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[N. N.]: Unsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie. Stuttgart, 1852.

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die Geduld in Anspruch nehmen könnte, möglichst zu ver-
schonen und mehr durch Lob als durch Tadel, mehr durch
einen Aufruf an ihren Ehrgeiz und an ihren guten Willen als
durch eine ernste Forderung, welche unbedingten Gehorsam er-
wartet, auf sie einzuwirken. Naschereien, Geschenke und Ver-
gnügungen aller Art belohnen jede, auch die zweifelhafteste
Leistung. Der zahlreichen Bedienung des Hauses ist streng be-
fohlen, sich aufs Ehrerbietigste gegen sie zu benehmen, jedem
ihrer Winke zu gehorchen und stets zu ihrer Unterhaltung bereit
zu sein. Kurz die lieben Kleinen haben so ziemlich Alles, was
die Anarchie unter Freiheit, Wohlstand und Bildung versteht.
Und dennoch sind diese Kinder grämlich, dennoch verzehrt
sie die Langeweile, dennoch sehen sie stets mit Neid auf das,
was Andere haben und was sie im Augenblick nicht haben
können, dennoch sind sie trotzig gegen Vater und Mutter,
dennoch sind sie verdrossen zur Arbeit wie zum Spiele, und
je älter sie werden, um so verdrossener und unzufriedener
werden sie.

Und nun tretet daneben in eine andere Wohnung ein,
für deren Besitzer die strengste Sparsamkeit eine Nothwen-
digkeit ist. Die einfachste Kleidung, die wohlfeilsten Spiel-
waaren müssen hier den Kindern genügen, welchen der Christ-
abend wenig mehr als ein paar Aepfel und irgend ein un-
entbehrliches Kleidungsstück bringt. Die Mutter vergießt
wohl manche stille Thräne, daß sie ihrem Kinde so oft eine
unschuldige Freude oder ein zu seiner Belehrung und Aus-
bildung nützliches Hilfsmittel versagen muß. Und auch sonst
ergeht es den Kindern dieses Hauses viel "schlimmer" als
jenen Glückskindern nebenan. Das Wort des Vaters gilt
als strenges unverbrüchliches Gesetz. Eine Unfolgsamkeit,

die Geduld in Anſpruch nehmen könnte, möglichſt zu ver-
ſchonen und mehr durch Lob als durch Tadel, mehr durch
einen Aufruf an ihren Ehrgeiz und an ihren guten Willen als
durch eine ernſte Forderung, welche unbedingten Gehorſam er-
wartet, auf ſie einzuwirken. Naſchereien, Geſchenke und Ver-
gnügungen aller Art belohnen jede, auch die zweifelhafteſte
Leiſtung. Der zahlreichen Bedienung des Hauſes iſt ſtreng be-
fohlen, ſich aufs Ehrerbietigſte gegen ſie zu benehmen, jedem
ihrer Winke zu gehorchen und ſtets zu ihrer Unterhaltung bereit
zu ſein. Kurz die lieben Kleinen haben ſo ziemlich Alles, was
die Anarchie unter Freiheit, Wohlſtand und Bildung verſteht.
Und dennoch ſind dieſe Kinder grämlich, dennoch verzehrt
ſie die Langeweile, dennoch ſehen ſie ſtets mit Neid auf das,
was Andere haben und was ſie im Augenblick nicht haben
können, dennoch ſind ſie trotzig gegen Vater und Mutter,
dennoch ſind ſie verdroſſen zur Arbeit wie zum Spiele, und
je älter ſie werden, um ſo verdroſſener und unzufriedener
werden ſie.

Und nun tretet daneben in eine andere Wohnung ein,
für deren Beſitzer die ſtrengſte Sparſamkeit eine Nothwen-
digkeit iſt. Die einfachſte Kleidung, die wohlfeilſten Spiel-
waaren müſſen hier den Kindern genügen, welchen der Chriſt-
abend wenig mehr als ein paar Aepfel und irgend ein un-
entbehrliches Kleidungsſtück bringt. Die Mutter vergießt
wohl manche ſtille Thräne, daß ſie ihrem Kinde ſo oft eine
unſchuldige Freude oder ein zu ſeiner Belehrung und Aus-
bildung nützliches Hilfsmittel verſagen muß. Und auch ſonſt
ergeht es den Kindern dieſes Hauſes viel „ſchlimmer“ als
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[36/0042] die Geduld in Anſpruch nehmen könnte, möglichſt zu ver- ſchonen und mehr durch Lob als durch Tadel, mehr durch einen Aufruf an ihren Ehrgeiz und an ihren guten Willen als durch eine ernſte Forderung, welche unbedingten Gehorſam er- wartet, auf ſie einzuwirken. Naſchereien, Geſchenke und Ver- gnügungen aller Art belohnen jede, auch die zweifelhafteſte Leiſtung. Der zahlreichen Bedienung des Hauſes iſt ſtreng be- fohlen, ſich aufs Ehrerbietigſte gegen ſie zu benehmen, jedem ihrer Winke zu gehorchen und ſtets zu ihrer Unterhaltung bereit zu ſein. Kurz die lieben Kleinen haben ſo ziemlich Alles, was die Anarchie unter Freiheit, Wohlſtand und Bildung verſteht. Und dennoch ſind dieſe Kinder grämlich, dennoch verzehrt ſie die Langeweile, dennoch ſehen ſie ſtets mit Neid auf das, was Andere haben und was ſie im Augenblick nicht haben können, dennoch ſind ſie trotzig gegen Vater und Mutter, dennoch ſind ſie verdroſſen zur Arbeit wie zum Spiele, und je älter ſie werden, um ſo verdroſſener und unzufriedener werden ſie. Und nun tretet daneben in eine andere Wohnung ein, für deren Beſitzer die ſtrengſte Sparſamkeit eine Nothwen- digkeit iſt. Die einfachſte Kleidung, die wohlfeilſten Spiel- waaren müſſen hier den Kindern genügen, welchen der Chriſt- abend wenig mehr als ein paar Aepfel und irgend ein un- entbehrliches Kleidungsſtück bringt. Die Mutter vergießt wohl manche ſtille Thräne, daß ſie ihrem Kinde ſo oft eine unſchuldige Freude oder ein zu ſeiner Belehrung und Aus- bildung nützliches Hilfsmittel verſagen muß. Und auch ſonſt ergeht es den Kindern dieſes Hauſes viel „ſchlimmer“ als jenen Glückskindern nebenan. Das Wort des Vaters gilt als ſtrenges unverbrüchliches Geſetz. Eine Unfolgſamkeit,

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Zitationshilfe: [N. N.]: Unsere moderne Bildung im Bunde mit der Anarchie. Stuttgart, 1852, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_anarchie_1852/42>, abgerufen am 26.04.2024.