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Allgemeine Zeitung. Nr. 80. Augsburg (Bayern), 21. März 1871.

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[Spaltenumbruch] Staatsrecht errichtet hat, weil der bisherige Lehrer des Staatsrechts den
neuen Staatslenkern zu monarchisch und preußischgesinnt erschien. Der
Regierungspräsident wagte es die Wirksamkeit dieses Lehrers und seinen
Einfluß auf die Jugend öffentlich im Kantonsrathe zu verunglimpfen, ob-
wohl sämmtliche schweizerische Zuhörer desselben ihm das Zeugniß aus-
stellten daß sie sich in seinen Vorlesungen niemals in ihren republicani-
schen Gefühlen verletzt gefühlt hätten.

Das schlimmste an den neuzüricherischen Zuständen ist nicht die Un-
fähigkeit der Regierung, deren baldigen Sturz man jetzt schon von allen
Dächern predigt, sondern die betrübende Thatsache daß das wirkliche
Staatsbewußtsein, der staatsrechtliche Gedanke an die Gewalt des Ganzen
über die Einzelnen, und die Achtung vor den Gesetzen in den beiden letzten
Jahren immer mehr aus den Gemüthern des Volkes geschwunden ist, und
daß das Beispiel von Zürich auch viele andere Kantone angesteckt hat.
Popularitätshascherei und Volksschmeichelei haben der Menge so viel von
der erhabenen Volkssouveränetät vorgeschwindelt, daß jeder sich zum Herr-
schen berufen glaubt, und seinen eigenen Willen an Stelle des Gesammt-
willens zum Gesetz erheben möchte. Man denkt nicht mehr an Lasten und
Pflichten für das Ganze, sondern nur an Rechte und Freiheiten. Neid und
Mißgunst gegen den größern Besitz, gegen die höhere Bildung, gegen über-
legene Arbeitskraft und geschäftliche Tüchtigkeit werden zu bewegenden
politischen Triebfedern, und der ordnungliebende fleißige Bürger, der nicht
in dieses Geschrei einstimmt, sieht sich von tausend Tyrannen umgeben, die
jeden Augenblick seine persönliche Freiheit und Sicherheit bedrohen können,
während sie über die Monarchie schimpfen, wo man solcher Massentyrannei
noch keinen Geschmack abzugewinnen vermag.

Von einer solchen Volksregierung zur Pöbelherrschaft ist nur noch ein
kleiner Schritt. Der Umsturz aller Bande der Ordnung ist vollzogen so-
bald die Regierung bei Ausbruch des Sturms so den Kopf verliert wie es
in den tumultuarischen Tagen vom 9 bis 12 März in Zürich der Fall ge-
wesen zu sein scheint. Die eidgenössische Untersuchung wird den Umfang
der Kopflosigkeit, Zerfahrenheit und Feigheit, welche sich insbesondere am
Abend der deutschen Friedensfeier der Behörden und der Commandirenden
bemächtigt hatte, hoffentlich in das hellste Licht setzen.

Aber die im Kanton Zürich herrschende politische und sociale Krank-
heit hat die lebensgefährliche Bedrohung von etwa tausend Deutschen nicht
unmittelbar hervorgerufen, sondern nur in zweiter Linie verschlimmernd
gewirkt und die eigentliche Gefahr vergrößert. Der tiefere Grund liegt
auch nicht in den Umtrieben der Socialisten und der internationalen Ar-
beiterassociation, obwohl man am 11 März Nachts beim Angriff auf das
Rathhaus, den Sitz der Regierung, allerdings Drohungen von Arbeitern
gehört hat, welche riefen: "Wir haben 1868 die alte Regierung gestürzt,
die neue muß auch herunter, sie hat uns größern Lohn versprochen, und
wir haben nicht mehr bekommen. Wir sind von ihr betrogen worden."
Socialisten waren bei den Tumulten auch mit betheiligt, aber nicht der
Socialismus, sondern der Deutschenhaß war das Hauptmotiv der
schmachvollen Auftritte bei der deutschen Friedensfeier. Der Stadtpräsi-
dent Dr. Sulzer, das geistige Haupt der neuzüricherischen Verfassung, hat
als Referent einer wegen dieser Vorfälle niedergesetzten Commission im
Züricherischen Kantonsrath am 14 März u. a. folgendes geäußert: "Wäre
die Stellung der Deutschen noch dieselbe wie vor zehn Jahren gewesen, so
wär' eine solche Spannung nicht eingetreten; seither aber sind die Forde-
rungen und Ansichten der deutschen Nation ganz andere geworden. Sie
war von der Ueberzeugung erfüllt daß ihr nicht die Achtung gezollt werde
auf die sie Anspruch machen könne. Dieß hat sie nun in glänzendem
Siegeslauf erreicht. Was heißt aber das: eine Machtstellung ersten Rangs
in Europa erringen? Das heißt jedem andern, sobald es beliebt, Furcht
einflößen. Wer diese Stellung einnimmt, muß sich nicht wundern daß
man ihm nicht mit Liebe entgegen kommt. Von der Furcht zum Haß ist
aber nur ein kleiner Schritt. Wenn daher in unserer Bevölkerung Befürch-
tungen aufgetaucht sind, so ist dieß nichts unerklärliches. Es kommt zu
diesem noch eine andere psychologische, nicht zur Unehre gereichende Re-
gung -- das Mitleid mit der zu Boden getretenen Nation. Es ist in einem
großen Theil unserer Geschichte niedergelegt daß das schweizerische Volk
mit stärkern Banden der Freundschaft mit jener Nation verbunden ist, die
nicht unsere Sprache spricht und zu einem andern Stamme gehört."

Die Offenheit dieser Sprache eines Referenten läßt nichts zu wün-
schen übrig. Jn Deutschland wird man jedoch erschrecken daß es in der
Schweiz sogenannte Staatsmänner gibt welche solche abscheuliche Attentate
auf die persönliche Sicherheit, auf das freie Vereins= und Versammlungs-
recht noch zu beschönigen wagen. Als Ehrenmänner, wie Alfred Escher und
Prof. G. v. Wyß, im Kantonsrath diese Beschönigung scharf angriffen,
hatte Dr. Sulzer noch die Stirn in seinem Schlußreferat zu antworten:
" Je frappanter solche Massenerscheinungen wie der Deut-
schenhaß
sind, um so mehr pflege ich mich zu hüten sofort zu billigen
[Spaltenumbruch] oder zu verwerfen." So schmeicheln und kriechen schweizerische Demagogen
selbst vor den gehässigsten Leidenschaften ihres souveränen Pöbels, anstatt
dem guten und ehrlichen Kern ihres belogenen Volks Wahrheit und Buße
zu predigen.

Die schweizerische Presse hat mit wenigen ehrenvollen Ausnahmen
leider ihre Schmähpolitik gegen Deutschland wieder aufgenommen, und
sucht nun den Deutschen die Schuld der Vorfälle aufzubürden. "Die
deutsche Colonie in Zürich -- so ruft die "Berner Tagespost" -- "hat
durch ihren Commers unheilvolles Unglück provocirt. Der Haß der schwei-
zerischen Arbeiter gegen die Deutschen kam dadurch zum offenen Ausbruch.
Und diese schweizerischen Arbeiter, die seit Jahrzehnten sehen mußten wie
die deutschen Michel jede schöne Stelle, sei's in der Werkstatt, Fabrik, sei's
in einem Bureau oder als Dienstboten ihnen vor der Nase wegschnappten --
diese Arbeiter, die sehen mußten wie unsere schweizerischen Kräfte den deut-
schen Professoren, die nichts als ihre monarchischen Jdeen und ein gutes
Maul haben, an allen schweizerischen Lehranstalten Platz zu machen hatten
-- diese werden heut' als "Pöbel" verschrieen und, wo sie sich für ihre Exi-
stenz wehren, zu Paaren getrieben!"

Aehnliche und noch viel schlimmere Schmähungen und Auffassungen
ließen sich aus der "St. Galler Ztg.," aus dem "Freien Rhätier," aus der
"Winterthurer Ztg.," aus dem "Neuen Tageblatt von St. Gallen" und
zahlreichen anderen Blättern zusammenstellen. So ehrenvoll es auch für
die Deutschen ist daß man ihnen, die als "Fremde" doch so viel größere
Anstrengungen machen müssen, ihre Ueberlegenheit im Kampf um das
Dasein zugesteht, so betrübend ist es die Begriffsverwirrung über das
Wesen einer Republik und das Schwinden republicanischer Tugenden in
der Schweiz selbst mit erleben zu müssen. Es gibt in Deutschland viel
mehr wirkliche Republicaner als in der Schweiz selbst. Man schwört hier
auf republicanische Formen und Formeln und Verfassungsparagraphen,
und entfernt sich mehr und mehr vom republicanischen Wesen und von der
republicanischen Gesinnung. Man will über andere herrschen und nicht
dem Ganzen dienen. Die Selbstberäucherung hat auf Schützen= und an-
dern nationalen Festen einen so hohen Grad erreicht, daß man jeden Eid-
genossen mindestens als einen Tell oder Winkelried oder Stauffacher be-
grüßen möchte.

Jst denn diesem Volke der Gerechtigkeitssinn und Wahrheitssinn ab-
handen gekommen? So haben sich Hunderte von Deutschen gefragt welche
in der Schweiz die großen Thaten ihrer Landsleute in dem gerechtesten
aller Kriege täglich verunglimpfen hörten. Die Republik wurde als eine
Panacee aller politischen Leiden betrachtet und Gambetta als Held gefeiert,
als ob der bloße Name "Republik" auch sofort die Republicaner aus dem
Boden stampfen könnte. Der französische Republicaner Grevy, der Prä-
sident der Bordeauxer Nationalversammlung, hat die schweizerischen Re-
publicaner tief beschämt, als er in seinem Wahlmanifest den Terrorismus
Gambetta's an den Pranger stellte, und seinen Landsleuten zurief:
"Weil man ohne ernsthafte Motive die Ausübung eures souveränen Rechts
verschoben hat, seid ihr in das Unglück gerathen -- so sehr ist es wahr daß
alle Dictaturen sich selbst zerstören." Man scheint auch in der Schweiz
das Wesen der Republik mehr im individuellen Herrschen und Terrorisiren
anderer als in der Achtung vor den Gesetzen und vor den Majoritäten zu
erblicken; denn es ist der Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung fast un-
möglich den französischen Volkswillen, der in der großen Mehrheit der Re-
publik abgeneigt scheint, gehörig zu würdigen.

Es wäre die Pflicht der politischen Führer und vor allem der Presse,
dieser großen Volkserzieherin, weniger dem Volke nach dem Munde zu sprechen,
sondern ihm die harten Thatsachen und schweren Opfer und Tugenden vor
die Seele zu führen welche allein "Republiken" begründen und lebensfähig
erhalten können. Aber wie wenig ist dieser Pflicht genügt worden! Die
Wahrheitswidrigkeit der schweizerischen Presse, welche meist die wichtigsten
Momente der Zeitgeschichte verschwieg und dafür alle Deutschland ungün-
stigen Berichte mit Bienenfleiß sammelte und ohne Kritik abdruckte, dieser
politische Formalismus und Dilettantismus, in welchem die meisten Poli-
tiker und Publicisten mit einer "Republik" liebäugelten welche noch viel
verlogener und tyrannischer war als das französische Kaiserreich je gewesen
ist, dieser Mangel an Wahrheitsmuth und an historischem Verständniß der
Thatsachen trägt jetzt seine bitteren Früchte. Denn alle Schuld rächt sich
auf Erden!

Eine patriotische Schweizerin hat vor kurzem geäußert: "Unsere
Presse klärt uns ja nicht auf, sie verwirrt uns -- sie sündigt nicht bloß
durch das was sie uns sagt, sondern noch mehr durch das was sie uns ver-
schweigt." Und der "Schweizerbote" schreibt über die Züricher Ereignisse:
"Was ist nun Schuld an diesem schmählichen Ereigniß? Nicht wenig ein
Theil der Presse unseres Landes, die, ohne zu wissen daß sie dem Losungs-
wort der Ultramontanen folgt, in ebenso kurzsichtiger als gewissenloser Weise
gegen die Deutschen hetzt und die Franzosen=Sympathien befürwortet."


[Spaltenumbruch] Staatsrecht errichtet hat, weil der bisherige Lehrer des Staatsrechts den
neuen Staatslenkern zu monarchisch und preußischgesinnt erschien. Der
Regierungspräsident wagte es die Wirksamkeit dieses Lehrers und seinen
Einfluß auf die Jugend öffentlich im Kantonsrathe zu verunglimpfen, ob-
wohl sämmtliche schweizerische Zuhörer desselben ihm das Zeugniß aus-
stellten daß sie sich in seinen Vorlesungen niemals in ihren republicani-
schen Gefühlen verletzt gefühlt hätten.

Das schlimmste an den neuzüricherischen Zuständen ist nicht die Un-
fähigkeit der Regierung, deren baldigen Sturz man jetzt schon von allen
Dächern predigt, sondern die betrübende Thatsache daß das wirkliche
Staatsbewußtsein, der staatsrechtliche Gedanke an die Gewalt des Ganzen
über die Einzelnen, und die Achtung vor den Gesetzen in den beiden letzten
Jahren immer mehr aus den Gemüthern des Volkes geschwunden ist, und
daß das Beispiel von Zürich auch viele andere Kantone angesteckt hat.
Popularitätshascherei und Volksschmeichelei haben der Menge so viel von
der erhabenen Volkssouveränetät vorgeschwindelt, daß jeder sich zum Herr-
schen berufen glaubt, und seinen eigenen Willen an Stelle des Gesammt-
willens zum Gesetz erheben möchte. Man denkt nicht mehr an Lasten und
Pflichten für das Ganze, sondern nur an Rechte und Freiheiten. Neid und
Mißgunst gegen den größern Besitz, gegen die höhere Bildung, gegen über-
legene Arbeitskraft und geschäftliche Tüchtigkeit werden zu bewegenden
politischen Triebfedern, und der ordnungliebende fleißige Bürger, der nicht
in dieses Geschrei einstimmt, sieht sich von tausend Tyrannen umgeben, die
jeden Augenblick seine persönliche Freiheit und Sicherheit bedrohen können,
während sie über die Monarchie schimpfen, wo man solcher Massentyrannei
noch keinen Geschmack abzugewinnen vermag.

Von einer solchen Volksregierung zur Pöbelherrschaft ist nur noch ein
kleiner Schritt. Der Umsturz aller Bande der Ordnung ist vollzogen so-
bald die Regierung bei Ausbruch des Sturms so den Kopf verliert wie es
in den tumultuarischen Tagen vom 9 bis 12 März in Zürich der Fall ge-
wesen zu sein scheint. Die eidgenössische Untersuchung wird den Umfang
der Kopflosigkeit, Zerfahrenheit und Feigheit, welche sich insbesondere am
Abend der deutschen Friedensfeier der Behörden und der Commandirenden
bemächtigt hatte, hoffentlich in das hellste Licht setzen.

Aber die im Kanton Zürich herrschende politische und sociale Krank-
heit hat die lebensgefährliche Bedrohung von etwa tausend Deutschen nicht
unmittelbar hervorgerufen, sondern nur in zweiter Linie verschlimmernd
gewirkt und die eigentliche Gefahr vergrößert. Der tiefere Grund liegt
auch nicht in den Umtrieben der Socialisten und der internationalen Ar-
beiterassociation, obwohl man am 11 März Nachts beim Angriff auf das
Rathhaus, den Sitz der Regierung, allerdings Drohungen von Arbeitern
gehört hat, welche riefen: „Wir haben 1868 die alte Regierung gestürzt,
die neue muß auch herunter, sie hat uns größern Lohn versprochen, und
wir haben nicht mehr bekommen. Wir sind von ihr betrogen worden.“
Socialisten waren bei den Tumulten auch mit betheiligt, aber nicht der
Socialismus, sondern der Deutschenhaß war das Hauptmotiv der
schmachvollen Auftritte bei der deutschen Friedensfeier. Der Stadtpräsi-
dent Dr. Sulzer, das geistige Haupt der neuzüricherischen Verfassung, hat
als Referent einer wegen dieser Vorfälle niedergesetzten Commission im
Züricherischen Kantonsrath am 14 März u. a. folgendes geäußert: „Wäre
die Stellung der Deutschen noch dieselbe wie vor zehn Jahren gewesen, so
wär' eine solche Spannung nicht eingetreten; seither aber sind die Forde-
rungen und Ansichten der deutschen Nation ganz andere geworden. Sie
war von der Ueberzeugung erfüllt daß ihr nicht die Achtung gezollt werde
auf die sie Anspruch machen könne. Dieß hat sie nun in glänzendem
Siegeslauf erreicht. Was heißt aber das: eine Machtstellung ersten Rangs
in Europa erringen? Das heißt jedem andern, sobald es beliebt, Furcht
einflößen. Wer diese Stellung einnimmt, muß sich nicht wundern daß
man ihm nicht mit Liebe entgegen kommt. Von der Furcht zum Haß ist
aber nur ein kleiner Schritt. Wenn daher in unserer Bevölkerung Befürch-
tungen aufgetaucht sind, so ist dieß nichts unerklärliches. Es kommt zu
diesem noch eine andere psychologische, nicht zur Unehre gereichende Re-
gung -- das Mitleid mit der zu Boden getretenen Nation. Es ist in einem
großen Theil unserer Geschichte niedergelegt daß das schweizerische Volk
mit stärkern Banden der Freundschaft mit jener Nation verbunden ist, die
nicht unsere Sprache spricht und zu einem andern Stamme gehört.“

Die Offenheit dieser Sprache eines Referenten läßt nichts zu wün-
schen übrig. Jn Deutschland wird man jedoch erschrecken daß es in der
Schweiz sogenannte Staatsmänner gibt welche solche abscheuliche Attentate
auf die persönliche Sicherheit, auf das freie Vereins= und Versammlungs-
recht noch zu beschönigen wagen. Als Ehrenmänner, wie Alfred Escher und
Prof. G. v. Wyß, im Kantonsrath diese Beschönigung scharf angriffen,
hatte Dr. Sulzer noch die Stirn in seinem Schlußreferat zu antworten:
Je frappanter solche Massenerscheinungen wie der Deut-
schenhaß
sind, um so mehr pflege ich mich zu hüten sofort zu billigen
[Spaltenumbruch] oder zu verwerfen.“ So schmeicheln und kriechen schweizerische Demagogen
selbst vor den gehässigsten Leidenschaften ihres souveränen Pöbels, anstatt
dem guten und ehrlichen Kern ihres belogenen Volks Wahrheit und Buße
zu predigen.

Die schweizerische Presse hat mit wenigen ehrenvollen Ausnahmen
leider ihre Schmähpolitik gegen Deutschland wieder aufgenommen, und
sucht nun den Deutschen die Schuld der Vorfälle aufzubürden. „Die
deutsche Colonie in Zürich -- so ruft die „Berner Tagespost“ -- „hat
durch ihren Commers unheilvolles Unglück provocirt. Der Haß der schwei-
zerischen Arbeiter gegen die Deutschen kam dadurch zum offenen Ausbruch.
Und diese schweizerischen Arbeiter, die seit Jahrzehnten sehen mußten wie
die deutschen Michel jede schöne Stelle, sei's in der Werkstatt, Fabrik, sei's
in einem Bureau oder als Dienstboten ihnen vor der Nase wegschnappten --
diese Arbeiter, die sehen mußten wie unsere schweizerischen Kräfte den deut-
schen Professoren, die nichts als ihre monarchischen Jdeen und ein gutes
Maul haben, an allen schweizerischen Lehranstalten Platz zu machen hatten
-- diese werden heut' als „Pöbel“ verschrieen und, wo sie sich für ihre Exi-
stenz wehren, zu Paaren getrieben!“

Aehnliche und noch viel schlimmere Schmähungen und Auffassungen
ließen sich aus der „St. Galler Ztg.,“ aus dem „Freien Rhätier,“ aus der
„Winterthurer Ztg.,“ aus dem „Neuen Tageblatt von St. Gallen“ und
zahlreichen anderen Blättern zusammenstellen. So ehrenvoll es auch für
die Deutschen ist daß man ihnen, die als „Fremde“ doch so viel größere
Anstrengungen machen müssen, ihre Ueberlegenheit im Kampf um das
Dasein zugesteht, so betrübend ist es die Begriffsverwirrung über das
Wesen einer Republik und das Schwinden republicanischer Tugenden in
der Schweiz selbst mit erleben zu müssen. Es gibt in Deutschland viel
mehr wirkliche Republicaner als in der Schweiz selbst. Man schwört hier
auf republicanische Formen und Formeln und Verfassungsparagraphen,
und entfernt sich mehr und mehr vom republicanischen Wesen und von der
republicanischen Gesinnung. Man will über andere herrschen und nicht
dem Ganzen dienen. Die Selbstberäucherung hat auf Schützen= und an-
dern nationalen Festen einen so hohen Grad erreicht, daß man jeden Eid-
genossen mindestens als einen Tell oder Winkelried oder Stauffacher be-
grüßen möchte.

Jst denn diesem Volke der Gerechtigkeitssinn und Wahrheitssinn ab-
handen gekommen? So haben sich Hunderte von Deutschen gefragt welche
in der Schweiz die großen Thaten ihrer Landsleute in dem gerechtesten
aller Kriege täglich verunglimpfen hörten. Die Republik wurde als eine
Panacee aller politischen Leiden betrachtet und Gambetta als Held gefeiert,
als ob der bloße Name „Republik“ auch sofort die Republicaner aus dem
Boden stampfen könnte. Der französische Republicaner Grévy, der Prä-
sident der Bordeauxer Nationalversammlung, hat die schweizerischen Re-
publicaner tief beschämt, als er in seinem Wahlmanifest den Terrorismus
Gambetta's an den Pranger stellte, und seinen Landsleuten zurief:
„Weil man ohne ernsthafte Motive die Ausübung eures souveränen Rechts
verschoben hat, seid ihr in das Unglück gerathen -- so sehr ist es wahr daß
alle Dictaturen sich selbst zerstören.“ Man scheint auch in der Schweiz
das Wesen der Republik mehr im individuellen Herrschen und Terrorisiren
anderer als in der Achtung vor den Gesetzen und vor den Majoritäten zu
erblicken; denn es ist der Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung fast un-
möglich den französischen Volkswillen, der in der großen Mehrheit der Re-
publik abgeneigt scheint, gehörig zu würdigen.

Es wäre die Pflicht der politischen Führer und vor allem der Presse,
dieser großen Volkserzieherin, weniger dem Volke nach dem Munde zu sprechen,
sondern ihm die harten Thatsachen und schweren Opfer und Tugenden vor
die Seele zu führen welche allein „Republiken“ begründen und lebensfähig
erhalten können. Aber wie wenig ist dieser Pflicht genügt worden! Die
Wahrheitswidrigkeit der schweizerischen Presse, welche meist die wichtigsten
Momente der Zeitgeschichte verschwieg und dafür alle Deutschland ungün-
stigen Berichte mit Bienenfleiß sammelte und ohne Kritik abdruckte, dieser
politische Formalismus und Dilettantismus, in welchem die meisten Poli-
tiker und Publicisten mit einer „Republik“ liebäugelten welche noch viel
verlogener und tyrannischer war als das französische Kaiserreich je gewesen
ist, dieser Mangel an Wahrheitsmuth und an historischem Verständniß der
Thatsachen trägt jetzt seine bitteren Früchte. Denn alle Schuld rächt sich
auf Erden!

Eine patriotische Schweizerin hat vor kurzem geäußert: „Unsere
Presse klärt uns ja nicht auf, sie verwirrt uns -- sie sündigt nicht bloß
durch das was sie uns sagt, sondern noch mehr durch das was sie uns ver-
schweigt.“ Und der „Schweizerbote“ schreibt über die Züricher Ereignisse:
„Was ist nun Schuld an diesem schmählichen Ereigniß? Nicht wenig ein
Theil der Presse unseres Landes, die, ohne zu wissen daß sie dem Losungs-
wort der Ultramontanen folgt, in ebenso kurzsichtiger als gewissenloser Weise
gegen die Deutschen hetzt und die Franzosen=Sympathien befürwortet.“


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[1347/0003] Staatsrecht errichtet hat, weil der bisherige Lehrer des Staatsrechts den neuen Staatslenkern zu monarchisch und preußischgesinnt erschien. Der Regierungspräsident wagte es die Wirksamkeit dieses Lehrers und seinen Einfluß auf die Jugend öffentlich im Kantonsrathe zu verunglimpfen, ob- wohl sämmtliche schweizerische Zuhörer desselben ihm das Zeugniß aus- stellten daß sie sich in seinen Vorlesungen niemals in ihren republicani- schen Gefühlen verletzt gefühlt hätten. Das schlimmste an den neuzüricherischen Zuständen ist nicht die Un- fähigkeit der Regierung, deren baldigen Sturz man jetzt schon von allen Dächern predigt, sondern die betrübende Thatsache daß das wirkliche Staatsbewußtsein, der staatsrechtliche Gedanke an die Gewalt des Ganzen über die Einzelnen, und die Achtung vor den Gesetzen in den beiden letzten Jahren immer mehr aus den Gemüthern des Volkes geschwunden ist, und daß das Beispiel von Zürich auch viele andere Kantone angesteckt hat. Popularitätshascherei und Volksschmeichelei haben der Menge so viel von der erhabenen Volkssouveränetät vorgeschwindelt, daß jeder sich zum Herr- schen berufen glaubt, und seinen eigenen Willen an Stelle des Gesammt- willens zum Gesetz erheben möchte. Man denkt nicht mehr an Lasten und Pflichten für das Ganze, sondern nur an Rechte und Freiheiten. Neid und Mißgunst gegen den größern Besitz, gegen die höhere Bildung, gegen über- legene Arbeitskraft und geschäftliche Tüchtigkeit werden zu bewegenden politischen Triebfedern, und der ordnungliebende fleißige Bürger, der nicht in dieses Geschrei einstimmt, sieht sich von tausend Tyrannen umgeben, die jeden Augenblick seine persönliche Freiheit und Sicherheit bedrohen können, während sie über die Monarchie schimpfen, wo man solcher Massentyrannei noch keinen Geschmack abzugewinnen vermag. Von einer solchen Volksregierung zur Pöbelherrschaft ist nur noch ein kleiner Schritt. Der Umsturz aller Bande der Ordnung ist vollzogen so- bald die Regierung bei Ausbruch des Sturms so den Kopf verliert wie es in den tumultuarischen Tagen vom 9 bis 12 März in Zürich der Fall ge- wesen zu sein scheint. Die eidgenössische Untersuchung wird den Umfang der Kopflosigkeit, Zerfahrenheit und Feigheit, welche sich insbesondere am Abend der deutschen Friedensfeier der Behörden und der Commandirenden bemächtigt hatte, hoffentlich in das hellste Licht setzen. Aber die im Kanton Zürich herrschende politische und sociale Krank- heit hat die lebensgefährliche Bedrohung von etwa tausend Deutschen nicht unmittelbar hervorgerufen, sondern nur in zweiter Linie verschlimmernd gewirkt und die eigentliche Gefahr vergrößert. Der tiefere Grund liegt auch nicht in den Umtrieben der Socialisten und der internationalen Ar- beiterassociation, obwohl man am 11 März Nachts beim Angriff auf das Rathhaus, den Sitz der Regierung, allerdings Drohungen von Arbeitern gehört hat, welche riefen: „Wir haben 1868 die alte Regierung gestürzt, die neue muß auch herunter, sie hat uns größern Lohn versprochen, und wir haben nicht mehr bekommen. Wir sind von ihr betrogen worden.“ Socialisten waren bei den Tumulten auch mit betheiligt, aber nicht der Socialismus, sondern der Deutschenhaß war das Hauptmotiv der schmachvollen Auftritte bei der deutschen Friedensfeier. Der Stadtpräsi- dent Dr. Sulzer, das geistige Haupt der neuzüricherischen Verfassung, hat als Referent einer wegen dieser Vorfälle niedergesetzten Commission im Züricherischen Kantonsrath am 14 März u. a. folgendes geäußert: „Wäre die Stellung der Deutschen noch dieselbe wie vor zehn Jahren gewesen, so wär' eine solche Spannung nicht eingetreten; seither aber sind die Forde- rungen und Ansichten der deutschen Nation ganz andere geworden. Sie war von der Ueberzeugung erfüllt daß ihr nicht die Achtung gezollt werde auf die sie Anspruch machen könne. Dieß hat sie nun in glänzendem Siegeslauf erreicht. Was heißt aber das: eine Machtstellung ersten Rangs in Europa erringen? Das heißt jedem andern, sobald es beliebt, Furcht einflößen. Wer diese Stellung einnimmt, muß sich nicht wundern daß man ihm nicht mit Liebe entgegen kommt. Von der Furcht zum Haß ist aber nur ein kleiner Schritt. Wenn daher in unserer Bevölkerung Befürch- tungen aufgetaucht sind, so ist dieß nichts unerklärliches. Es kommt zu diesem noch eine andere psychologische, nicht zur Unehre gereichende Re- gung -- das Mitleid mit der zu Boden getretenen Nation. Es ist in einem großen Theil unserer Geschichte niedergelegt daß das schweizerische Volk mit stärkern Banden der Freundschaft mit jener Nation verbunden ist, die nicht unsere Sprache spricht und zu einem andern Stamme gehört.“ Die Offenheit dieser Sprache eines Referenten läßt nichts zu wün- schen übrig. Jn Deutschland wird man jedoch erschrecken daß es in der Schweiz sogenannte Staatsmänner gibt welche solche abscheuliche Attentate auf die persönliche Sicherheit, auf das freie Vereins= und Versammlungs- recht noch zu beschönigen wagen. Als Ehrenmänner, wie Alfred Escher und Prof. G. v. Wyß, im Kantonsrath diese Beschönigung scharf angriffen, hatte Dr. Sulzer noch die Stirn in seinem Schlußreferat zu antworten: „ Je frappanter solche Massenerscheinungen wie der Deut- schenhaß sind, um so mehr pflege ich mich zu hüten sofort zu billigen oder zu verwerfen.“ So schmeicheln und kriechen schweizerische Demagogen selbst vor den gehässigsten Leidenschaften ihres souveränen Pöbels, anstatt dem guten und ehrlichen Kern ihres belogenen Volks Wahrheit und Buße zu predigen. Die schweizerische Presse hat mit wenigen ehrenvollen Ausnahmen leider ihre Schmähpolitik gegen Deutschland wieder aufgenommen, und sucht nun den Deutschen die Schuld der Vorfälle aufzubürden. „Die deutsche Colonie in Zürich -- so ruft die „Berner Tagespost“ -- „hat durch ihren Commers unheilvolles Unglück provocirt. Der Haß der schwei- zerischen Arbeiter gegen die Deutschen kam dadurch zum offenen Ausbruch. Und diese schweizerischen Arbeiter, die seit Jahrzehnten sehen mußten wie die deutschen Michel jede schöne Stelle, sei's in der Werkstatt, Fabrik, sei's in einem Bureau oder als Dienstboten ihnen vor der Nase wegschnappten -- diese Arbeiter, die sehen mußten wie unsere schweizerischen Kräfte den deut- schen Professoren, die nichts als ihre monarchischen Jdeen und ein gutes Maul haben, an allen schweizerischen Lehranstalten Platz zu machen hatten -- diese werden heut' als „Pöbel“ verschrieen und, wo sie sich für ihre Exi- stenz wehren, zu Paaren getrieben!“ Aehnliche und noch viel schlimmere Schmähungen und Auffassungen ließen sich aus der „St. Galler Ztg.,“ aus dem „Freien Rhätier,“ aus der „Winterthurer Ztg.,“ aus dem „Neuen Tageblatt von St. Gallen“ und zahlreichen anderen Blättern zusammenstellen. So ehrenvoll es auch für die Deutschen ist daß man ihnen, die als „Fremde“ doch so viel größere Anstrengungen machen müssen, ihre Ueberlegenheit im Kampf um das Dasein zugesteht, so betrübend ist es die Begriffsverwirrung über das Wesen einer Republik und das Schwinden republicanischer Tugenden in der Schweiz selbst mit erleben zu müssen. Es gibt in Deutschland viel mehr wirkliche Republicaner als in der Schweiz selbst. Man schwört hier auf republicanische Formen und Formeln und Verfassungsparagraphen, und entfernt sich mehr und mehr vom republicanischen Wesen und von der republicanischen Gesinnung. Man will über andere herrschen und nicht dem Ganzen dienen. Die Selbstberäucherung hat auf Schützen= und an- dern nationalen Festen einen so hohen Grad erreicht, daß man jeden Eid- genossen mindestens als einen Tell oder Winkelried oder Stauffacher be- grüßen möchte. Jst denn diesem Volke der Gerechtigkeitssinn und Wahrheitssinn ab- handen gekommen? So haben sich Hunderte von Deutschen gefragt welche in der Schweiz die großen Thaten ihrer Landsleute in dem gerechtesten aller Kriege täglich verunglimpfen hörten. Die Republik wurde als eine Panacee aller politischen Leiden betrachtet und Gambetta als Held gefeiert, als ob der bloße Name „Republik“ auch sofort die Republicaner aus dem Boden stampfen könnte. Der französische Republicaner Grévy, der Prä- sident der Bordeauxer Nationalversammlung, hat die schweizerischen Re- publicaner tief beschämt, als er in seinem Wahlmanifest den Terrorismus Gambetta's an den Pranger stellte, und seinen Landsleuten zurief: „Weil man ohne ernsthafte Motive die Ausübung eures souveränen Rechts verschoben hat, seid ihr in das Unglück gerathen -- so sehr ist es wahr daß alle Dictaturen sich selbst zerstören.“ Man scheint auch in der Schweiz das Wesen der Republik mehr im individuellen Herrschen und Terrorisiren anderer als in der Achtung vor den Gesetzen und vor den Majoritäten zu erblicken; denn es ist der Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung fast un- möglich den französischen Volkswillen, der in der großen Mehrheit der Re- publik abgeneigt scheint, gehörig zu würdigen. Es wäre die Pflicht der politischen Führer und vor allem der Presse, dieser großen Volkserzieherin, weniger dem Volke nach dem Munde zu sprechen, sondern ihm die harten Thatsachen und schweren Opfer und Tugenden vor die Seele zu führen welche allein „Republiken“ begründen und lebensfähig erhalten können. Aber wie wenig ist dieser Pflicht genügt worden! Die Wahrheitswidrigkeit der schweizerischen Presse, welche meist die wichtigsten Momente der Zeitgeschichte verschwieg und dafür alle Deutschland ungün- stigen Berichte mit Bienenfleiß sammelte und ohne Kritik abdruckte, dieser politische Formalismus und Dilettantismus, in welchem die meisten Poli- tiker und Publicisten mit einer „Republik“ liebäugelten welche noch viel verlogener und tyrannischer war als das französische Kaiserreich je gewesen ist, dieser Mangel an Wahrheitsmuth und an historischem Verständniß der Thatsachen trägt jetzt seine bitteren Früchte. Denn alle Schuld rächt sich auf Erden! Eine patriotische Schweizerin hat vor kurzem geäußert: „Unsere Presse klärt uns ja nicht auf, sie verwirrt uns -- sie sündigt nicht bloß durch das was sie uns sagt, sondern noch mehr durch das was sie uns ver- schweigt.“ Und der „Schweizerbote“ schreibt über die Züricher Ereignisse: „Was ist nun Schuld an diesem schmählichen Ereigniß? Nicht wenig ein Theil der Presse unseres Landes, die, ohne zu wissen daß sie dem Losungs- wort der Ultramontanen folgt, in ebenso kurzsichtiger als gewissenloser Weise gegen die Deutschen hetzt und die Franzosen=Sympathien befürwortet.“

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  • langes s (?): in Frakturschrift als s transkribiert, in Antiquaschrift beibehalten.
  • rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert.
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert.
  • Vollständigkeit: vollständig erfasst.
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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 80. Augsburg (Bayern), 21. März 1871, S. 1347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_augsburg80_1871/3>, abgerufen am 28.04.2024.