Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.Prof. Ludwig Gumplowicz: Adolf Bastian. sich die heutige Agrarpolitik und die Sozialpolitik in jeder Weise. Sozial-politik heißt möglichste systematische Arbeit für die Überleitung der Klassen- wirtschaft in demokratisierte Wirtschaft, die heutige Agrarpolitik heißt: Mög- lichste Befestigung der Klassenwirtschaft. Sie kann also nur das Resultat haben, die Reichslokomotive auf einen Strang zu bringen, wo ihr jeder Weg zu ernster Sozialreform abgeschnitten ist. Das wird der Reichslokomotiv- führer, sofern er es nicht selbst sieht, und das werden alle, die auf ihn hoffen, immer deutlicher zu spüren bekommen. [Abbildung]
Adolf Bastian. ( 26. Juni 1826 -- 25. Januar 1905. ) Von Prof. Ludwig Gumplowicz, Graz. Die Welt ist um ein schier unfaßbares Phänomen ärmer geworden. Die Das 19. Jahrhundert war noch nicht vergangen, so lange Bastian lebte; Jetzt erst können wir das verflossene Jahrhundert ganz würdigen. Jn Kolumbus hat uns zur Kenntnis unseres ganzen Wohnsitzes, des Erd- Prof. Ludwig Gumplowicz: Adolf Bastian. sich die heutige Agrarpolitik und die Sozialpolitik in jeder Weise. Sozial-politik heißt möglichste systematische Arbeit für die Überleitung der Klassen- wirtschaft in demokratisierte Wirtschaft, die heutige Agrarpolitik heißt: Mög- lichste Befestigung der Klassenwirtschaft. Sie kann also nur das Resultat haben, die Reichslokomotive auf einen Strang zu bringen, wo ihr jeder Weg zu ernster Sozialreform abgeschnitten ist. Das wird der Reichslokomotiv- führer, sofern er es nicht selbst sieht, und das werden alle, die auf ihn hoffen, immer deutlicher zu spüren bekommen. [Abbildung]
Adolf Bastian. ( 26. Juni 1826 — 25. Januar 1905. ) Von Prof. Ludwig Gumplowicz, Graz. Die Welt ist um ein schier unfaßbares Phänomen ärmer geworden. Die Das 19. Jahrhundert war noch nicht vergangen, so lange Bastian lebte; Jetzt erst können wir das verflossene Jahrhundert ganz würdigen. Jn Kolumbus hat uns zur Kenntnis unseres ganzen Wohnsitzes, des Erd- <TEI> <text> <body> <div type="jArticle" n="1"> <p><pb facs="#f0007" n="343"/><fw type="header" place="top">Prof. Ludwig Gumplowicz: Adolf Bastian.</fw><lb/> sich die heutige Agrarpolitik und die Sozialpolitik in jeder Weise. Sozial-<lb/> politik heißt möglichste systematische Arbeit für die Überleitung der Klassen-<lb/> wirtschaft in demokratisierte Wirtschaft, die heutige Agrarpolitik heißt: Mög-<lb/> lichste Befestigung der Klassenwirtschaft. Sie kann also nur das Resultat<lb/> haben, die Reichslokomotive auf einen Strang zu bringen, wo ihr jeder Weg<lb/> zu ernster Sozialreform abgeschnitten ist. Das wird der Reichslokomotiv-<lb/> führer, sofern er es nicht selbst sieht, und das werden alle, die auf ihn hoffen,<lb/> immer deutlicher zu spüren bekommen.</p> </div><lb/> <figure/><lb/> <div type="jArticle" n="1"> <head><hi rendition="#fr">Adolf Bastian.</hi><lb/> ( 26. Juni 1826 — 25. Januar 1905. )<lb/><bibl>Von <author>Prof. <hi rendition="#g">Ludwig Gumplowicz</hi></author>, Graz.</bibl></head><lb/> <p>Die Welt ist um ein schier unfaßbares Phänomen ärmer geworden. Die<lb/> staunende Nachwelt kann nun beginnen es zu studieren. Sie wird lange<lb/> damit nicht fertig werden.</p><lb/> <p>Das 19. Jahrhundert war noch nicht vergangen, so lange Bastian lebte;<lb/> wie der Tag noch dauert, so lange der letzte Glühpunkt der untergehenden<lb/> Sonne uns seine Strahlen sendet. Jetzt ist es von uns geschieden. Der<lb/> größte Gelehrte, den es hervorgebracht, um deswillen es zu den geistig pro-<lb/> duktivsten gezählt werden wird, ist gestorben. Sein Wissen umspannte die<lb/> Menschheit in Zeit und Raum und die großen Gelehrten des 19. Jahrhunderts<lb/> nehmen sich, an ihm gemessen, allesamt aus wie Schüler um ihren Lehrer.<lb/> All sein Wissen aber stellte er in den Dienst einer Jdee, wie sie kein früheres<lb/> Jahrhundert je ahnen konnte.</p><lb/> <p>Jetzt erst können wir das verflossene Jahrhundert <hi rendition="#g">ganz</hi> würdigen. Jn<lb/> der Reihe der vergangenen kommt ihm keines gleich. Das 15. Jahrhundert<lb/> hat wohl zwei große Entdecker hervorgebracht: Kolumbus und Kopernikus.<lb/> Der eine hat einen Weltteil entdeckt; der andere die Mechanik des Weltsystems.<lb/> Bastian aber hat nicht nur die Menscheit in dem umfassendsten Sinne des<lb/> Wortes entdeckt, sondern auch die Mechanik des Menschheitssystems, die er als<lb/> „Menschheitsgedanken“ bezeichnet. Er ward somit der Kolumbus und Ko-<lb/> pernikus des 19. Jahrhunderts in einer Person. Nun ist aber für die Men-<lb/> schen seine Entdeckung viel wichtiger, als die jener beiden großen Entdecker.</p><lb/> <p>Kolumbus hat uns zur Kenntnis unseres <hi rendition="#g">ganzen</hi> Wohnsitzes, des Erd-<lb/> balles, verholfen; Kopernikus zeigte uns, welche Stelle und welchen Rang<lb/> dieser Erdball im Weltall einnimmt: Bastian aber entdeckte die <hi rendition="#g">Mensch-<lb/> heit</hi> selbst, indem er uns zeigte, was diese eigentlich ist — eine vergäng-<lb/> liche, immer sich erneuernde Stoffkonstellation, ein ewig fließender Strom, in<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [343/0007]
Prof. Ludwig Gumplowicz: Adolf Bastian.
sich die heutige Agrarpolitik und die Sozialpolitik in jeder Weise. Sozial-
politik heißt möglichste systematische Arbeit für die Überleitung der Klassen-
wirtschaft in demokratisierte Wirtschaft, die heutige Agrarpolitik heißt: Mög-
lichste Befestigung der Klassenwirtschaft. Sie kann also nur das Resultat
haben, die Reichslokomotive auf einen Strang zu bringen, wo ihr jeder Weg
zu ernster Sozialreform abgeschnitten ist. Das wird der Reichslokomotiv-
führer, sofern er es nicht selbst sieht, und das werden alle, die auf ihn hoffen,
immer deutlicher zu spüren bekommen.
[Abbildung]
Adolf Bastian.
( 26. Juni 1826 — 25. Januar 1905. )
Von Prof. Ludwig Gumplowicz, Graz.
Die Welt ist um ein schier unfaßbares Phänomen ärmer geworden. Die
staunende Nachwelt kann nun beginnen es zu studieren. Sie wird lange
damit nicht fertig werden.
Das 19. Jahrhundert war noch nicht vergangen, so lange Bastian lebte;
wie der Tag noch dauert, so lange der letzte Glühpunkt der untergehenden
Sonne uns seine Strahlen sendet. Jetzt ist es von uns geschieden. Der
größte Gelehrte, den es hervorgebracht, um deswillen es zu den geistig pro-
duktivsten gezählt werden wird, ist gestorben. Sein Wissen umspannte die
Menschheit in Zeit und Raum und die großen Gelehrten des 19. Jahrhunderts
nehmen sich, an ihm gemessen, allesamt aus wie Schüler um ihren Lehrer.
All sein Wissen aber stellte er in den Dienst einer Jdee, wie sie kein früheres
Jahrhundert je ahnen konnte.
Jetzt erst können wir das verflossene Jahrhundert ganz würdigen. Jn
der Reihe der vergangenen kommt ihm keines gleich. Das 15. Jahrhundert
hat wohl zwei große Entdecker hervorgebracht: Kolumbus und Kopernikus.
Der eine hat einen Weltteil entdeckt; der andere die Mechanik des Weltsystems.
Bastian aber hat nicht nur die Menscheit in dem umfassendsten Sinne des
Wortes entdeckt, sondern auch die Mechanik des Menschheitssystems, die er als
„Menschheitsgedanken“ bezeichnet. Er ward somit der Kolumbus und Ko-
pernikus des 19. Jahrhunderts in einer Person. Nun ist aber für die Men-
schen seine Entdeckung viel wichtiger, als die jener beiden großen Entdecker.
Kolumbus hat uns zur Kenntnis unseres ganzen Wohnsitzes, des Erd-
balles, verholfen; Kopernikus zeigte uns, welche Stelle und welchen Rang
dieser Erdball im Weltall einnimmt: Bastian aber entdeckte die Mensch-
heit selbst, indem er uns zeigte, was diese eigentlich ist — eine vergäng-
liche, immer sich erneuernde Stoffkonstellation, ein ewig fließender Strom, in
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