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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.

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Eduard Bernstein: Die Reichslokomotive und ihr Kurs.
teil ein im Wesen der modernen wirtschaftlichen Entwicklung begründeter,
naturgemäßer, für den sozialen Fortschritt notwendiger Vorgang. Unsere
moderne Kultur, die höchsten Errungenschaften unserer geistigen Entwicklung
in Wissenschaft, Recht, Ethik sind städtischen Charakters, und wenn es auch
Widersinn wäre, das Verlangen nach Verstadtlichung der ganzen Nation aus-
zusprechen, so muß doch gesagt werden, daß noch eine viel stärkere Durch-
dringung der Nation mit städtischem Denken erforderlich ist, wenn wirklich die
geistigen Errungenschaften unserer Zeit Gemeingut der Nation werden sollen.
Und dazu ist ein noch viel stärkerer Durchzug der Bevölkerung durch die Stadt
erfordert, als wir ihn bisher gesehen. Wohlgemerkt Durchzug, nicht Fest-
setzung. Denn geschichtlich betrachtet, wird es sich in der Tat zum großen
Teil nur um einen Durchzug handeln, da die heutige Stadt keineswegs das
letzte Wort der Entwicklung ist.

Die moderne Agrarfrage ist in ihrem letzten Grunde einfach die
Frage, wie kann die Landbevölkerung der Güter der städtischen Kultur teil-
haftig werden. Jn ihrer Art geben das die Agrarier selbst zu, wenn sie er-
klären, daß nicht materiell schlechtere Lage die Landarbeiter in die Stadt treibe.
Und was von Landarbeitern gilt, trifft auch vom Sohn des Bauern zu. Alles,
was lebhaft empfindet, drängt zur Stadt. Und wenn der unmittelbare An-
reiz oft auch ein ziemlich niedriger sein mag, so spielt doch bewußt oder un-
bewußt das Gefühl für den größeren seelischen Reichtum des städtischen Lebens
eine bedeutende Rolle dabei. Auch heute gilt noch, wenn auch in anderem
Sinne, das alte Wort: Stadtluft macht frei. Aber die Stadt braucht darum
nicht zu bleiben, was sie war, und wird es auch nicht bleiben. Sie strebt nach
Erweiterung, nach Dezentralisation, nach enger Verbindung mit der freien
Natur: sie will zwar nicht wieder Landstadt, wohl aber "Gartenstadt" werden.
Eine neuorganische Verbindung von Stadt und Land bahnt sich an, mit der
Stadt als dem Mittelpunkt. Sie wird sich durchsetzen, denn sie entspricht den
Fundamentalbedingungen unseres ganzen Wirtschaftslebens, dessen Fortschritt
auf Spezialisation und Zentralisation, abstrakt ausgedrückt: Differenzierung
und Jntegrierung beruht.

Die heutigen Verhältnisse auf dem Lande stationär machen, wie das die
deutsche Agrarpolitik will, wird diesen Prozeß nicht verhindern, wohl aber
kann es ihn zeitweilig aufhalten -- zum Schaden der großen Masse der Be-
teiligten. Denn jede Hemmung einer in der Natur der Dinge liegenden Ent-
wicklung bedeutet unnütze Opfer, unnütze Verlängerung der Leiden. Wenn
die deutsche Agrarpolitik den Effekt hat, die Verhältnisse auf dem Lande zu
befestigen, so kann sie dies kraft des Mechanismus unserer Volkswirtschaft nur
dadurch, daß sie der Jndustrie Lebensmark entzieht, die Arbeitsgelegenheit
für die zuwachsende Bevölkerung vermindert. Wo alsdann die Mittel
für eine Sozialpolitik herkommen sollen, die ihrem Namen nur einigermaßen
gerecht wird, ist vorläufig ein Rätsel. Bis es gelöst wird, werden wir auch
wohl nicht viel von sozialpolitischen Maßnahmen zu sehen bekommen. Schon
jetzt werden die Mahnenden bei jeder Gelegenheit vertröstet. Dafür hat Graf
Posadowsky eine Vereinheitlichung der Arbeiterversicherung als Zukunfts-
aufgabe aufgestellt, von der sehr zu fürchten ist, daß sie auf eine Beschränkung
der Selbstverwaltung der Krankenkassen hinauslaufen wird.

Nein, wenn Sozialpolitik sozialer Fortschritt bedeuten soll, dann kreuzen

Eduard Bernstein: Die Reichslokomotive und ihr Kurs.
teil ein im Wesen der modernen wirtschaftlichen Entwicklung begründeter,
naturgemäßer, für den sozialen Fortschritt notwendiger Vorgang. Unsere
moderne Kultur, die höchsten Errungenschaften unserer geistigen Entwicklung
in Wissenschaft, Recht, Ethik sind städtischen Charakters, und wenn es auch
Widersinn wäre, das Verlangen nach Verstadtlichung der ganzen Nation aus-
zusprechen, so muß doch gesagt werden, daß noch eine viel stärkere Durch-
dringung der Nation mit städtischem Denken erforderlich ist, wenn wirklich die
geistigen Errungenschaften unserer Zeit Gemeingut der Nation werden sollen.
Und dazu ist ein noch viel stärkerer Durchzug der Bevölkerung durch die Stadt
erfordert, als wir ihn bisher gesehen. Wohlgemerkt Durchzug, nicht Fest-
setzung. Denn geschichtlich betrachtet, wird es sich in der Tat zum großen
Teil nur um einen Durchzug handeln, da die heutige Stadt keineswegs das
letzte Wort der Entwicklung ist.

Die moderne Agrarfrage ist in ihrem letzten Grunde einfach die
Frage, wie kann die Landbevölkerung der Güter der städtischen Kultur teil-
haftig werden. Jn ihrer Art geben das die Agrarier selbst zu, wenn sie er-
klären, daß nicht materiell schlechtere Lage die Landarbeiter in die Stadt treibe.
Und was von Landarbeitern gilt, trifft auch vom Sohn des Bauern zu. Alles,
was lebhaft empfindet, drängt zur Stadt. Und wenn der unmittelbare An-
reiz oft auch ein ziemlich niedriger sein mag, so spielt doch bewußt oder un-
bewußt das Gefühl für den größeren seelischen Reichtum des städtischen Lebens
eine bedeutende Rolle dabei. Auch heute gilt noch, wenn auch in anderem
Sinne, das alte Wort: Stadtluft macht frei. Aber die Stadt braucht darum
nicht zu bleiben, was sie war, und wird es auch nicht bleiben. Sie strebt nach
Erweiterung, nach Dezentralisation, nach enger Verbindung mit der freien
Natur: sie will zwar nicht wieder Landstadt, wohl aber „Gartenstadt“ werden.
Eine neuorganische Verbindung von Stadt und Land bahnt sich an, mit der
Stadt als dem Mittelpunkt. Sie wird sich durchsetzen, denn sie entspricht den
Fundamentalbedingungen unseres ganzen Wirtschaftslebens, dessen Fortschritt
auf Spezialisation und Zentralisation, abstrakt ausgedrückt: Differenzierung
und Jntegrierung beruht.

Die heutigen Verhältnisse auf dem Lande stationär machen, wie das die
deutsche Agrarpolitik will, wird diesen Prozeß nicht verhindern, wohl aber
kann es ihn zeitweilig aufhalten — zum Schaden der großen Masse der Be-
teiligten. Denn jede Hemmung einer in der Natur der Dinge liegenden Ent-
wicklung bedeutet unnütze Opfer, unnütze Verlängerung der Leiden. Wenn
die deutsche Agrarpolitik den Effekt hat, die Verhältnisse auf dem Lande zu
befestigen, so kann sie dies kraft des Mechanismus unserer Volkswirtschaft nur
dadurch, daß sie der Jndustrie Lebensmark entzieht, die Arbeitsgelegenheit
für die zuwachsende Bevölkerung vermindert. Wo alsdann die Mittel
für eine Sozialpolitik herkommen sollen, die ihrem Namen nur einigermaßen
gerecht wird, ist vorläufig ein Rätsel. Bis es gelöst wird, werden wir auch
wohl nicht viel von sozialpolitischen Maßnahmen zu sehen bekommen. Schon
jetzt werden die Mahnenden bei jeder Gelegenheit vertröstet. Dafür hat Graf
Posadowsky eine Vereinheitlichung der Arbeiterversicherung als Zukunfts-
aufgabe aufgestellt, von der sehr zu fürchten ist, daß sie auf eine Beschränkung
der Selbstverwaltung der Krankenkassen hinauslaufen wird.

Nein, wenn Sozialpolitik sozialer Fortschritt bedeuten soll, dann kreuzen

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[342/0006] Eduard Bernstein: Die Reichslokomotive und ihr Kurs. teil ein im Wesen der modernen wirtschaftlichen Entwicklung begründeter, naturgemäßer, für den sozialen Fortschritt notwendiger Vorgang. Unsere moderne Kultur, die höchsten Errungenschaften unserer geistigen Entwicklung in Wissenschaft, Recht, Ethik sind städtischen Charakters, und wenn es auch Widersinn wäre, das Verlangen nach Verstadtlichung der ganzen Nation aus- zusprechen, so muß doch gesagt werden, daß noch eine viel stärkere Durch- dringung der Nation mit städtischem Denken erforderlich ist, wenn wirklich die geistigen Errungenschaften unserer Zeit Gemeingut der Nation werden sollen. Und dazu ist ein noch viel stärkerer Durchzug der Bevölkerung durch die Stadt erfordert, als wir ihn bisher gesehen. Wohlgemerkt Durchzug, nicht Fest- setzung. Denn geschichtlich betrachtet, wird es sich in der Tat zum großen Teil nur um einen Durchzug handeln, da die heutige Stadt keineswegs das letzte Wort der Entwicklung ist. Die moderne Agrarfrage ist in ihrem letzten Grunde einfach die Frage, wie kann die Landbevölkerung der Güter der städtischen Kultur teil- haftig werden. Jn ihrer Art geben das die Agrarier selbst zu, wenn sie er- klären, daß nicht materiell schlechtere Lage die Landarbeiter in die Stadt treibe. Und was von Landarbeitern gilt, trifft auch vom Sohn des Bauern zu. Alles, was lebhaft empfindet, drängt zur Stadt. Und wenn der unmittelbare An- reiz oft auch ein ziemlich niedriger sein mag, so spielt doch bewußt oder un- bewußt das Gefühl für den größeren seelischen Reichtum des städtischen Lebens eine bedeutende Rolle dabei. Auch heute gilt noch, wenn auch in anderem Sinne, das alte Wort: Stadtluft macht frei. Aber die Stadt braucht darum nicht zu bleiben, was sie war, und wird es auch nicht bleiben. Sie strebt nach Erweiterung, nach Dezentralisation, nach enger Verbindung mit der freien Natur: sie will zwar nicht wieder Landstadt, wohl aber „Gartenstadt“ werden. Eine neuorganische Verbindung von Stadt und Land bahnt sich an, mit der Stadt als dem Mittelpunkt. Sie wird sich durchsetzen, denn sie entspricht den Fundamentalbedingungen unseres ganzen Wirtschaftslebens, dessen Fortschritt auf Spezialisation und Zentralisation, abstrakt ausgedrückt: Differenzierung und Jntegrierung beruht. Die heutigen Verhältnisse auf dem Lande stationär machen, wie das die deutsche Agrarpolitik will, wird diesen Prozeß nicht verhindern, wohl aber kann es ihn zeitweilig aufhalten — zum Schaden der großen Masse der Be- teiligten. Denn jede Hemmung einer in der Natur der Dinge liegenden Ent- wicklung bedeutet unnütze Opfer, unnütze Verlängerung der Leiden. Wenn die deutsche Agrarpolitik den Effekt hat, die Verhältnisse auf dem Lande zu befestigen, so kann sie dies kraft des Mechanismus unserer Volkswirtschaft nur dadurch, daß sie der Jndustrie Lebensmark entzieht, die Arbeitsgelegenheit für die zuwachsende Bevölkerung vermindert. Wo alsdann die Mittel für eine Sozialpolitik herkommen sollen, die ihrem Namen nur einigermaßen gerecht wird, ist vorläufig ein Rätsel. Bis es gelöst wird, werden wir auch wohl nicht viel von sozialpolitischen Maßnahmen zu sehen bekommen. Schon jetzt werden die Mahnenden bei jeder Gelegenheit vertröstet. Dafür hat Graf Posadowsky eine Vereinheitlichung der Arbeiterversicherung als Zukunfts- aufgabe aufgestellt, von der sehr zu fürchten ist, daß sie auf eine Beschränkung der Selbstverwaltung der Krankenkassen hinauslaufen wird. Nein, wenn Sozialpolitik sozialer Fortschritt bedeuten soll, dann kreuzen

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905/6>, abgerufen am 24.11.2024.