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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.

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Richard Calwer: Die Tugend des Genusses.
miert, das beständig sich in schöpserischen Betätigungen der Phantasie und des
Willens entladet. Nur daß hier natürlich und einheitlich wirkt, was im kirch-
lichen Glauben künstlich und widerspruchsvoll zusammengehalten wurde, und
der Genie=Mensch, der künstlerische wie der religiöse, ist gerade der, in dem
der Jntellekt lebendig und das Leben selber Jntellekt geworden ist, so daß alle
geistigen Funktionen in der Totalität ihrer Wirkungen zur Erscheinung
kommen.

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Die Tugend des Genusses.
Von Richard Calwer, Berlin.

Jn einer Zeit der wissenschaftlichen Zersplitterung und Spezialisierung
wo der gebildete Mensch keine Muße mehr findet, sein philosophisches Bedürfnis
zu befriedigen, wo die Jnteressen des Augenblicks überwuchern und fast nie-
mand sich Rechenschaft ablegt, warum der Mensch eigentlich lebt, in einer Zeit
der schärssten sozialen Kämpfe, während deren höchstens die Sehnsucht nach
harmonisch=ruhigem Genusse des Lebens sich hervorwagen kann, -- in einer
solchen Zeit finden Bücher, die die Notwendigkeit einer philosophischen Welt-
anschauung für die Gebildeten in Wort und Schrift predigen, nur wenig Anklang.

Jch las vor kurzem ein Buch*), dessen Jnhalt den aktuellen Tagesfragen
so fern steht, daß ich mir sofort sagte, ihm wird der Resonanzboden in der
Öffentlichkeit fehlen. Jch habe mit Ausnahme der "Frankfurter Zeitung" das
Buch bis jetzt auch noch nirgends in der Presse eingehend besprochen gefunden.
Und in der "Frankfurter Zeitung" rief schon seine erste kurze Erwähnung eine
wenig wohlmeinende Kritik eines Fachgelehrten hervor. Nun gestehe ich offen,
daß ich hier nicht als Fachgelehrter, sondern als ganz einfacher Laie meinen
Eindruck über den Jnhalt des Buches wiedergeben will, aber ich kann nicht
umhin, einige Bemerkungen über die Vorurteile der zünftigen Fachgelehrten,
die gerade aus Anlaß der Polemik eines akademischen Professors der Philosophie
gegen das erwähnte Buch von Allostis wieder so deutlich sich geäußert haben,
der Besprechung des Buches vorauszuschicken.

Allostis unternimmt in seinem Buche einen entscheidenden Angriff auf
Kants kategorischen Jmperativ. Ob man Allostis nun folgt oder nicht, jeden-
falls sollte man billigerweise seine Ausführungen lesen, bevor man sie mit
einer leichten Handbewegung von oben herab als unwissenschaftlich abtut. Jch
verstehe wohl, daß der zünftige Fachgelehrte, der die Schätze philosophischen
Denkens verwaltet und pflegt, Gedanken und Bücher unbeachtet liegen läßt,
die nicht schon rein äußerlich den Stempel fachwissenschaftlicher Gelehrsamkeit
tragen. Was ich aber nicht begreifen kann, ist das Bedürfnis der Fachgelehrten,
solche Bücher, die nach ihrer Ansicht für den Betrieb der Wissenschaft doch
wert= und zwecklos sind, gewissermaßen zu ächten und dadurch erst recht das
Jnteresse wenigstens eines kleinen Teils des gebildeten Publikums auf sie zu

*) Allostis, Die Tugend des Genusses, Jena bei Costenoble 1904.

Richard Calwer: Die Tugend des Genusses.
miert, das beständig sich in schöpserischen Betätigungen der Phantasie und des
Willens entladet. Nur daß hier natürlich und einheitlich wirkt, was im kirch-
lichen Glauben künstlich und widerspruchsvoll zusammengehalten wurde, und
der Genie=Mensch, der künstlerische wie der religiöse, ist gerade der, in dem
der Jntellekt lebendig und das Leben selber Jntellekt geworden ist, so daß alle
geistigen Funktionen in der Totalität ihrer Wirkungen zur Erscheinung
kommen.

[Abbildung]
Die Tugend des Genusses.
Von Richard Calwer, Berlin.

Jn einer Zeit der wissenschaftlichen Zersplitterung und Spezialisierung
wo der gebildete Mensch keine Muße mehr findet, sein philosophisches Bedürfnis
zu befriedigen, wo die Jnteressen des Augenblicks überwuchern und fast nie-
mand sich Rechenschaft ablegt, warum der Mensch eigentlich lebt, in einer Zeit
der schärssten sozialen Kämpfe, während deren höchstens die Sehnsucht nach
harmonisch=ruhigem Genusse des Lebens sich hervorwagen kann, — in einer
solchen Zeit finden Bücher, die die Notwendigkeit einer philosophischen Welt-
anschauung für die Gebildeten in Wort und Schrift predigen, nur wenig Anklang.

Jch las vor kurzem ein Buch*), dessen Jnhalt den aktuellen Tagesfragen
so fern steht, daß ich mir sofort sagte, ihm wird der Resonanzboden in der
Öffentlichkeit fehlen. Jch habe mit Ausnahme der „Frankfurter Zeitung“ das
Buch bis jetzt auch noch nirgends in der Presse eingehend besprochen gefunden.
Und in der „Frankfurter Zeitung“ rief schon seine erste kurze Erwähnung eine
wenig wohlmeinende Kritik eines Fachgelehrten hervor. Nun gestehe ich offen,
daß ich hier nicht als Fachgelehrter, sondern als ganz einfacher Laie meinen
Eindruck über den Jnhalt des Buches wiedergeben will, aber ich kann nicht
umhin, einige Bemerkungen über die Vorurteile der zünftigen Fachgelehrten,
die gerade aus Anlaß der Polemik eines akademischen Professors der Philosophie
gegen das erwähnte Buch von Allostis wieder so deutlich sich geäußert haben,
der Besprechung des Buches vorauszuschicken.

Allostis unternimmt in seinem Buche einen entscheidenden Angriff auf
Kants kategorischen Jmperativ. Ob man Allostis nun folgt oder nicht, jeden-
falls sollte man billigerweise seine Ausführungen lesen, bevor man sie mit
einer leichten Handbewegung von oben herab als unwissenschaftlich abtut. Jch
verstehe wohl, daß der zünftige Fachgelehrte, der die Schätze philosophischen
Denkens verwaltet und pflegt, Gedanken und Bücher unbeachtet liegen läßt,
die nicht schon rein äußerlich den Stempel fachwissenschaftlicher Gelehrsamkeit
tragen. Was ich aber nicht begreifen kann, ist das Bedürfnis der Fachgelehrten,
solche Bücher, die nach ihrer Ansicht für den Betrieb der Wissenschaft doch
wert= und zwecklos sind, gewissermaßen zu ächten und dadurch erst recht das
Jnteresse wenigstens eines kleinen Teils des gebildeten Publikums auf sie zu

*) Allostis, Die Tugend des Genusses, Jena bei Costenoble 1904.
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[358/0022] Richard Calwer: Die Tugend des Genusses. miert, das beständig sich in schöpserischen Betätigungen der Phantasie und des Willens entladet. Nur daß hier natürlich und einheitlich wirkt, was im kirch- lichen Glauben künstlich und widerspruchsvoll zusammengehalten wurde, und der Genie=Mensch, der künstlerische wie der religiöse, ist gerade der, in dem der Jntellekt lebendig und das Leben selber Jntellekt geworden ist, so daß alle geistigen Funktionen in der Totalität ihrer Wirkungen zur Erscheinung kommen. [Abbildung] Die Tugend des Genusses. Von Richard Calwer, Berlin. Jn einer Zeit der wissenschaftlichen Zersplitterung und Spezialisierung wo der gebildete Mensch keine Muße mehr findet, sein philosophisches Bedürfnis zu befriedigen, wo die Jnteressen des Augenblicks überwuchern und fast nie- mand sich Rechenschaft ablegt, warum der Mensch eigentlich lebt, in einer Zeit der schärssten sozialen Kämpfe, während deren höchstens die Sehnsucht nach harmonisch=ruhigem Genusse des Lebens sich hervorwagen kann, — in einer solchen Zeit finden Bücher, die die Notwendigkeit einer philosophischen Welt- anschauung für die Gebildeten in Wort und Schrift predigen, nur wenig Anklang. Jch las vor kurzem ein Buch *), dessen Jnhalt den aktuellen Tagesfragen so fern steht, daß ich mir sofort sagte, ihm wird der Resonanzboden in der Öffentlichkeit fehlen. Jch habe mit Ausnahme der „Frankfurter Zeitung“ das Buch bis jetzt auch noch nirgends in der Presse eingehend besprochen gefunden. Und in der „Frankfurter Zeitung“ rief schon seine erste kurze Erwähnung eine wenig wohlmeinende Kritik eines Fachgelehrten hervor. Nun gestehe ich offen, daß ich hier nicht als Fachgelehrter, sondern als ganz einfacher Laie meinen Eindruck über den Jnhalt des Buches wiedergeben will, aber ich kann nicht umhin, einige Bemerkungen über die Vorurteile der zünftigen Fachgelehrten, die gerade aus Anlaß der Polemik eines akademischen Professors der Philosophie gegen das erwähnte Buch von Allostis wieder so deutlich sich geäußert haben, der Besprechung des Buches vorauszuschicken. Allostis unternimmt in seinem Buche einen entscheidenden Angriff auf Kants kategorischen Jmperativ. Ob man Allostis nun folgt oder nicht, jeden- falls sollte man billigerweise seine Ausführungen lesen, bevor man sie mit einer leichten Handbewegung von oben herab als unwissenschaftlich abtut. Jch verstehe wohl, daß der zünftige Fachgelehrte, der die Schätze philosophischen Denkens verwaltet und pflegt, Gedanken und Bücher unbeachtet liegen läßt, die nicht schon rein äußerlich den Stempel fachwissenschaftlicher Gelehrsamkeit tragen. Was ich aber nicht begreifen kann, ist das Bedürfnis der Fachgelehrten, solche Bücher, die nach ihrer Ansicht für den Betrieb der Wissenschaft doch wert= und zwecklos sind, gewissermaßen zu ächten und dadurch erst recht das Jnteresse wenigstens eines kleinen Teils des gebildeten Publikums auf sie zu *) Allostis, Die Tugend des Genusses, Jena bei Costenoble 1904.

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905/22>, abgerufen am 24.11.2024.