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Allgemeine Zeitung. Nr. 80. Augsburg (Bayern), 21. März 1871.

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[Spaltenumbruch] des Volkes ließen die Truppen die Fortschaffung der Mitrailleusen zu.
Auf Montmartre fraternisirte die Linie mit der Nationalgarde. Auf dem
Platze Pigalle wollte ein Chasseur=Lieutenant sich von der umdrängenden
Menge losmachen, und machte dabei drohende Bewegungen mit dem Säbel,
worauf ihn das Volk tödtete. Beiderseits fielen darauf Flintenschüsse, wo-
bei mehrere verwundet wurden. Die Linientruppen verließen ihre Stel-
lungen und fraternisirten mit dem Volke, welches sich zweier Mitrailleusen
bemächtigte. Viele Bataillone Nationalgarde ziehen nach Montmartre,
alle den Gewehrkolben nach oben haltend, mit dem Rufe: "Es lebe die
Republik!"

( * ) Paris, 18 März, Abends. Die Lage hat sich nicht wesentlich
geändert. Die Stimmung ist noch sehr erregt. Die Militärbehörde hat
die Truppen, soweit möglich, aus den aufrührerischen Faubourgs zurück-
gezogen. General Farron, welcher auf Montmartre mit mehreren Truppen
eingeschlossen war, hat sich durchgeschlagen, wobei die Truppen, da sie
die Barricaden überstiegen, vom Bajonnette Gebrauch machten. General
Comte und mehrere andere Officiere werden vermißt; sie sind wahrschein-
lich im Chateau Rouge gefangen. Ein Generalstabsofficier wurde mit
dem Bajonnett niedergestoßen; General Paturel ist verwundet. Auf Mont-
martre, in Belleville und St. Antoine werden Barricaden erbaut. Die Truppen
hatten auf Montmartre 40 Geschütze genommen, wovon die Aufständischen
am Morgen 5 wiedernahmen ohne Widerstand von Seite der Linientruppen.
Die Regierung erließ eine Proclamation an die Nationalgarde, worin es
heißt: "Man verbreitet das absurde Gerücht die Regierung beabsichtige einen
Staatsstreich; indessen die Regierung der Republik hat keinen andern Zweck,
und kann keinen andern haben, als das Heil der Republik. Die getroffenen Maß-
regeln waren unumgänglich nothwendig, denn die Regierung wollte und will
ein Ende machen mit jenem Jnsurrectionscomit e, dessen Mitglieder fast sämmt-
lich der Bevölkerung unbekannt sind. Dieselben vertreten communistische
Doctrinen; sie würden Paris der Plünderung überantworten und aus
Frankreich ein großes Grab machen, wenn nicht die Nationalgarde und die
Armee sich erheben und gemeinschaftlich das Vaterland, die Republik ver-
theidigen." -- Picard hat in einer Proclamation die Nationalgarde aufge-
fordert zu den Waffen zu eilen, um die Herrschaft der Gesetze wiederher-
zustellen und die Republik vor der Anarchie zu bewahren.

( * ) Paris, 18 März, Abends 9 Uhr. Das Journal "l' Avant-
garde " bringt in einer Extra = Ausgabe von 7 Uhr Abends die Nachricht,
daß die Generale Lecomte und Clement Thomas von den Jnsurgenten
auf Montmartre um 4 Uhr Abends nach summarischem Verfahren füsillirt
worden seien. Die Nachricht entbehrt jedoch einer anderweitigen Bestätigung.
General Vinoy mit seinem Stab und mit sämmtlichen Linientruppen und
Gendarmerie hat sich auf das linke Seine = Ufer zurückgezogen und es der
Nationalgarde überlassen die Ordnung wiederherzustellen. Die Natio-
nalgarde ist an verschiedenen Punkten gesammelt. Auf den Boulevards
zahlreiche Gruppen; die Läden geschlossen; seit 6 Uhr der Omnibusver-
kehr eingestellt. Der Barricadenbau in den Faubourgs dauert fort. Ein
weiterer Zusammenstoß hat, soweit die Meldungen reichen, nicht stattge-
funden.

( * ) Florenz, 19 März. Die Zeitungen veröffentlichen ein Breve
des Papstes an den Cardinal Patrizi, Dekan des Cardinalcollegiums,
worin sich der Papst zu Gunsten der Jesuiten ausspricht, aber erklärt: er
unterliege nicht dem Einfluß derselben. Der Papst weist darin die Garantien-
gesetze zurück welche die italienische Regierung der Deputirtenkammer vor-
legte, und drückt sein Mißfallen über die Amendements aus welche die
Kammer dem Gesetz beifügte.

( * ) Bukarest, 19 März. Die Kammer hat in der Eisenbahnfrage
den Antrag des Generals Flores angenommen, nach welchem die Ent-
scheidung aller Differenzen theils einem Schiedsgericht, theils dem gesetzt
lichen Richterspruch überlassen wird, und ist dann unter Verweisung aller
übrigen Anträge, also auch jenes der Commission, zur Tagesordnung
übergegangen.

Weitere Telegramme siehe letzte Seite.
Die Störung der deutschen Siegesfeier in Zürich und ihre
Lehren.
I.

*** Zürich, Mitte März. Telegramme und Correspondenzen haben
bereits nach allen Seiten hin über die schmachvolle Störung der deutschen Frie-
densfeier in Zürich berichtet, an welche sich auch noch an den beiden nächsten
Tagen blutige Tumulte mit mehreren Todten und vielen Verwundeten
reihten, bis am vierten Tag eidgenössische Jntervention und massenhaftes
Aufgebot von Truppen die Ruhe vorläufig wiederhergestellt hat. Die Tage
vom 9 bis 12 März waren Tage tiefer Schmach und Schande für den
Kanton Zürich, und werden die Gedanken der Deutschen und der Schweizer
wahrscheinlich noch lange beschäftigen. Eine Versammlung friedliebender
[Spaltenumbruch] deutscher Gelehrter und Studierender, Geschäftsleute und Arbeiter will
sich, an 1000 Mann stark, in Gemeinschaft mit Damen und befreundeten
Schweizern im geschlossenen Kreis auf dem republicanischen Boden der
deutschen Schweiz des wiederhergestellten Friedens freuen; sie miethet sich
ein besonderes Local, in welches nur gegen besondere Karten, auf den Namen
ausgestellt, der Zutritt gestattet ist; sie erhält nicht nur von der Polizei-
behörde, sondern auch von dem Platzcommando die bündigsten Zusiche-
rungen daß, obwohl dem Vernehmen nach Ruhestörungen beabsichtigt seien,
man das Fest ruhig abhalten könne, da für die Ordnung außerhalb durch
die Militärbehörden gesorgt sein werde -- und sie wird trotz dieser Zu-
sicherungen, trotz des friedlichsten Charakters ihres Zusammenseins, der
sich gleich im Anfange des Festes durch den ernsten Lobgesang "Nun danket
alle Gott!" bekundet, von einem tumultuarischen Pöbel auf die gemeinste
Weise insultirt. ( Die weitern Einzelheiten des Tumults sind bekannt und
im wesentlichen von keiner Seite in Abrede gestellt worden. D. R. )

Diese traurigen Ereignisse müssen überall das größte Aufsehen er-
regen und fordern zu einer Untersuchung der tiefern Ursachen und mög-
lichen Folgen auf. Wenn schon jeder gute Schweizer jetzt nur mit Erröthen
an diese Vorgänge denkt, und sich zweifelnd fragt: wozu es führen soll wenn
die persönliche Sicherheit der Bewohner eines Staats so bedroht ist und
die republicanischen Grundrechte der freien Meinungsäußerung und des
Versammlungsrechts so mit Füßen getreten werden, so ist es noch viel be-
greiflicher daß die beleidigten Deutschen, wenn sie zur Feder greifen, ihre
innere Erregung nur schwer bemeistern können. Und doch ziemt es den
Deutschen gerade jetzt mit kaltem Blut in dem Sturm der Leidenschaften
einer von Neid und Haß gegen das Deutsche Reich erfüllten Volksmenge zu
stehen, und von dem Ergebniß der aus den Händen der Züricher Behörden
in die Hände des Bundes übergegangenen Untersuchung die ihnen gebüh-
rende Genugthuung zu erwarten, ehe sie ihr machtvolles Vaterland zum
Einschreiten gegen einen schwächern Nachbar, der selbst im Jnnern krankt
und gährt, veranlassen.

Der tiefere Grund der Ereignisse ist in erster Linie der " Deutschen-
haß," welcher sich schon seit Jahren im stillen, insbesondere im Kanton
Zürich, gegen die zahlreiche deutsche Einwanderung, ihre Berufsconcurrenz
und angebliche "Bevorzugung in der Werkstatt, im Bureau und auf dem
Lehrstuhl" angesammelt hat, und nun in Folge der großen Umgestaltung
der europäischen Machtverhältnisse zum Ausbruch gekommen ist, geschürt
durch die franzosenfreundliche Haltung der schweizerischen Presse im deutsch-
französischen Krieg und durch das Liebäugeln der Gebildeten und Unge-
gebildeten mit der französischen Republik im Gegensatze zum neuen deutschen
Kaiserreich. Der zweite Grund ist die gegenwärtige politische und sociale
Krankheit des Kantons Zürich, welcher gerade wegen seiner innern Wirren
und der Lockerung der staatlichen Disciplin wohl leichter als andere Kan
tone der Schauplatz einer solchen Unthat werden konnte.

Der Kanton Zürich hat in den beiden letzten Jahren den glorreichen
Uebergang von der repräsentativen zur sogenannten reinen Demokratie
vollzogen, deren Hauptmerkmal man in einem dem Volke bis dahin schon
dem Namen nach ganz fremden Ding, dem sogenannten "Referendum"
erblickt, wonach alle wichtigern Gesetze und größern finanziellen Ausgaben
dem souveränen Volke zur Genehmigung vorgelegt werden müssen. Auch
die Wahl der obersten Regierungsbehörde, welche früher durch die kanto-
nalen Vertreter, den sogenannten großen Rath, erfolgte, geschieht jetzt
direct durch das souveräne Volk. Diese politische Umgestaltung wurde vor
zwei Jahren mit einer wüsten Pamphlet=Literatur und dem Losungsworte
"Nieder mit dem Respect!" eröffnet; der bisher im Kanton als herrschend
verschrieenen "Geldwirthschaft" wurde der Krieg erklärt; dem Volk wurde
eine Reihe materieller Erleichterungen, wie Ermäßigung des Salzpreises,
Abschaffung des Schulgeldes, Uebernahme der militärischen Ausrüstung
durch den Staat, versprochen, wofür die Mittel durch eine Progressivbe-
steuerung der Reichen aufgebracht werden sollten; dem mangelnden Credit
der Landwirthschaft sollte durch eine "Staatsbank" abgeholfen werden;
den Arbeitern versprach man ein neues Fabrikgesetz mit Herabsetzung der
Arbeitszeit und Erhöhung des Lohns, während in den Volksversammlungen
gewaltig gegen das Capital gedonnert und von den Führern der Bewegung
auffällig mit der Socialdemokratie geliebäugelt wurde. Mit solchen Mit-
teln gelang es die frühere Regierung zu stürzen und den Kanton Zürich mit
einer neuen Verfassung zu beglücken, welche der preußische Socialdemokrat
J. Jacoby nicht verfehlt hat zum Rang einer Musterverfassung zu erheben.
Die directen Volkswahlen brachten in der That, wenn auch nur mit knapper
Mehrheit, eine neue Schule von Staatsbeglückern ans Ruder, welche es durch
ihre Unfähigkeit zum Regieren allerdings in kürzester Zeit fertig gebracht ha-
ben den Respect vor den Züricher Autoritäten im Jnnern des Staats und
nach außen gründlich zu vernichten. Der neudemokratische Staatsge-
danke hat sehr schlimme Früchte zur Reife gebracht, obgleich die neue Re-
gierung sogar einen besondern neuen Lehrstuhl für sog. "demokratisches"

[Spaltenumbruch] des Volkes ließen die Truppen die Fortschaffung der Mitrailleusen zu.
Auf Montmartre fraternisirte die Linie mit der Nationalgarde. Auf dem
Platze Pigalle wollte ein Chasseur=Lieutenant sich von der umdrängenden
Menge losmachen, und machte dabei drohende Bewegungen mit dem Säbel,
worauf ihn das Volk tödtete. Beiderseits fielen darauf Flintenschüsse, wo-
bei mehrere verwundet wurden. Die Linientruppen verließen ihre Stel-
lungen und fraternisirten mit dem Volke, welches sich zweier Mitrailleusen
bemächtigte. Viele Bataillone Nationalgarde ziehen nach Montmartre,
alle den Gewehrkolben nach oben haltend, mit dem Rufe: „Es lebe die
Republik!“

( * ) Paris, 18 März, Abends. Die Lage hat sich nicht wesentlich
geändert. Die Stimmung ist noch sehr erregt. Die Militärbehörde hat
die Truppen, soweit möglich, aus den aufrührerischen Faubourgs zurück-
gezogen. General Farron, welcher auf Montmartre mit mehreren Truppen
eingeschlossen war, hat sich durchgeschlagen, wobei die Truppen, da sie
die Barricaden überstiegen, vom Bajonnette Gebrauch machten. General
Comte und mehrere andere Officiere werden vermißt; sie sind wahrschein-
lich im Château Rouge gefangen. Ein Generalstabsofficier wurde mit
dem Bajonnett niedergestoßen; General Paturel ist verwundet. Auf Mont-
martre, in Belleville und St. Antoine werden Barricaden erbaut. Die Truppen
hatten auf Montmartre 40 Geschütze genommen, wovon die Aufständischen
am Morgen 5 wiedernahmen ohne Widerstand von Seite der Linientruppen.
Die Regierung erließ eine Proclamation an die Nationalgarde, worin es
heißt: „Man verbreitet das absurde Gerücht die Regierung beabsichtige einen
Staatsstreich; indessen die Regierung der Republik hat keinen andern Zweck,
und kann keinen andern haben, als das Heil der Republik. Die getroffenen Maß-
regeln waren unumgänglich nothwendig, denn die Regierung wollte und will
ein Ende machen mit jenem Jnsurrectionscomit é, dessen Mitglieder fast sämmt-
lich der Bevölkerung unbekannt sind. Dieselben vertreten communistische
Doctrinen; sie würden Paris der Plünderung überantworten und aus
Frankreich ein großes Grab machen, wenn nicht die Nationalgarde und die
Armee sich erheben und gemeinschaftlich das Vaterland, die Republik ver-
theidigen.“ -- Picard hat in einer Proclamation die Nationalgarde aufge-
fordert zu den Waffen zu eilen, um die Herrschaft der Gesetze wiederher-
zustellen und die Republik vor der Anarchie zu bewahren.

( * ) Paris, 18 März, Abends 9 Uhr. Das Journal „l' Avant-
garde “ bringt in einer Extra = Ausgabe von 7 Uhr Abends die Nachricht,
daß die Generale Lecomte und Clément Thomas von den Jnsurgenten
auf Montmartre um 4 Uhr Abends nach summarischem Verfahren füsillirt
worden seien. Die Nachricht entbehrt jedoch einer anderweitigen Bestätigung.
General Vinoy mit seinem Stab und mit sämmtlichen Linientruppen und
Gendarmerie hat sich auf das linke Seine = Ufer zurückgezogen und es der
Nationalgarde überlassen die Ordnung wiederherzustellen. Die Natio-
nalgarde ist an verschiedenen Punkten gesammelt. Auf den Boulevards
zahlreiche Gruppen; die Läden geschlossen; seit 6 Uhr der Omnibusver-
kehr eingestellt. Der Barricadenbau in den Faubourgs dauert fort. Ein
weiterer Zusammenstoß hat, soweit die Meldungen reichen, nicht stattge-
funden.

( * ) Florenz, 19 März. Die Zeitungen veröffentlichen ein Breve
des Papstes an den Cardinal Patrizi, Dekan des Cardinalcollegiums,
worin sich der Papst zu Gunsten der Jesuiten ausspricht, aber erklärt: er
unterliege nicht dem Einfluß derselben. Der Papst weist darin die Garantien-
gesetze zurück welche die italienische Regierung der Deputirtenkammer vor-
legte, und drückt sein Mißfallen über die Amendements aus welche die
Kammer dem Gesetz beifügte.

( * ) Bukarest, 19 März. Die Kammer hat in der Eisenbahnfrage
den Antrag des Generals Flores angenommen, nach welchem die Ent-
scheidung aller Differenzen theils einem Schiedsgericht, theils dem gesetzt
lichen Richterspruch überlassen wird, und ist dann unter Verweisung aller
übrigen Anträge, also auch jenes der Commission, zur Tagesordnung
übergegangen.

Weitere Telegramme siehe letzte Seite.
Die Störung der deutschen Siegesfeier in Zürich und ihre
Lehren.
I.

⁂ Zürich, Mitte März. Telegramme und Correspondenzen haben
bereits nach allen Seiten hin über die schmachvolle Störung der deutschen Frie-
densfeier in Zürich berichtet, an welche sich auch noch an den beiden nächsten
Tagen blutige Tumulte mit mehreren Todten und vielen Verwundeten
reihten, bis am vierten Tag eidgenössische Jntervention und massenhaftes
Aufgebot von Truppen die Ruhe vorläufig wiederhergestellt hat. Die Tage
vom 9 bis 12 März waren Tage tiefer Schmach und Schande für den
Kanton Zürich, und werden die Gedanken der Deutschen und der Schweizer
wahrscheinlich noch lange beschäftigen. Eine Versammlung friedliebender
[Spaltenumbruch] deutscher Gelehrter und Studierender, Geschäftsleute und Arbeiter will
sich, an 1000 Mann stark, in Gemeinschaft mit Damen und befreundeten
Schweizern im geschlossenen Kreis auf dem republicanischen Boden der
deutschen Schweiz des wiederhergestellten Friedens freuen; sie miethet sich
ein besonderes Local, in welches nur gegen besondere Karten, auf den Namen
ausgestellt, der Zutritt gestattet ist; sie erhält nicht nur von der Polizei-
behörde, sondern auch von dem Platzcommando die bündigsten Zusiche-
rungen daß, obwohl dem Vernehmen nach Ruhestörungen beabsichtigt seien,
man das Fest ruhig abhalten könne, da für die Ordnung außerhalb durch
die Militärbehörden gesorgt sein werde -- und sie wird trotz dieser Zu-
sicherungen, trotz des friedlichsten Charakters ihres Zusammenseins, der
sich gleich im Anfange des Festes durch den ernsten Lobgesang „Nun danket
alle Gott!“ bekundet, von einem tumultuarischen Pöbel auf die gemeinste
Weise insultirt. ( Die weitern Einzelheiten des Tumults sind bekannt und
im wesentlichen von keiner Seite in Abrede gestellt worden. D. R. )

Diese traurigen Ereignisse müssen überall das größte Aufsehen er-
regen und fordern zu einer Untersuchung der tiefern Ursachen und mög-
lichen Folgen auf. Wenn schon jeder gute Schweizer jetzt nur mit Erröthen
an diese Vorgänge denkt, und sich zweifelnd fragt: wozu es führen soll wenn
die persönliche Sicherheit der Bewohner eines Staats so bedroht ist und
die republicanischen Grundrechte der freien Meinungsäußerung und des
Versammlungsrechts so mit Füßen getreten werden, so ist es noch viel be-
greiflicher daß die beleidigten Deutschen, wenn sie zur Feder greifen, ihre
innere Erregung nur schwer bemeistern können. Und doch ziemt es den
Deutschen gerade jetzt mit kaltem Blut in dem Sturm der Leidenschaften
einer von Neid und Haß gegen das Deutsche Reich erfüllten Volksmenge zu
stehen, und von dem Ergebniß der aus den Händen der Züricher Behörden
in die Hände des Bundes übergegangenen Untersuchung die ihnen gebüh-
rende Genugthuung zu erwarten, ehe sie ihr machtvolles Vaterland zum
Einschreiten gegen einen schwächern Nachbar, der selbst im Jnnern krankt
und gährt, veranlassen.

Der tiefere Grund der Ereignisse ist in erster Linie der „ Deutschen-
haß,“ welcher sich schon seit Jahren im stillen, insbesondere im Kanton
Zürich, gegen die zahlreiche deutsche Einwanderung, ihre Berufsconcurrenz
und angebliche „Bevorzugung in der Werkstatt, im Bureau und auf dem
Lehrstuhl“ angesammelt hat, und nun in Folge der großen Umgestaltung
der europäischen Machtverhältnisse zum Ausbruch gekommen ist, geschürt
durch die franzosenfreundliche Haltung der schweizerischen Presse im deutsch-
französischen Krieg und durch das Liebäugeln der Gebildeten und Unge-
gebildeten mit der französischen Republik im Gegensatze zum neuen deutschen
Kaiserreich. Der zweite Grund ist die gegenwärtige politische und sociale
Krankheit des Kantons Zürich, welcher gerade wegen seiner innern Wirren
und der Lockerung der staatlichen Disciplin wohl leichter als andere Kan
tone der Schauplatz einer solchen Unthat werden konnte.

Der Kanton Zürich hat in den beiden letzten Jahren den glorreichen
Uebergang von der repräsentativen zur sogenannten reinen Demokratie
vollzogen, deren Hauptmerkmal man in einem dem Volke bis dahin schon
dem Namen nach ganz fremden Ding, dem sogenannten „Referendum“
erblickt, wonach alle wichtigern Gesetze und größern finanziellen Ausgaben
dem souveränen Volke zur Genehmigung vorgelegt werden müssen. Auch
die Wahl der obersten Regierungsbehörde, welche früher durch die kanto-
nalen Vertreter, den sogenannten großen Rath, erfolgte, geschieht jetzt
direct durch das souveräne Volk. Diese politische Umgestaltung wurde vor
zwei Jahren mit einer wüsten Pamphlet=Literatur und dem Losungsworte
„Nieder mit dem Respect!“ eröffnet; der bisher im Kanton als herrschend
verschrieenen „Geldwirthschaft“ wurde der Krieg erklärt; dem Volk wurde
eine Reihe materieller Erleichterungen, wie Ermäßigung des Salzpreises,
Abschaffung des Schulgeldes, Uebernahme der militärischen Ausrüstung
durch den Staat, versprochen, wofür die Mittel durch eine Progressivbe-
steuerung der Reichen aufgebracht werden sollten; dem mangelnden Credit
der Landwirthschaft sollte durch eine „Staatsbank“ abgeholfen werden;
den Arbeitern versprach man ein neues Fabrikgesetz mit Herabsetzung der
Arbeitszeit und Erhöhung des Lohns, während in den Volksversammlungen
gewaltig gegen das Capital gedonnert und von den Führern der Bewegung
auffällig mit der Socialdemokratie geliebäugelt wurde. Mit solchen Mit-
teln gelang es die frühere Regierung zu stürzen und den Kanton Zürich mit
einer neuen Verfassung zu beglücken, welche der preußische Socialdemokrat
J. Jacoby nicht verfehlt hat zum Rang einer Musterverfassung zu erheben.
Die directen Volkswahlen brachten in der That, wenn auch nur mit knapper
Mehrheit, eine neue Schule von Staatsbeglückern ans Ruder, welche es durch
ihre Unfähigkeit zum Regieren allerdings in kürzester Zeit fertig gebracht ha-
ben den Respect vor den Züricher Autoritäten im Jnnern des Staats und
nach außen gründlich zu vernichten. Der neudemokratische Staatsge-
danke hat sehr schlimme Früchte zur Reife gebracht, obgleich die neue Re-
gierung sogar einen besondern neuen Lehrstuhl für sog. „demokratisches“

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[1346/0002] des Volkes ließen die Truppen die Fortschaffung der Mitrailleusen zu. Auf Montmartre fraternisirte die Linie mit der Nationalgarde. Auf dem Platze Pigalle wollte ein Chasseur=Lieutenant sich von der umdrängenden Menge losmachen, und machte dabei drohende Bewegungen mit dem Säbel, worauf ihn das Volk tödtete. Beiderseits fielen darauf Flintenschüsse, wo- bei mehrere verwundet wurden. Die Linientruppen verließen ihre Stel- lungen und fraternisirten mit dem Volke, welches sich zweier Mitrailleusen bemächtigte. Viele Bataillone Nationalgarde ziehen nach Montmartre, alle den Gewehrkolben nach oben haltend, mit dem Rufe: „Es lebe die Republik!“ ( * ) Paris, 18 März, Abends. Die Lage hat sich nicht wesentlich geändert. Die Stimmung ist noch sehr erregt. Die Militärbehörde hat die Truppen, soweit möglich, aus den aufrührerischen Faubourgs zurück- gezogen. General Farron, welcher auf Montmartre mit mehreren Truppen eingeschlossen war, hat sich durchgeschlagen, wobei die Truppen, da sie die Barricaden überstiegen, vom Bajonnette Gebrauch machten. General Comte und mehrere andere Officiere werden vermißt; sie sind wahrschein- lich im Château Rouge gefangen. Ein Generalstabsofficier wurde mit dem Bajonnett niedergestoßen; General Paturel ist verwundet. Auf Mont- martre, in Belleville und St. Antoine werden Barricaden erbaut. Die Truppen hatten auf Montmartre 40 Geschütze genommen, wovon die Aufständischen am Morgen 5 wiedernahmen ohne Widerstand von Seite der Linientruppen. Die Regierung erließ eine Proclamation an die Nationalgarde, worin es heißt: „Man verbreitet das absurde Gerücht die Regierung beabsichtige einen Staatsstreich; indessen die Regierung der Republik hat keinen andern Zweck, und kann keinen andern haben, als das Heil der Republik. Die getroffenen Maß- regeln waren unumgänglich nothwendig, denn die Regierung wollte und will ein Ende machen mit jenem Jnsurrectionscomit é, dessen Mitglieder fast sämmt- lich der Bevölkerung unbekannt sind. Dieselben vertreten communistische Doctrinen; sie würden Paris der Plünderung überantworten und aus Frankreich ein großes Grab machen, wenn nicht die Nationalgarde und die Armee sich erheben und gemeinschaftlich das Vaterland, die Republik ver- theidigen.“ -- Picard hat in einer Proclamation die Nationalgarde aufge- fordert zu den Waffen zu eilen, um die Herrschaft der Gesetze wiederher- zustellen und die Republik vor der Anarchie zu bewahren. ( * ) Paris, 18 März, Abends 9 Uhr. Das Journal „l' Avant- garde “ bringt in einer Extra = Ausgabe von 7 Uhr Abends die Nachricht, daß die Generale Lecomte und Clément Thomas von den Jnsurgenten auf Montmartre um 4 Uhr Abends nach summarischem Verfahren füsillirt worden seien. Die Nachricht entbehrt jedoch einer anderweitigen Bestätigung. General Vinoy mit seinem Stab und mit sämmtlichen Linientruppen und Gendarmerie hat sich auf das linke Seine = Ufer zurückgezogen und es der Nationalgarde überlassen die Ordnung wiederherzustellen. Die Natio- nalgarde ist an verschiedenen Punkten gesammelt. Auf den Boulevards zahlreiche Gruppen; die Läden geschlossen; seit 6 Uhr der Omnibusver- kehr eingestellt. Der Barricadenbau in den Faubourgs dauert fort. Ein weiterer Zusammenstoß hat, soweit die Meldungen reichen, nicht stattge- funden. ( * ) Florenz, 19 März. Die Zeitungen veröffentlichen ein Breve des Papstes an den Cardinal Patrizi, Dekan des Cardinalcollegiums, worin sich der Papst zu Gunsten der Jesuiten ausspricht, aber erklärt: er unterliege nicht dem Einfluß derselben. Der Papst weist darin die Garantien- gesetze zurück welche die italienische Regierung der Deputirtenkammer vor- legte, und drückt sein Mißfallen über die Amendements aus welche die Kammer dem Gesetz beifügte. ( * ) Bukarest, 19 März. Die Kammer hat in der Eisenbahnfrage den Antrag des Generals Flores angenommen, nach welchem die Ent- scheidung aller Differenzen theils einem Schiedsgericht, theils dem gesetzt lichen Richterspruch überlassen wird, und ist dann unter Verweisung aller übrigen Anträge, also auch jenes der Commission, zur Tagesordnung übergegangen. Weitere Telegramme siehe letzte Seite. Die Störung der deutschen Siegesfeier in Zürich und ihre Lehren. I. ⁂ Zürich, Mitte März. Telegramme und Correspondenzen haben bereits nach allen Seiten hin über die schmachvolle Störung der deutschen Frie- densfeier in Zürich berichtet, an welche sich auch noch an den beiden nächsten Tagen blutige Tumulte mit mehreren Todten und vielen Verwundeten reihten, bis am vierten Tag eidgenössische Jntervention und massenhaftes Aufgebot von Truppen die Ruhe vorläufig wiederhergestellt hat. Die Tage vom 9 bis 12 März waren Tage tiefer Schmach und Schande für den Kanton Zürich, und werden die Gedanken der Deutschen und der Schweizer wahrscheinlich noch lange beschäftigen. Eine Versammlung friedliebender deutscher Gelehrter und Studierender, Geschäftsleute und Arbeiter will sich, an 1000 Mann stark, in Gemeinschaft mit Damen und befreundeten Schweizern im geschlossenen Kreis auf dem republicanischen Boden der deutschen Schweiz des wiederhergestellten Friedens freuen; sie miethet sich ein besonderes Local, in welches nur gegen besondere Karten, auf den Namen ausgestellt, der Zutritt gestattet ist; sie erhält nicht nur von der Polizei- behörde, sondern auch von dem Platzcommando die bündigsten Zusiche- rungen daß, obwohl dem Vernehmen nach Ruhestörungen beabsichtigt seien, man das Fest ruhig abhalten könne, da für die Ordnung außerhalb durch die Militärbehörden gesorgt sein werde -- und sie wird trotz dieser Zu- sicherungen, trotz des friedlichsten Charakters ihres Zusammenseins, der sich gleich im Anfange des Festes durch den ernsten Lobgesang „Nun danket alle Gott!“ bekundet, von einem tumultuarischen Pöbel auf die gemeinste Weise insultirt. ( Die weitern Einzelheiten des Tumults sind bekannt und im wesentlichen von keiner Seite in Abrede gestellt worden. D. R. ) Diese traurigen Ereignisse müssen überall das größte Aufsehen er- regen und fordern zu einer Untersuchung der tiefern Ursachen und mög- lichen Folgen auf. Wenn schon jeder gute Schweizer jetzt nur mit Erröthen an diese Vorgänge denkt, und sich zweifelnd fragt: wozu es führen soll wenn die persönliche Sicherheit der Bewohner eines Staats so bedroht ist und die republicanischen Grundrechte der freien Meinungsäußerung und des Versammlungsrechts so mit Füßen getreten werden, so ist es noch viel be- greiflicher daß die beleidigten Deutschen, wenn sie zur Feder greifen, ihre innere Erregung nur schwer bemeistern können. Und doch ziemt es den Deutschen gerade jetzt mit kaltem Blut in dem Sturm der Leidenschaften einer von Neid und Haß gegen das Deutsche Reich erfüllten Volksmenge zu stehen, und von dem Ergebniß der aus den Händen der Züricher Behörden in die Hände des Bundes übergegangenen Untersuchung die ihnen gebüh- rende Genugthuung zu erwarten, ehe sie ihr machtvolles Vaterland zum Einschreiten gegen einen schwächern Nachbar, der selbst im Jnnern krankt und gährt, veranlassen. Der tiefere Grund der Ereignisse ist in erster Linie der „ Deutschen- haß,“ welcher sich schon seit Jahren im stillen, insbesondere im Kanton Zürich, gegen die zahlreiche deutsche Einwanderung, ihre Berufsconcurrenz und angebliche „Bevorzugung in der Werkstatt, im Bureau und auf dem Lehrstuhl“ angesammelt hat, und nun in Folge der großen Umgestaltung der europäischen Machtverhältnisse zum Ausbruch gekommen ist, geschürt durch die franzosenfreundliche Haltung der schweizerischen Presse im deutsch- französischen Krieg und durch das Liebäugeln der Gebildeten und Unge- gebildeten mit der französischen Republik im Gegensatze zum neuen deutschen Kaiserreich. Der zweite Grund ist die gegenwärtige politische und sociale Krankheit des Kantons Zürich, welcher gerade wegen seiner innern Wirren und der Lockerung der staatlichen Disciplin wohl leichter als andere Kan tone der Schauplatz einer solchen Unthat werden konnte. Der Kanton Zürich hat in den beiden letzten Jahren den glorreichen Uebergang von der repräsentativen zur sogenannten reinen Demokratie vollzogen, deren Hauptmerkmal man in einem dem Volke bis dahin schon dem Namen nach ganz fremden Ding, dem sogenannten „Referendum“ erblickt, wonach alle wichtigern Gesetze und größern finanziellen Ausgaben dem souveränen Volke zur Genehmigung vorgelegt werden müssen. Auch die Wahl der obersten Regierungsbehörde, welche früher durch die kanto- nalen Vertreter, den sogenannten großen Rath, erfolgte, geschieht jetzt direct durch das souveräne Volk. Diese politische Umgestaltung wurde vor zwei Jahren mit einer wüsten Pamphlet=Literatur und dem Losungsworte „Nieder mit dem Respect!“ eröffnet; der bisher im Kanton als herrschend verschrieenen „Geldwirthschaft“ wurde der Krieg erklärt; dem Volk wurde eine Reihe materieller Erleichterungen, wie Ermäßigung des Salzpreises, Abschaffung des Schulgeldes, Uebernahme der militärischen Ausrüstung durch den Staat, versprochen, wofür die Mittel durch eine Progressivbe- steuerung der Reichen aufgebracht werden sollten; dem mangelnden Credit der Landwirthschaft sollte durch eine „Staatsbank“ abgeholfen werden; den Arbeitern versprach man ein neues Fabrikgesetz mit Herabsetzung der Arbeitszeit und Erhöhung des Lohns, während in den Volksversammlungen gewaltig gegen das Capital gedonnert und von den Führern der Bewegung auffällig mit der Socialdemokratie geliebäugelt wurde. Mit solchen Mit- teln gelang es die frühere Regierung zu stürzen und den Kanton Zürich mit einer neuen Verfassung zu beglücken, welche der preußische Socialdemokrat J. Jacoby nicht verfehlt hat zum Rang einer Musterverfassung zu erheben. Die directen Volkswahlen brachten in der That, wenn auch nur mit knapper Mehrheit, eine neue Schule von Staatsbeglückern ans Ruder, welche es durch ihre Unfähigkeit zum Regieren allerdings in kürzester Zeit fertig gebracht ha- ben den Respect vor den Züricher Autoritäten im Jnnern des Staats und nach außen gründlich zu vernichten. Der neudemokratische Staatsge- danke hat sehr schlimme Früchte zur Reife gebracht, obgleich die neue Re- gierung sogar einen besondern neuen Lehrstuhl für sog. „demokratisches“

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  • rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert.
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert.
  • Vollständigkeit: vollständig erfasst.
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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 80. Augsburg (Bayern), 21. März 1871, S. 1346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_augsburg80_1871/2>, abgerufen am 28.04.2024.