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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.

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Richard Calwer: Die Tugend des Genusses.
Fehlt aber bei der Erreichung eines Zweckes die Liebe oder erkaltet sie, nach-
dem sie zunächst vorhanden war, so fällt damit das Streben nach einem be-
stimmten Zweck meist weg; will ich ihn freilich dann noch erreichen, so muß
ich mich zwingen zu dem Tun oder Lassen, zu dem mich sonst die Liebe ganz
von selbst getrieben hat.

Das Pflichtgefühl, sein Maß und Jnhalt wird durch die Zwecke bestimmt.
Wer kein Pflichtgefühl hat, der will entweder nicht die Zwecke oder kümmert
sich nicht um sie, oder er will die Zwecke, verkennt aber die Mittel.

Der blut= und fleischlose kategorische Jmperativ Kants mit seinem un-
bestimmten "Du sollst!" kann keinem Menschen sagen, was seine Pflicht ist,
kann ihm keinen Zweifel bei widerstreitenden Fragen lösen. Jm Lichte unserer
Erkenntnis aber finden wir immer und leicht den richtigen Weg. Denn die
Zwecke der Einrichtungen des menschlichen Lebens sind unseren Augen nicht
verschlossen, und wer des Gefühls der Liebe nicht ganz unfähig ist, der hat
den sichersten Wegweiser in seinem Herzen. Wer nie in seinem Leben den
Hauch der Liebe verspürt hat, wem auch nie die Ahnungen von ihrem Glück
die Sehnsucht nach ihr geweckt haben, der bleibt auch des Pflichtgefühles bar.
Aber auch er kann lernen, was seine Pflicht ist. Kann er sie nicht an der
Liebe, nicht mit dem Herzen, messen, so kann er sie an den Zwecken, mit dem
Kopfe, erkennen.

Das aber ist die Frage, die sich vorlegen soll, wer den Willen hat, seine
Pflicht zu tun:

" Wie würde ich handeln, wenn ich liebte? "

Nach der bisherigen Auffassung tritt die Pflicht als ein starres Gebot
an mich von außen heran, entweder in der Form, daß mir ganz allgemein
gesagt wird: Du sollst deine Pflicht tun. Was im einzelnen Fall meine Pflicht
ist, das ist durchaus unbestimmt. Oder aber man konstruiert einen allgemeinen
Pflichtenkodex, der unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Pflichten
normiert. So oder so -- im Einzelfalle steht der Mensch ratlos dem abstrakten
Begriffe der Pflicht oder der kasuistisch angelegten Pflichtensammlung gegen-
über. Er handelt eben, bewußt oder unbewußt, auch heute schon so, wie
Allostis uns die Pflicht erklärt.

Jnsofern stellt nun Allostis überhaupt keine ethischen Verhaltungsmaß-
regeln mehr auf: er kennt weder einen freien Willen noch eine von Natur
bedingte Schlechtigkeit des menschlichen Willens, sondern er sieht nur Menfchen,
die nach möglichst großem Glück streben. Jeder verfolgt mit seinem Streben
sein persönliches Glück, und bei der Verschiedenheit der Menschen und ihrer
Lebensverhältnisse gibt es ebensoviel Glückszustände, als Menschen vorhanden
sind. Kommen wir aber bei dieser Betrachtungsweise, bei der jedes autoritäre
"Du sollst!" wegfällt, bei der jeder einzelne Mensch selbst seine Pflichten zu
bestimmen hat, nicht zu einem Rückfall der Menschheit in einen Zustand der
Unkultur und Barbarei? Wird es nicht soweit kommen, daß alle Menschen
sich nur noch von den Trieben des Augenblicks leiten lassen?

Dahin würde vielleicht der Weg führen, wenn die Menschen nicht aus
der Erfahrung die verheerenden Wirkungen der blinden Triebe auf ihr eigenes
Glück kennen würden und kennen gelernt hätten. Gewiß ist die Kraft der
Menschen, ihre besondere Triebe zu zügeln und sie durch die Vernunft zu zügeln
und zu leiten, graduell sehr verschieden. Aber die steigende Erkenntnis der
Wege, die zur Erfüllung des persönlichen Glücks führen, lehrt uns immer mehr
die Gefahren, die uns durch Nachgiebigkeit gegen die blinden Triebe des Augen-
blicks bedrohen. "Das Kind, der unerfahrene oder dumme Mensch läßt sich
von den Trieben des Augenblicks leiten. Er tut alles, was ihm gerade Freude
macht, und tut ungezwungen nichts, was mit Unlust verbunden ist. Er kennt
weder Pflicht noch Pflichten. Allmählich lehrt ihn die Erfahrung, das Streben

Richard Calwer: Die Tugend des Genusses.
Fehlt aber bei der Erreichung eines Zweckes die Liebe oder erkaltet sie, nach-
dem sie zunächst vorhanden war, so fällt damit das Streben nach einem be-
stimmten Zweck meist weg; will ich ihn freilich dann noch erreichen, so muß
ich mich zwingen zu dem Tun oder Lassen, zu dem mich sonst die Liebe ganz
von selbst getrieben hat.

Das Pflichtgefühl, sein Maß und Jnhalt wird durch die Zwecke bestimmt.
Wer kein Pflichtgefühl hat, der will entweder nicht die Zwecke oder kümmert
sich nicht um sie, oder er will die Zwecke, verkennt aber die Mittel.

Der blut= und fleischlose kategorische Jmperativ Kants mit seinem un-
bestimmten „Du sollst!“ kann keinem Menschen sagen, was seine Pflicht ist,
kann ihm keinen Zweifel bei widerstreitenden Fragen lösen. Jm Lichte unserer
Erkenntnis aber finden wir immer und leicht den richtigen Weg. Denn die
Zwecke der Einrichtungen des menschlichen Lebens sind unseren Augen nicht
verschlossen, und wer des Gefühls der Liebe nicht ganz unfähig ist, der hat
den sichersten Wegweiser in seinem Herzen. Wer nie in seinem Leben den
Hauch der Liebe verspürt hat, wem auch nie die Ahnungen von ihrem Glück
die Sehnsucht nach ihr geweckt haben, der bleibt auch des Pflichtgefühles bar.
Aber auch er kann lernen, was seine Pflicht ist. Kann er sie nicht an der
Liebe, nicht mit dem Herzen, messen, so kann er sie an den Zwecken, mit dem
Kopfe, erkennen.

Das aber ist die Frage, die sich vorlegen soll, wer den Willen hat, seine
Pflicht zu tun:

Wie würde ich handeln, wenn ich liebte?

Nach der bisherigen Auffassung tritt die Pflicht als ein starres Gebot
an mich von außen heran, entweder in der Form, daß mir ganz allgemein
gesagt wird: Du sollst deine Pflicht tun. Was im einzelnen Fall meine Pflicht
ist, das ist durchaus unbestimmt. Oder aber man konstruiert einen allgemeinen
Pflichtenkodex, der unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Pflichten
normiert. So oder so — im Einzelfalle steht der Mensch ratlos dem abstrakten
Begriffe der Pflicht oder der kasuistisch angelegten Pflichtensammlung gegen-
über. Er handelt eben, bewußt oder unbewußt, auch heute schon so, wie
Allostis uns die Pflicht erklärt.

Jnsofern stellt nun Allostis überhaupt keine ethischen Verhaltungsmaß-
regeln mehr auf: er kennt weder einen freien Willen noch eine von Natur
bedingte Schlechtigkeit des menschlichen Willens, sondern er sieht nur Menfchen,
die nach möglichst großem Glück streben. Jeder verfolgt mit seinem Streben
sein persönliches Glück, und bei der Verschiedenheit der Menschen und ihrer
Lebensverhältnisse gibt es ebensoviel Glückszustände, als Menschen vorhanden
sind. Kommen wir aber bei dieser Betrachtungsweise, bei der jedes autoritäre
„Du sollst!“ wegfällt, bei der jeder einzelne Mensch selbst seine Pflichten zu
bestimmen hat, nicht zu einem Rückfall der Menschheit in einen Zustand der
Unkultur und Barbarei? Wird es nicht soweit kommen, daß alle Menschen
sich nur noch von den Trieben des Augenblicks leiten lassen?

Dahin würde vielleicht der Weg führen, wenn die Menschen nicht aus
der Erfahrung die verheerenden Wirkungen der blinden Triebe auf ihr eigenes
Glück kennen würden und kennen gelernt hätten. Gewiß ist die Kraft der
Menschen, ihre besondere Triebe zu zügeln und sie durch die Vernunft zu zügeln
und zu leiten, graduell sehr verschieden. Aber die steigende Erkenntnis der
Wege, die zur Erfüllung des persönlichen Glücks führen, lehrt uns immer mehr
die Gefahren, die uns durch Nachgiebigkeit gegen die blinden Triebe des Augen-
blicks bedrohen. „Das Kind, der unerfahrene oder dumme Mensch läßt sich
von den Trieben des Augenblicks leiten. Er tut alles, was ihm gerade Freude
macht, und tut ungezwungen nichts, was mit Unlust verbunden ist. Er kennt
weder Pflicht noch Pflichten. Allmählich lehrt ihn die Erfahrung, das Streben

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[360/0024] Richard Calwer: Die Tugend des Genusses. Fehlt aber bei der Erreichung eines Zweckes die Liebe oder erkaltet sie, nach- dem sie zunächst vorhanden war, so fällt damit das Streben nach einem be- stimmten Zweck meist weg; will ich ihn freilich dann noch erreichen, so muß ich mich zwingen zu dem Tun oder Lassen, zu dem mich sonst die Liebe ganz von selbst getrieben hat. Das Pflichtgefühl, sein Maß und Jnhalt wird durch die Zwecke bestimmt. Wer kein Pflichtgefühl hat, der will entweder nicht die Zwecke oder kümmert sich nicht um sie, oder er will die Zwecke, verkennt aber die Mittel. Der blut= und fleischlose kategorische Jmperativ Kants mit seinem un- bestimmten „Du sollst!“ kann keinem Menschen sagen, was seine Pflicht ist, kann ihm keinen Zweifel bei widerstreitenden Fragen lösen. Jm Lichte unserer Erkenntnis aber finden wir immer und leicht den richtigen Weg. Denn die Zwecke der Einrichtungen des menschlichen Lebens sind unseren Augen nicht verschlossen, und wer des Gefühls der Liebe nicht ganz unfähig ist, der hat den sichersten Wegweiser in seinem Herzen. Wer nie in seinem Leben den Hauch der Liebe verspürt hat, wem auch nie die Ahnungen von ihrem Glück die Sehnsucht nach ihr geweckt haben, der bleibt auch des Pflichtgefühles bar. Aber auch er kann lernen, was seine Pflicht ist. Kann er sie nicht an der Liebe, nicht mit dem Herzen, messen, so kann er sie an den Zwecken, mit dem Kopfe, erkennen. Das aber ist die Frage, die sich vorlegen soll, wer den Willen hat, seine Pflicht zu tun: „ Wie würde ich handeln, wenn ich liebte? “ Nach der bisherigen Auffassung tritt die Pflicht als ein starres Gebot an mich von außen heran, entweder in der Form, daß mir ganz allgemein gesagt wird: Du sollst deine Pflicht tun. Was im einzelnen Fall meine Pflicht ist, das ist durchaus unbestimmt. Oder aber man konstruiert einen allgemeinen Pflichtenkodex, der unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Pflichten normiert. So oder so — im Einzelfalle steht der Mensch ratlos dem abstrakten Begriffe der Pflicht oder der kasuistisch angelegten Pflichtensammlung gegen- über. Er handelt eben, bewußt oder unbewußt, auch heute schon so, wie Allostis uns die Pflicht erklärt. Jnsofern stellt nun Allostis überhaupt keine ethischen Verhaltungsmaß- regeln mehr auf: er kennt weder einen freien Willen noch eine von Natur bedingte Schlechtigkeit des menschlichen Willens, sondern er sieht nur Menfchen, die nach möglichst großem Glück streben. Jeder verfolgt mit seinem Streben sein persönliches Glück, und bei der Verschiedenheit der Menschen und ihrer Lebensverhältnisse gibt es ebensoviel Glückszustände, als Menschen vorhanden sind. Kommen wir aber bei dieser Betrachtungsweise, bei der jedes autoritäre „Du sollst!“ wegfällt, bei der jeder einzelne Mensch selbst seine Pflichten zu bestimmen hat, nicht zu einem Rückfall der Menschheit in einen Zustand der Unkultur und Barbarei? Wird es nicht soweit kommen, daß alle Menschen sich nur noch von den Trieben des Augenblicks leiten lassen? Dahin würde vielleicht der Weg führen, wenn die Menschen nicht aus der Erfahrung die verheerenden Wirkungen der blinden Triebe auf ihr eigenes Glück kennen würden und kennen gelernt hätten. Gewiß ist die Kraft der Menschen, ihre besondere Triebe zu zügeln und sie durch die Vernunft zu zügeln und zu leiten, graduell sehr verschieden. Aber die steigende Erkenntnis der Wege, die zur Erfüllung des persönlichen Glücks führen, lehrt uns immer mehr die Gefahren, die uns durch Nachgiebigkeit gegen die blinden Triebe des Augen- blicks bedrohen. „Das Kind, der unerfahrene oder dumme Mensch läßt sich von den Trieben des Augenblicks leiten. Er tut alles, was ihm gerade Freude macht, und tut ungezwungen nichts, was mit Unlust verbunden ist. Er kennt weder Pflicht noch Pflichten. Allmählich lehrt ihn die Erfahrung, das Streben

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905/24>, abgerufen am 24.11.2024.