mit bescheidener Hand beiden
edeln Geistern dieses kleine, anspruchlose Denkmal errich-
tet, möge es vergönnt seyn, diesem als passenden Schluß-
stein die Worte anzufügen, die Goethe schon zu seiner
Zeit über das Bestreben, die Naturwissenschaften dem
Christenthum feindlich gegenüber zu stellen, in prophetischer
Ahnung dem Manne anvertraute, dessen jugendliche Hin-
gebung sein Alter erheiterte: „Mögen auch die Natur-
wissenschaften in immer breiterer Tiefe und Ausdehnung
wachsen und der menschliche Geist sich erweitern wie er
will — über die Hoheit und sittliche Cultur des Christen-
thums, wie er in den Evangelien leuchtet, wird er doch
nicht hinauskommen. Die christliche Religion ist über alle
Philosophie erhaben und bedarf ihrer Sätze nicht. Die
Unsterblichkeit der Seele hat innere Nothwendigkeit. Auch
ist es ein höchst vermessenes, sich selbst strafendes Begin-
nen, an die göttlichen Geheimnisse zu rühren, weil die
Menschen dabei in ein ihnen nicht zugetheiltes Element
gerathen, wie der ihnen unerklärliche Widerstreit zwischen
der Freiheit des Willens und der Allwissenheit Gottes
zeigt. Wenn auch von allem Mystieismus entfernt,
müssen wir doch immer zuletzt ein Unerforschliches einge-
stehen.“

Und so schließe ich die Zusammenstellung zweier auf
den ersten Anblick so verschiedenartiger Naturen mit der
Hoffnung, sie werde nicht zum Nachtheil des Weltkindes
ausgefallen seyn.

   A. Clemens.
[Ende Spaltensatz]

Druck und Verlag der J. G. Cotta' schen Buchhandlung. Verantwortlicher Redakteur: Hauff.

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 6. Stuttgart/Tübingen, 10. Februar 1856, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt06_1856/24>, abgerufen am 22.11.2024.