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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.

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Richard Calwer: Die Tugend des Genusses.
lenken. Und wenn diese wenigen dann noch bemerken müssen, daß der Herr
Professor, der ex cathedra verurteilt hat, den Autor eines Buches nicht ver-
standen hat oder nicht hat verstehen wollen oder vielleicht das Buch des be-
treffenden Autors nicht einmal gelesen hat, dann kommt man zu dem trüben
Schluß, daß die Pächter der Wissenschaft von dem Streben nach Wahrheit nur
wenig beherrscht sein können. Mag das Buch von Allostis an noch so vielen
Fehlern leiden, die ihm die Fachgelehrten vorhalten mögen, soviel sie wollen,
der philosophische Drang, der aus dem Buche spricht und der sich in der
Bildung einer in sich geschlossenen Weltanschauung äußert, spricht so mächtig
aus jeder Seite des Buches, daß allein schon dadurch noch der trockenste und
ledernste Professor der Philosophie sich angeregt und erfrischt fühlen müßte.

Aber vielleicht verlange ich zuviel: Allostis hat in den Augen der
zünftigen Gelehrten eine Todsünde begangen: er hat in seinem Erstlingswerk
im Gebiet der Philosophie eine Bekämpfung Kants gewagt. Dies Unterfangen
ist um so weniger zu verwerfen, wenn fast zur selben Zeit ein Mann der
Wissenschaft ein langes, arbeitsames Leben in den Dienst der Lösung der
schwierigsten und fundamentalsten Probleme der Philosophie gestellt hat und
dann endlich dazu übergeht, die Resultate, zu denen er gelangt ist, den Mit-
forschern zur sachlich=wissenschaftlichen Kritik zu unterbreiten. Wie kann es da
ein philosophischer Anhänger wagen, auf verhältnismäßig wenigen Seiten Kant
widerlegen zu wollen? Armer Allostis! wie kannst du es verantworten, zu
fragen und zu forschen und deinen eigenen Weg zu gehen, ohne auf die heute
maßgebenden Autoritäten zu achten, die immer die Welt mit anderen Augen
angesehen haben und durch deren Augen die Fachgelehrten ausschließlich noch
zu sehen gewohnt sind.

Allostis geht nun aber trotzdem seinen eigenen Weg, und wer ihm von
Anfang an folgt, wer mit ihm denkt, der wird sich des Eindrucks nicht erwehren
können, daß ihm der Versuch, die höchsten Probleme des menschlichen Lebens
aus einer Wurzel heraus zu erklären, gelungen ist. Jch stimme mit den Vor-
aussetzungen, auf denen Allostis seine Weltanschauung basiert, durchaus nicht
überein. -- Die Fundamentierung seiner Voraussetzungen ist mir nicht breit
genug angelegt, auch sind die einzelnen Voraussetzungen für mich nicht durch-
weg zwingend, aber ich hatte nach der Lektüre des Buches den Eindruck: wir
haben es hier mit einer bedeutenden Pionierarbeit zu tun, die uns die Mög-
lichkeit einer Ethik auf rein empirischer Grundlage zeigt. Schon früher sind
die herkömmlichen ethischen Begriffe und ihre Begründung über Bord geworfen
worden, aber an ihrer Stelle gähnte dann eine unbefriedigende Leere. Allostis
verspricht diese Leere auszufüllen und wie er es tut, das bedeutet einen erheb-
lichen Fortschritt, wenn nicht für die Wissenschaft, so ganz gewiß doch für die
Lebenspraxis.

Wenn ihm z. B. vorgeworfen wird, daß er die Pflicht zum alten Eisen
werfe, so kommt das insofern, als er den Begriff der Pflicht, wie er bisher
Geltung hatte, allerdings gänzlich fallen läßt. Nichts desto weniger kennt
aber die Weltanschauung von Allostis Pflichten, die sich für jeden einzelnen
Menschen, je nach seiner intellektuellen Bildung und nach seiner natürlichen
Jndividualität ergeben. Die Pflicht ist ihm kein toter, starrer Begriff, der
dem Menschen von außen her aufgezwungen wird, sondern sie ist ihm ein
Resultat eines durch die Erkenntnis geläuterten zweckentsprechenden Willens.
Die Verschiedenheit der Menschen, ihrer Vorstellungen und ihrer Zwecke schließt
einen allgemein giltigen Pflichtenkodex aus. Das menschliche Handeln wird
durch Zwecke bestimmt, deren Erreichung das persönliche Glück erhöhen soll.
Treibt den Menschen die Liebe, einen Zweck zu erreichen, so braucht er die
Pflicht nicht, er wird mit Freude alles das tun, was die Erreichung des
Zweckes fördert, und alles unterlassen, was die Erreichung gefährdet oder stört.

Richard Calwer: Die Tugend des Genusses.
lenken. Und wenn diese wenigen dann noch bemerken müssen, daß der Herr
Professor, der ex cathedra verurteilt hat, den Autor eines Buches nicht ver-
standen hat oder nicht hat verstehen wollen oder vielleicht das Buch des be-
treffenden Autors nicht einmal gelesen hat, dann kommt man zu dem trüben
Schluß, daß die Pächter der Wissenschaft von dem Streben nach Wahrheit nur
wenig beherrscht sein können. Mag das Buch von Allostis an noch so vielen
Fehlern leiden, die ihm die Fachgelehrten vorhalten mögen, soviel sie wollen,
der philosophische Drang, der aus dem Buche spricht und der sich in der
Bildung einer in sich geschlossenen Weltanschauung äußert, spricht so mächtig
aus jeder Seite des Buches, daß allein schon dadurch noch der trockenste und
ledernste Professor der Philosophie sich angeregt und erfrischt fühlen müßte.

Aber vielleicht verlange ich zuviel: Allostis hat in den Augen der
zünftigen Gelehrten eine Todsünde begangen: er hat in seinem Erstlingswerk
im Gebiet der Philosophie eine Bekämpfung Kants gewagt. Dies Unterfangen
ist um so weniger zu verwerfen, wenn fast zur selben Zeit ein Mann der
Wissenschaft ein langes, arbeitsames Leben in den Dienst der Lösung der
schwierigsten und fundamentalsten Probleme der Philosophie gestellt hat und
dann endlich dazu übergeht, die Resultate, zu denen er gelangt ist, den Mit-
forschern zur sachlich=wissenschaftlichen Kritik zu unterbreiten. Wie kann es da
ein philosophischer Anhänger wagen, auf verhältnismäßig wenigen Seiten Kant
widerlegen zu wollen? Armer Allostis! wie kannst du es verantworten, zu
fragen und zu forschen und deinen eigenen Weg zu gehen, ohne auf die heute
maßgebenden Autoritäten zu achten, die immer die Welt mit anderen Augen
angesehen haben und durch deren Augen die Fachgelehrten ausschließlich noch
zu sehen gewohnt sind.

Allostis geht nun aber trotzdem seinen eigenen Weg, und wer ihm von
Anfang an folgt, wer mit ihm denkt, der wird sich des Eindrucks nicht erwehren
können, daß ihm der Versuch, die höchsten Probleme des menschlichen Lebens
aus einer Wurzel heraus zu erklären, gelungen ist. Jch stimme mit den Vor-
aussetzungen, auf denen Allostis seine Weltanschauung basiert, durchaus nicht
überein. — Die Fundamentierung seiner Voraussetzungen ist mir nicht breit
genug angelegt, auch sind die einzelnen Voraussetzungen für mich nicht durch-
weg zwingend, aber ich hatte nach der Lektüre des Buches den Eindruck: wir
haben es hier mit einer bedeutenden Pionierarbeit zu tun, die uns die Mög-
lichkeit einer Ethik auf rein empirischer Grundlage zeigt. Schon früher sind
die herkömmlichen ethischen Begriffe und ihre Begründung über Bord geworfen
worden, aber an ihrer Stelle gähnte dann eine unbefriedigende Leere. Allostis
verspricht diese Leere auszufüllen und wie er es tut, das bedeutet einen erheb-
lichen Fortschritt, wenn nicht für die Wissenschaft, so ganz gewiß doch für die
Lebenspraxis.

Wenn ihm z. B. vorgeworfen wird, daß er die Pflicht zum alten Eisen
werfe, so kommt das insofern, als er den Begriff der Pflicht, wie er bisher
Geltung hatte, allerdings gänzlich fallen läßt. Nichts desto weniger kennt
aber die Weltanschauung von Allostis Pflichten, die sich für jeden einzelnen
Menschen, je nach seiner intellektuellen Bildung und nach seiner natürlichen
Jndividualität ergeben. Die Pflicht ist ihm kein toter, starrer Begriff, der
dem Menschen von außen her aufgezwungen wird, sondern sie ist ihm ein
Resultat eines durch die Erkenntnis geläuterten zweckentsprechenden Willens.
Die Verschiedenheit der Menschen, ihrer Vorstellungen und ihrer Zwecke schließt
einen allgemein giltigen Pflichtenkodex aus. Das menschliche Handeln wird
durch Zwecke bestimmt, deren Erreichung das persönliche Glück erhöhen soll.
Treibt den Menschen die Liebe, einen Zweck zu erreichen, so braucht er die
Pflicht nicht, er wird mit Freude alles das tun, was die Erreichung des
Zweckes fördert, und alles unterlassen, was die Erreichung gefährdet oder stört.

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[359/0023] Richard Calwer: Die Tugend des Genusses. lenken. Und wenn diese wenigen dann noch bemerken müssen, daß der Herr Professor, der ex cathedra verurteilt hat, den Autor eines Buches nicht ver- standen hat oder nicht hat verstehen wollen oder vielleicht das Buch des be- treffenden Autors nicht einmal gelesen hat, dann kommt man zu dem trüben Schluß, daß die Pächter der Wissenschaft von dem Streben nach Wahrheit nur wenig beherrscht sein können. Mag das Buch von Allostis an noch so vielen Fehlern leiden, die ihm die Fachgelehrten vorhalten mögen, soviel sie wollen, der philosophische Drang, der aus dem Buche spricht und der sich in der Bildung einer in sich geschlossenen Weltanschauung äußert, spricht so mächtig aus jeder Seite des Buches, daß allein schon dadurch noch der trockenste und ledernste Professor der Philosophie sich angeregt und erfrischt fühlen müßte. Aber vielleicht verlange ich zuviel: Allostis hat in den Augen der zünftigen Gelehrten eine Todsünde begangen: er hat in seinem Erstlingswerk im Gebiet der Philosophie eine Bekämpfung Kants gewagt. Dies Unterfangen ist um so weniger zu verwerfen, wenn fast zur selben Zeit ein Mann der Wissenschaft ein langes, arbeitsames Leben in den Dienst der Lösung der schwierigsten und fundamentalsten Probleme der Philosophie gestellt hat und dann endlich dazu übergeht, die Resultate, zu denen er gelangt ist, den Mit- forschern zur sachlich=wissenschaftlichen Kritik zu unterbreiten. Wie kann es da ein philosophischer Anhänger wagen, auf verhältnismäßig wenigen Seiten Kant widerlegen zu wollen? Armer Allostis! wie kannst du es verantworten, zu fragen und zu forschen und deinen eigenen Weg zu gehen, ohne auf die heute maßgebenden Autoritäten zu achten, die immer die Welt mit anderen Augen angesehen haben und durch deren Augen die Fachgelehrten ausschließlich noch zu sehen gewohnt sind. Allostis geht nun aber trotzdem seinen eigenen Weg, und wer ihm von Anfang an folgt, wer mit ihm denkt, der wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß ihm der Versuch, die höchsten Probleme des menschlichen Lebens aus einer Wurzel heraus zu erklären, gelungen ist. Jch stimme mit den Vor- aussetzungen, auf denen Allostis seine Weltanschauung basiert, durchaus nicht überein. — Die Fundamentierung seiner Voraussetzungen ist mir nicht breit genug angelegt, auch sind die einzelnen Voraussetzungen für mich nicht durch- weg zwingend, aber ich hatte nach der Lektüre des Buches den Eindruck: wir haben es hier mit einer bedeutenden Pionierarbeit zu tun, die uns die Mög- lichkeit einer Ethik auf rein empirischer Grundlage zeigt. Schon früher sind die herkömmlichen ethischen Begriffe und ihre Begründung über Bord geworfen worden, aber an ihrer Stelle gähnte dann eine unbefriedigende Leere. Allostis verspricht diese Leere auszufüllen und wie er es tut, das bedeutet einen erheb- lichen Fortschritt, wenn nicht für die Wissenschaft, so ganz gewiß doch für die Lebenspraxis. Wenn ihm z. B. vorgeworfen wird, daß er die Pflicht zum alten Eisen werfe, so kommt das insofern, als er den Begriff der Pflicht, wie er bisher Geltung hatte, allerdings gänzlich fallen läßt. Nichts desto weniger kennt aber die Weltanschauung von Allostis Pflichten, die sich für jeden einzelnen Menschen, je nach seiner intellektuellen Bildung und nach seiner natürlichen Jndividualität ergeben. Die Pflicht ist ihm kein toter, starrer Begriff, der dem Menschen von außen her aufgezwungen wird, sondern sie ist ihm ein Resultat eines durch die Erkenntnis geläuterten zweckentsprechenden Willens. Die Verschiedenheit der Menschen, ihrer Vorstellungen und ihrer Zwecke schließt einen allgemein giltigen Pflichtenkodex aus. Das menschliche Handeln wird durch Zwecke bestimmt, deren Erreichung das persönliche Glück erhöhen soll. Treibt den Menschen die Liebe, einen Zweck zu erreichen, so braucht er die Pflicht nicht, er wird mit Freude alles das tun, was die Erreichung des Zweckes fördert, und alles unterlassen, was die Erreichung gefährdet oder stört.

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905/23>, abgerufen am 24.11.2024.