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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.

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J. E. Poritzky: Der Tod.
nach Lust bisweilen zu unterdrücken, um eine spätere größere Unlust zu ver-
meiden oder eine größere, länger währende Freude zu gewinnen. Gierig
möchte er nach heißem Laufe das kalte Wasser hinunterstürzen, aber wenn er
weiß, daß er sich Krankheit trinken könnte oder Tod, so zügelt er sein bren-
nendes Verlangen. Und wer eine Vorstellung davon hat, welch köstlich Gut
die Freiheit ist, der wird die härtesten Entbehrungen und Leiden auf sich
nehmen, wenn er dadurch die Sklavenfesseln brechen kann."

Die steigende Erkenntnis der Zwecke und der Mittel zu ihrer Erreichung
bedingt also den Fortschritt. Und reicht die Vernunft des einzelnen nicht aus,
das blinde Walten seiner Triebe zu hemmen, so soll das Recht die fehlende
Vernunft ersetzen, soweit es zum Schutze der Gesamtheit notwendig ist.

Jn einem kurzen Artikel, der nichts weiter als die Aufmerksamkeit auf
ein Buch hinlenken will, ist es nicht möglich, ein ethisches oder philosophisches
Problem erschöpfend zu erörtern, wozu ich mich auch keineswegs für kompetent
hielte. Aber das glaube ich, mit meiner skizzenhaften Darstellung einer
einzigen wichtigen Frage vielleicht erreicht zu haben, daß die wegwerfende
Behandlung des Buches von Allostis, mit der es von einem Professor der
Philosophie bedacht worden ist, als eine Ungehörigkeit empfunden wird. Meine
Bewertung des Buches dürfte aber jedenfalls noch bestätigt werden, wenn die
Berufenen sich mit ihm des Näheren beschäftigen, wozu ich mit diesen Zeilen
angeregt haben möchte.

[Abbildung]
Der Tod.
Von J. E. Poritzky, Berlin.
Ethnologischer Teil.

Jn alten Mythen wird uns der Tod zuweilen als Bruder des Schlafes
geschildert; als der gütige Freund, in dessen Wohnung vollkommene Ruhe ist
und in dessen Armen wir sanft schlafen, wie in den Armen einer liebebesorgten
Mutter. Andere Sagen wieder kennen ihn nur als den schrecklichen Zerstörer
des Lebenden, den grausamen Schnitter, vor dessen Sense nichts Lebendiges
verschont bleibt; als den unheimlichen Reiter, der auf seinem weißen Rosse, das
schneller ist, als der Gedanke, die Lebenden entführt, und als den wilden Jäger,
dem keine lebendige Beute entgeht.

Das Grausen vor den Gespenstern, die Furcht vor den Gärten des Todes,
in denen mitternachts die Geister wandeln, das Beben vor den Geheimnissen
der Nacht -- sie haben in nichts anderem ihre Wurzel, als in dem Glauben,
daß die Verstorbenen gar nicht in unserem Sinne tot sind. Und in der Tat wird
diese Auffassung von vielen Forschern, von Bartels, Bastian, Bühler, Götte,
Grawitz, Kassowitz, Negelin, Weismann u. a., die die Bräuche der Völker stu-
diert haben, auch immer bestätigt gefunden.

J. E. Poritzky: Der Tod.
nach Lust bisweilen zu unterdrücken, um eine spätere größere Unlust zu ver-
meiden oder eine größere, länger währende Freude zu gewinnen. Gierig
möchte er nach heißem Laufe das kalte Wasser hinunterstürzen, aber wenn er
weiß, daß er sich Krankheit trinken könnte oder Tod, so zügelt er sein bren-
nendes Verlangen. Und wer eine Vorstellung davon hat, welch köstlich Gut
die Freiheit ist, der wird die härtesten Entbehrungen und Leiden auf sich
nehmen, wenn er dadurch die Sklavenfesseln brechen kann.“

Die steigende Erkenntnis der Zwecke und der Mittel zu ihrer Erreichung
bedingt also den Fortschritt. Und reicht die Vernunft des einzelnen nicht aus,
das blinde Walten seiner Triebe zu hemmen, so soll das Recht die fehlende
Vernunft ersetzen, soweit es zum Schutze der Gesamtheit notwendig ist.

Jn einem kurzen Artikel, der nichts weiter als die Aufmerksamkeit auf
ein Buch hinlenken will, ist es nicht möglich, ein ethisches oder philosophisches
Problem erschöpfend zu erörtern, wozu ich mich auch keineswegs für kompetent
hielte. Aber das glaube ich, mit meiner skizzenhaften Darstellung einer
einzigen wichtigen Frage vielleicht erreicht zu haben, daß die wegwerfende
Behandlung des Buches von Allostis, mit der es von einem Professor der
Philosophie bedacht worden ist, als eine Ungehörigkeit empfunden wird. Meine
Bewertung des Buches dürfte aber jedenfalls noch bestätigt werden, wenn die
Berufenen sich mit ihm des Näheren beschäftigen, wozu ich mit diesen Zeilen
angeregt haben möchte.

[Abbildung]
Der Tod.
Von J. E. Poritzky, Berlin.
Ethnologischer Teil.

Jn alten Mythen wird uns der Tod zuweilen als Bruder des Schlafes
geschildert; als der gütige Freund, in dessen Wohnung vollkommene Ruhe ist
und in dessen Armen wir sanft schlafen, wie in den Armen einer liebebesorgten
Mutter. Andere Sagen wieder kennen ihn nur als den schrecklichen Zerstörer
des Lebenden, den grausamen Schnitter, vor dessen Sense nichts Lebendiges
verschont bleibt; als den unheimlichen Reiter, der auf seinem weißen Rosse, das
schneller ist, als der Gedanke, die Lebenden entführt, und als den wilden Jäger,
dem keine lebendige Beute entgeht.

Das Grausen vor den Gespenstern, die Furcht vor den Gärten des Todes,
in denen mitternachts die Geister wandeln, das Beben vor den Geheimnissen
der Nacht — sie haben in nichts anderem ihre Wurzel, als in dem Glauben,
daß die Verstorbenen gar nicht in unserem Sinne tot sind. Und in der Tat wird
diese Auffassung von vielen Forschern, von Bartels, Bastian, Bühler, Götte,
Grawitz, Kassowitz, Negelin, Weismann u. a., die die Bräuche der Völker stu-
diert haben, auch immer bestätigt gefunden.

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[361/0025] J. E. Poritzky: Der Tod. nach Lust bisweilen zu unterdrücken, um eine spätere größere Unlust zu ver- meiden oder eine größere, länger währende Freude zu gewinnen. Gierig möchte er nach heißem Laufe das kalte Wasser hinunterstürzen, aber wenn er weiß, daß er sich Krankheit trinken könnte oder Tod, so zügelt er sein bren- nendes Verlangen. Und wer eine Vorstellung davon hat, welch köstlich Gut die Freiheit ist, der wird die härtesten Entbehrungen und Leiden auf sich nehmen, wenn er dadurch die Sklavenfesseln brechen kann.“ Die steigende Erkenntnis der Zwecke und der Mittel zu ihrer Erreichung bedingt also den Fortschritt. Und reicht die Vernunft des einzelnen nicht aus, das blinde Walten seiner Triebe zu hemmen, so soll das Recht die fehlende Vernunft ersetzen, soweit es zum Schutze der Gesamtheit notwendig ist. Jn einem kurzen Artikel, der nichts weiter als die Aufmerksamkeit auf ein Buch hinlenken will, ist es nicht möglich, ein ethisches oder philosophisches Problem erschöpfend zu erörtern, wozu ich mich auch keineswegs für kompetent hielte. Aber das glaube ich, mit meiner skizzenhaften Darstellung einer einzigen wichtigen Frage vielleicht erreicht zu haben, daß die wegwerfende Behandlung des Buches von Allostis, mit der es von einem Professor der Philosophie bedacht worden ist, als eine Ungehörigkeit empfunden wird. Meine Bewertung des Buches dürfte aber jedenfalls noch bestätigt werden, wenn die Berufenen sich mit ihm des Näheren beschäftigen, wozu ich mit diesen Zeilen angeregt haben möchte. [Abbildung] Der Tod. Von J. E. Poritzky, Berlin. Ethnologischer Teil. Jn alten Mythen wird uns der Tod zuweilen als Bruder des Schlafes geschildert; als der gütige Freund, in dessen Wohnung vollkommene Ruhe ist und in dessen Armen wir sanft schlafen, wie in den Armen einer liebebesorgten Mutter. Andere Sagen wieder kennen ihn nur als den schrecklichen Zerstörer des Lebenden, den grausamen Schnitter, vor dessen Sense nichts Lebendiges verschont bleibt; als den unheimlichen Reiter, der auf seinem weißen Rosse, das schneller ist, als der Gedanke, die Lebenden entführt, und als den wilden Jäger, dem keine lebendige Beute entgeht. Das Grausen vor den Gespenstern, die Furcht vor den Gärten des Todes, in denen mitternachts die Geister wandeln, das Beben vor den Geheimnissen der Nacht — sie haben in nichts anderem ihre Wurzel, als in dem Glauben, daß die Verstorbenen gar nicht in unserem Sinne tot sind. Und in der Tat wird diese Auffassung von vielen Forschern, von Bartels, Bastian, Bühler, Götte, Grawitz, Kassowitz, Negelin, Weismann u. a., die die Bräuche der Völker stu- diert haben, auch immer bestätigt gefunden.

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905/25>, abgerufen am 17.06.2024.