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Allgemeine Zeitung, Nr. 82, 25. März 1900.

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München, Sonntag Allgemeine Zeitung 25. März 1900. Nr. 82.

Umstand zweifelsohne mit dazu beigetragen, unsre Partei-
verhältnisse mehr noch zu verwirren und unsre inneren
Konflikte zu verschärfen. In der Politik entscheidet am
letzten Ende stets der Erfolg, und wenn der Monarch mit
seiner Person und mit seiner Autorität für eine Sache
eintritt, die schließlich siegreich bleibt, wie es hoffentlich
bei der Bewegung für die Verstärkung unsrer Flotte der
Fall sein wird, so wird sein Eingreifen in den Kampf
durch die Ereignisse vollkommen sanktionirt. Allein, mag
immer die Vernunft bei Wenigen nur gewesen sein, und
mag es so sich innerlich rechtfertigen lassen, wenn der
Monarch dann und wann offen zur Minorität sich bekennt,
so hat es für die erfolganbetende Menge doch leicht
etwas befremdliches, wenn im parlamentarischen Kampf
nicht nur die Regierung, sondern der Monarch selbst
schließlich den Rückzug antreten muß.

Bei all diesen Kämpfen und Wirrnissen sind Regierte
und Regierende, Mehrheits- und Minderheitsparteien
nervös und unsicher geworden. An redlichen Bemühungen,
Beruhigung zu verbreiten und über ihre Ziele, sowie über
die gesammte innere Lage Klarheit zu verschaffen, hat es
die Regierung zwar nicht fehlen lassen, aber ihr selbst
war die erforderliche Ruhe abhanden gekommen und ein
erregter Arzt wird selten im Stande sein, seinen nervösen
Patienten zur Ruhe zu bringen. Wollen wir im Reiche
wieder zu normalen und gesunden Verhältnissen gelangen,
so werden wir zunächst bestrebt sein müssen, allseits zur Selbst-
beschränkung und zur Selbstbescheidung uns zu zwingen.
Der Ruf zur Sammlung, zum Zusammenschließen der
innerlich verwandten Elemente, die auf wesentlich gleichen
Bahnen die gleichen großen Ziele erstreben, muß bei
unsern Parteien laut werden. Es ist höchste Zeit, der
Parteimengerei und dem Parteiwirrwarr, dem großentheils
selbstische oder unklare Bestrebungen zugrunde liegen, ein
Ziel zu setzen. Aber auch auf Seiten der Regierung muß
man sich sagen, daß mit der nervösen Vielgeschäftigkeit,
so gut sie gemeint sein mag, wenig zu erreichen ist. Der
zweite Reichskanzler, Graf Caprivi, hatte einst erklärt,
daß unter ihm die Politik langweilig werden würde. Er
hat sein Versprechen bekanntlich nicht eingelöst; der
Gedanke aber, dem er. Ausdruck gab, war durch-
aus richtig. Auch jetzt muß die Politik -- wir
sprechen natürlich nur von der inneren -- lang-
weilig werden. Die Regierung muß zu voller Klar-
heit darüber gelangen, was sie mit den ihr zu Gebote
stehenden Mitteln auf gerader Bahn ohne gewagte parla-
mentarische Experimente, die allzuleicht nur fehlschlagen,
erreichen kann, und was sie zu des Reiches Besten unbe-
dingt erreichen muß. Nur an dieses Mindestmaß von
legislatorischer Arbeit sollte sie thatsächlich herantreten,
an dessen erfolgreiche Erledigung aber auch ihr ganzes
Wollen und ihr ganzes Können setzen. Es heißt das, ihr
keine kleine Aufgabe zumuthen, denn in der Beschränkung
erst zeigt sich der Meister. Auf dem Wege weiser Be-
schränkung aber werden wir auch zu der dringend nöthigen
Klärung unsrer inneren Verhältnisse und zur Beseitigung
jener Nervosität gelangen, unter der Volk und Regierung
allzulange schon leiden.



Deutsches Reich.
Grelle Streiflichter auf unsre parlamentarischen Verhältnisse.

Die letzte Woche ist für die
Zustände innerhalb unsres Reichsparla-
mentarismus
noch lehrreicher gewesen als die voran-
gegangenen. So neu und verblüffend die skandalösen
Scenen am Schluß der letzteren erschienen, eigentlich mußte
man sich doch wundern, daß wir derartiges nicht längst
erlebt haben. Die Sozialdemokraten mit ihrem bürgerlich-
demokratischen Anhang haben den Anderen nur einmal ge-
zeigt, was man auch bei uns an Obstruktion mit den
vorhandenen Mitteln leisten kann, wenn man nur will.
Daß sie von diesen Mitteln bisher einen verhältnißmäßig
harmlosen Gebrauch gemacht haben, lag nur daran, daß
man auch sie mit zartfühlendem Entgegenkommen be-
handelte. Es gibt gar keinen köstlicheren Ausdruck für die
bisherige "Gemüthlichkeit" im Reichstag als die Thatsache,
daß Hr. Singer nun schon in das siebente Jahr Vor-
sitzender der Geschäftsordnungskommis-
sion
ist. Man kann sich denken, wie aufreizend und komisch
zugleich es auf die Sozialdemokraten wirken mußte, wenn
der Wortführer des Centrums, Hr. Gröber, den Ob-
[Spaltenumbruch] struktionisten sofort mit einer Aenderung der Ge-
schäftsordnung
drohte. Hr. Singer erwiderte dem
Centrumsmann darauf im Ton des wohlwollenden Men-
tors, der den irrenden Freund zur Vernunft zurückruft.
Man sah, das Obstruktionsmanöver hatte gewissermaßen
die Bedeutung einer Mahnung an das Centrum,
von dem Versuch einer Vergewaltigung der radikalen
Linken mit Hülfe der Konservativen Abstand zu nehmen.
Deutlich genug wurde dem Centrum zu verstehen gegeben,
es werde sich den Gedanken von Einschränkungsmaßregeln
gegen die Obstruktionsfreiheit wohl noch zweimal über-
legen, wenn anders es die Freunde von ehedem
nicht noch gründlicherkennenlernen wolle.

Man muß gestehen, die Herausforderung an die "re-
gierende" Partei war stark genug. Wollte sie ihre Auto-
rität behaupten, so gab es nur eine Antwort: die
Niederzwingung der Obstruktion um jeden Preis.
Das gleiche Interesse hatten mit ihr Alle, welche die lex
Heinze durchzusetzen entschlossen waren. Eine Aenderung
der Geschäftsordnung war gar nicht nöthig, die Majorität
brauchte nur vollzählig anwesend zu sein. Der Ge-
danke des Präsidenten, zunächst die Etatsberathung zu be-
endigen, war berechtigt. Aber die Majorität mußte nach
dem bis dahin unerhörten Erlebniß vom 17. März alles
aufbieten, daß sie sofort mit der neuen Woche in imposanter
Zahl erfcheinen und ihren festen Willen ankündigen konnte,
noch vor Ostern die lex Heinze zur vollen Durchberathung
zu bringen. Was hat man statt dessen gesehen? Die Prä-
senz ist die ganze Woche über trostloser als je gewesen, die
Verhandlungen sind fortwährend den Sozialdemokraten
auf Gnade und Ungnade preisgegeben, und in den Majo-
ritätsparteien hat man nur den einen Gedanken, sich diesem
unwürdigen Zustand so bald wie nur irgend möglich durch
die Flucht in die Ferien zu entziehen. Ein paar Tage ist
wohl noch in der Presse von Abänderung der Geschäfts-
ordnung die Rede gewesen, auch einige Centrumsfedern
haben sich daran betheiligt. Gerade in der Centrumspresse
aber sind alle diese Ideen dann am schärfsten desavouirt
worden, und in der "Köln. Volksztg." erschien die bedeut-
same Ermahnung, man solle doch über lauter lex Heinze
nicht das Andere vergessen. Kann man zweifeln, was das
heißt?

Den führenden Geistern des Centrums ist offenbar die
Erkenntniß gekommen, daß man durch eine energische Auf-
nahme und Durchführung des Kampfes gegen die Obstruk-
tionisten sich die "Abwehrmehrheit" verderben
könnte,
die Zwickmühle, auf welcher die parlamenta-
rische Machtstellung des Centrums beruht. Also galt es
schleunigst zurückhufen. Und wie graziös man das auszu-
führen versteht, davon hat man in der Donnerstagssitzung
des Reichstags ein allerliebstes Beispiel gehabt. Zu der
Vorlage über die Patentanwälte beliebte es dem
Sozialdemokraten Heine einen Antrag zu stellen, nach
welchem Niemand wegen politischer, wissen-
schaftlicher, künstlerischer oder religiöser
Ansichten
von der Patentanwaltliste sollte ausge-
schlossen werden können. Nach dem ganzen Inhalt des Ge-
setzes hatte eine derartige Bestimmung in ihm gar keinen
Sinn. Es kam dem Antragsteller nur darauf an, eine
große Rede zu halten, in der er allerlei boshafte Bemer-
kungen über den Fall Arons, die bekannten Maßrege-
lungen in Preußen und sogar über die lex Heinze vor-
bringen konnte. Er selbst wird wohl am wenigsten darüber
im Zweifel gewesen sein, daß dieser Einschmuggelungs-
versuch zum mindesten ein gelinder Unsug war. Aber siehe
da, Hr. Schmidt-Warburg nahm den sozialdemokratischen
Antrag unter seine Fittiche, indem er das Wörtchen "künst-
lerische" daraus strich, und so wurde er unter Führung des
Centrums gegen die Konservativen und Nationalliberalen
angenommen. Ist das nicht eine wahrhaft rüh-
rende Pflege der "Abwehrmehrheit"?
Diese
hatte übrigens schon vorher derselben Sitzung an be-
deutungsvollerer Stelle, wenn auch nur schweigsam, so aber
um so nachdrücklicher ihren Stempel aufgedrückt. Die Re-
gierung hatte vorgeschlagen, die Ueberschüsse des
Etatsjahres
1900 nicht, wie in den letzten Jahren, zur
Schuldentilgung, sondern zur Verstärkung des Be-
triebsfonds der Reichskasse
zu verwenden, um
dadurch die Vorschüsse der Einzelstaaten an die Reichskasse
unnöthig zu machen und so den Finanzen der Einzelstaaten
eine werthvolle Erleichterung zu gewähren. Es ist eine
[Spaltenumbruch] Forderung der Gerechtigkeit, im Interesse namentlich der
kleineren Staaten. Die "Abwehrmehrheit" aber hat sie ab-
gelehnt,
und zwar in erster Linie, wie man in der Kom-
mission ziemlich unverblümt erklärt hat, um die Einzel-
staaten für ihre Zustimmung zur Flottenvorlage zu be-
strafen. Das ist der malen unser Reichsparla-
mentarismus!

Auswärtige Politik und Sensationspresse.

* Es ist sehr erfreulich, daß die "Nordd. Allg.
Ztg."
die falschen Ausstrenungen des "Kleinen
Journals"
über angebliche deutsch-englisch-amerika-
nische Verhandlungen wegen Südafrika, mit derselben
Schärfe dementirt, wie die wiederholte Behauptung des
genannten Blattes, daß die Quelle jener Mel-
dungen im Auswärtigen Amte selbst zu
suchen sei.
Wenn die "Nordd. Allg. Ztg." heute vont
"Kleinen Journal" die unzweideutige Bezeichnung seines
Gewährsmannes verlangt, es für eine Ausflucht erklärt,
sich unter derartigen Umständen hinter der Pflicht journa-
listischer Diskretion zu verschanzen, und seststellt, daß
keinerlei öffentliches Interesse bestehe, hier irgend etwas zu
verschweigen, so ist das vollkommen richtig. Wohl aber be-
steht ein öffentliches Interesse daran, daß jener Sorte von
Zeitungen die Lust zur Verbreitung von Erfindungen ge-
nommen wird, die den Anschein erwecken, als ob im Aus-
wärtigen Amte verschiedene Strömungen öffentlich mitein-
ander ringen könnten. Ein solcher Zustand wäre in keinem
Ministerium so unerträglich, wie im Ministerium des
Aeußern. Daher müssen mit der größten
Befriedigung die unverkennbaren An-
zeichen dafür begrüßt werden, daß das
Auswärtige Amt schlechterdings kein
Gebahren duldet, das es im Lichte der
Desorganisation erscheinen läßt.

*

Tel. Die "Nordd. Allg. Ztg." schreibt
heute: Das "Kleine Journal" weiß zur Vertheidigung seiner
wahrheitswidrigen Behauptungen gegen das Auswärtige Amt
keinen anderen Rath, als unter Ausfällen gegen die hier nicht
in Betracht kommende Redaktion der "Nordd. Allg. Ztg."
hiuter der "journalistischen Anstandspflicht" Deckung zu suchen.
Wir sind deßhalb ermächtigt, gegenüber den Treibereien des
"Kleinen Journals" in unbedingter Form die Erklärung zu
wiederholen, daß die ihm angeblich von einer Stelle des Aus-
wärtigen Amts
bekannt gewordenen deutsch - englisch-
amerikanischen Verhandlungen wegen Südafrikas einfach er-
logen
sind.

Generaldebatte über die Flottenvorlage in der Budgetkommission.

* Ueber die Frage der Kostendeckung werden,
so schreibt die "Berl. Korresp.", voraussichtlich erheb-
liche Diskussionen in der Kommission stattfinden. Es sei
deßhalb nur betont, daß es, abgesehen von den Vertretern
gewisser radikaler Parteien, die aber jede Ausgabe für die
Zwecke der Landesvertheidigung als unproduktiv be-
mängeln, Niemand in Deutschland gibt, der ernstlich die
finanzielle Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes in Be-
treff der Flottenvermehrung bezweifelt. Selbst ein so vor-
sichtiger Rechner, wie der preußische Finanzminister, hat am
13. Dezember vorigen Jahres im Reichstag ausgesprochen,
daß nach seiner Auffassung die Flottennovelle in keinem
Widerspruch steht mit der Leistungsfähigkeit der Reichs-
sinanzen, mit ihrer wahrscheinlichen künftigen Entwicklung
und der inneren Kraft des deutschen Volkes, dessen Lei-
stungsfähigkeit noch erheblich gehoben wird durch den
größeren und sicheren Schutz unsrer Küsten und Häfen,
unsres Handels und unsres Exports. Die wirthschaftliche
Entwicklung hat es mit sich gebracht, daß Deutschlands
Wohl und Wehe täglich mehr von seiner Stellung im
großen Weltverkehr abhängig wird. Die Aufgabe Deutsch-
lands ist dadurch, wie der Finanzminister ausführte, eine
sehr schwierige geworden.

"Gelegen mitten in Europa, an beiden Seiten die
größten Militärmächte, andrerseits so stark bevölkert, daß die
innere Produktion nothwendig unsre Grenze überschreiten
muß, daß die Beschäftigung eines großen Theils unsres
Volkes sonst unmöglich ist, werden wir nothgedrungen auf
den großen Weltmarkt verwiesen, und wir müssen daraus die
Konsequenzen ziehen. Wenn die Nation das nicht will, wenn
sie diese Opfer nicht bringen will, dann wird nicht Forlgang
und Fortschritt, sondern Nückgang und Verkümmerung das
Loos des deutschen Volkes sein."

[Spaltenumbruch]

Alten dafür. Andreas Oberhummer, ein Gütler droben
im Seegebirg, war nämlich der Ansicht, daß sein Vub
Kastulus, gemeiniglich Kastl genannt, entschieden zu dumm
zur Bauernarbeit war, zu wenig anstellig und völlig be-
griffsstützig für landwirthschaftliche Dinge, und deßhalb
bestand der Alte darauf: der Vub sei zu dumm, daher müsse
er studieren und ein Herr werden! Mit dem "Herrn" war
ursprünglich nach Sitte und Brauch im Hochland der Seel-
sorger gemeint, aber Kastl ging nach der Gymnasialmatura
der Theologie aus dem Wege und erklärte dem Vater in
einem Briefe, daß er Medizin studiren werde und zwar mit
oder ohne Geld und Erlaubniß. Der alte Oberhummer
fluchte wohl, aber da der eigensinnige Bub kein Geld zum
Studiren will, läßt er ihn gewähren. Und so wurde Kastl
Bettelstudent und nährte sich vom Stundengeben. Was
während der Studienzeit an Viktualien ins Kämmerlein
des Studenten in der Universitätsstadt wanderte, Speck
und Bauernbrot, Küchel und Geld, das war Mütterchens
und Kastls Geheimniß.

Kastulus unterbricht den Gesang, denn eben fällt ihm
Vaters Spruch wieder ein, und seine Lippen kräuseln sich
zum vergnügten Schmunzeln. "Zu dumm zur Bauern-
arbeit war ich, und drum bin ich Doctor medicinae ge-
worden!" flüstert der junge Gebirgler seelenfroh vor sich
hin. "Ich lobe mir solche Dummheit!" ruft Kastl unwill-
kürlich laut in den Wald, doch läßt ihn ein Rascheln sofort
verstummen.

Aus dem Unterholz tritt der Forstwart in Waffen und
bedeutet dem Wanderer, daß das Spektakelmachen im Wald
verboten sei. Kastl grüßt und der Waldbeamte besieht den
jungen Mann genauer. "Wie ist mir denn, ich mein,
Ihnen sollt ich kennen!" setzt er dazu.

Kastl erwidert: "Freilich! Ich bin ja ..."

"Halt! Ich weiß schon: Du bischt der Bub vom Heißen-
bauern oben!" lacht der Forstwart und reicht dem Wan-
derer treubieder die Hand.

Etwas betreten erwidert Kastl den derben Händedruck,
ein klein wenig wurmt ihn diese respektlose Anrede doch.

[Spaltenumbruch]

In seiner geraden Bergnatur aber fragt der Wald-
mensch weiter: "Kommst wohl in die Vakanz heim, Heißen-
bub, was? Ischt recht, freut mich! Nur mach mir mein
Wild nicht durch dein unsinniges G'sangel rebellisch. Und
wenn du später jagen willst, ein Gamserl erlaub ich dir
schon, das heißt in meiner Begleitung. Weißt ja Bub,
ich hab dich immer gern gehabt! Warst ja der netteste
von den Krebskönigkindern."

Jetzt glaubt Kastl doch seine junge Würde betonen
zu sollen: "Ich dank, Herr Forstwart! Wird mir nicht viel
Zeit bleiben zum Jagen. Ein, zwei Tag' will ich ja aus-
schnaufen, dann aber beginne ich die Praxis."

Erstaunt guckt der rauhe Waldmann den Jungen an:
"Mit Verlaub! Was willst anfangen, Heißenbub?"

"Die Praxis! Ich bin jetzt fertig mit 'm Studiren, ich
bin jetzt Doktor."

"Fürs Viech?"

"Aber nein! Ich werde kranke Menschen behandeln
und kuriren."

"So wohl?! Eine solche Neuigkeit! Rein zum Ofen
einschlagen! Ein Dokter willst jetzt sein?! Ja warst du
denn nicht zu dumm für die Bauernarbeit? Und jetzt
bischt ein G'studirter! Na, da wünsch ich viel Glück! Recht
viel wirst nicht zu kuriren kriegen, Herr Dokter! Hat ja
der alte Dokter nicht genug zum Beißen! Na der alte
Medizinhafen wird eine Freud' haben! Behüt Gott, Heißen-
bub! Wenns bei mir mal zum Einrücken Zeit wird, laß ich
dir meine Kundschast zukommen, früher aber nicht. Ich
kurir alles selber mit Hirschunschlitt. Wennst eines brauchst,
ich steh zu Diensten, so viel du willst. Adjes!"

Verstimmt setzt Kastl den Weg fort durch den Wald;
die Sangeslust ist weg und der Humor auch. Den Ein-
tritt in die Heimath mit der neuen Würde hat Doktor
Oberhummer sich doch etwas anders vorgestellt; wenn die
Bauern alle so denken wie der Förster, dann wird die
Praxisausübung in der Heimath, auf welche sich Kastl die
langen Jahre hindurch so sehr gefreut, ihre "Mucken"
haben. Doch die Forstleute find immer eigen, ganz anders
[Spaltenumbruch] als die Bauern, das bringt der Veruf und das Einsiedler-
leben mit sich. Solche Gedanken trösten Kastl in etwas,
die Hoffnung schwillt wieder in der jungen Brust im Be-
wußtsein dessen, was auf der Universität alles gelernt
wurde. Hat er doch fleißig die Kollegien besucht, die neu-
esten Werke gründlich studirt, sich die neuesten Forschungen
und Entdeckungen zu eigen gemacht, so daß er geradezu
summa cum laude absolvirte. Was bedeutet da das Ge-
schwätz eines verwilderten Försters! Ein Lufthieb mit
dem Stock zeigt an, das Doktor Oberhummer nicht den
Pfifferling darauf hält.

Allmählich steigt das Sträßchen an und windet sich
aus dem Fichtenwald dem Hügelterrain zu. Das Knarren
eines hinterdrein humpelnden Wagens veranlaßt Kastl,
umzublicken, und mit spöttischem Lächeln begrüßt er den
schneckengleich heraufkriechenden alten Karren, neben wel-
chem der Postsepp schreitet und durch Zurufe den Gaul
zeitweilig ermahnt, doch nicht auf der Landstraße das
Sterben zu beginnen.

Gutmüthig spottet Kastl halblaut: "Schau, schau
der Sepp lebt auch noch! Und in dem alten Marterkasten
haben sie mich damals hinaus zur Lateinschule verfrachtet.
Widerstandsfähig ischt der alte Kälberwagen, das damalige
Thränemmeer hat ihn nicht aus den Fugen gebracht!"

"Hü!" ruft der Sepp und streift mit der Peitsche die
blutgierigen Bremsen vom Pferderücken ab. Kastl hat ge-
wartet, bis das Vehikel die Höhe heraufgekommen ist, und
grüßt nun leutselig, mit einer gewissen Herablassung den
alten Knecht.

"Grüß Gott, Sepp! Allweil noch Posterer?"

"Grüß Gott auch! Freilich, allweil noch bei der Post.
Sind Sie vielleicht müd? Wollen S' aufsitzen? Ich ver-
laub es schon, nur vorm Dorf müssen S' halt absteigen;
die Postmeisterin leidet keinen blinden Passagier, aber ich
hab halt ein so viel gutes Herz und bin immer so viel höf-
lich mit die Leut! Das bringt die Post mit sich! Allweil so
viel höflich!"

(Fortsetzung folgt.)

München, Sonntag Allgemeine Zeitung 25. März 1900. Nr. 82.

Umſtand zweifelsohne mit dazu beigetragen, unſre Partei-
verhältniſſe mehr noch zu verwirren und unſre inneren
Konflikte zu verſchärfen. In der Politik entſcheidet am
letzten Ende ſtets der Erfolg, und wenn der Monarch mit
ſeiner Perſon und mit ſeiner Autorität für eine Sache
eintritt, die ſchließlich ſiegreich bleibt, wie es hoffentlich
bei der Bewegung für die Verſtärkung unſrer Flotte der
Fall ſein wird, ſo wird ſein Eingreifen in den Kampf
durch die Ereigniſſe vollkommen ſanktionirt. Allein, mag
immer die Vernunft bei Wenigen nur geweſen ſein, und
mag es ſo ſich innerlich rechtfertigen laſſen, wenn der
Monarch dann und wann offen zur Minorität ſich bekennt,
ſo hat es für die erfolganbetende Menge doch leicht
etwas befremdliches, wenn im parlamentariſchen Kampf
nicht nur die Regierung, ſondern der Monarch ſelbſt
ſchließlich den Rückzug antreten muß.

Bei all dieſen Kämpfen und Wirrniſſen ſind Regierte
und Regierende, Mehrheits- und Minderheitsparteien
nervös und unſicher geworden. An redlichen Bemühungen,
Beruhigung zu verbreiten und über ihre Ziele, ſowie über
die geſammte innere Lage Klarheit zu verſchaffen, hat es
die Regierung zwar nicht fehlen laſſen, aber ihr ſelbſt
war die erforderliche Ruhe abhanden gekommen und ein
erregter Arzt wird ſelten im Stande ſein, ſeinen nervöſen
Patienten zur Ruhe zu bringen. Wollen wir im Reiche
wieder zu normalen und geſunden Verhältniſſen gelangen,
ſo werden wir zunächſt beſtrebt ſein müſſen, allſeits zur Selbſt-
beſchränkung und zur Selbſtbeſcheidung uns zu zwingen.
Der Ruf zur Sammlung, zum Zuſammenſchließen der
innerlich verwandten Elemente, die auf weſentlich gleichen
Bahnen die gleichen großen Ziele erſtreben, muß bei
unſern Parteien laut werden. Es iſt höchſte Zeit, der
Parteimengerei und dem Parteiwirrwarr, dem großentheils
ſelbſtiſche oder unklare Beſtrebungen zugrunde liegen, ein
Ziel zu ſetzen. Aber auch auf Seiten der Regierung muß
man ſich ſagen, daß mit der nervöſen Vielgeſchäftigkeit,
ſo gut ſie gemeint ſein mag, wenig zu erreichen iſt. Der
zweite Reichskanzler, Graf Caprivi, hatte einſt erklärt,
daß unter ihm die Politik langweilig werden würde. Er
hat ſein Verſprechen bekanntlich nicht eingelöst; der
Gedanke aber, dem er. Ausdruck gab, war durch-
aus richtig. Auch jetzt muß die Politik — wir
ſprechen natürlich nur von der inneren — lang-
weilig werden. Die Regierung muß zu voller Klar-
heit darüber gelangen, was ſie mit den ihr zu Gebote
ſtehenden Mitteln auf gerader Bahn ohne gewagte parla-
mentariſche Experimente, die allzuleicht nur fehlſchlagen,
erreichen kann, und was ſie zu des Reiches Beſten unbe-
dingt erreichen muß. Nur an dieſes Mindeſtmaß von
legislatoriſcher Arbeit ſollte ſie thatſächlich herantreten,
an deſſen erfolgreiche Erledigung aber auch ihr ganzes
Wollen und ihr ganzes Können ſetzen. Es heißt das, ihr
keine kleine Aufgabe zumuthen, denn in der Beſchränkung
erſt zeigt ſich der Meiſter. Auf dem Wege weiſer Be-
ſchränkung aber werden wir auch zu der dringend nöthigen
Klärung unſrer inneren Verhältniſſe und zur Beſeitigung
jener Nervoſität gelangen, unter der Volk und Regierung
allzulange ſchon leiden.



Deutſches Reich.
Grelle Streiflichter auf unſre parlamentariſchen Verhältniſſe.

Die letzte Woche iſt für die
Zuſtände innerhalb unſres Reichsparla-
mentarismus
noch lehrreicher geweſen als die voran-
gegangenen. So neu und verblüffend die ſkandalöſen
Scenen am Schluß der letzteren erſchienen, eigentlich mußte
man ſich doch wundern, daß wir derartiges nicht längſt
erlebt haben. Die Sozialdemokraten mit ihrem bürgerlich-
demokratiſchen Anhang haben den Anderen nur einmal ge-
zeigt, was man auch bei uns an Obſtruktion mit den
vorhandenen Mitteln leiſten kann, wenn man nur will.
Daß ſie von dieſen Mitteln bisher einen verhältnißmäßig
harmloſen Gebrauch gemacht haben, lag nur daran, daß
man auch ſie mit zartfühlendem Entgegenkommen be-
handelte. Es gibt gar keinen köſtlicheren Ausdruck für die
bisherige „Gemüthlichkeit“ im Reichstag als die Thatſache,
daß Hr. Singer nun ſchon in das ſiebente Jahr Vor-
ſitzender der Geſchäftsordnungskommiſ-
ſion
iſt. Man kann ſich denken, wie aufreizend und komiſch
zugleich es auf die Sozialdemokraten wirken mußte, wenn
der Wortführer des Centrums, Hr. Gröber, den Ob-
[Spaltenumbruch] ſtruktioniſten ſofort mit einer Aenderung der Ge-
ſchäftsordnung
drohte. Hr. Singer erwiderte dem
Centrumsmann darauf im Ton des wohlwollenden Men-
tors, der den irrenden Freund zur Vernunft zurückruft.
Man ſah, das Obſtruktionsmanöver hatte gewiſſermaßen
die Bedeutung einer Mahnung an das Centrum,
von dem Verſuch einer Vergewaltigung der radikalen
Linken mit Hülfe der Konſervativen Abſtand zu nehmen.
Deutlich genug wurde dem Centrum zu verſtehen gegeben,
es werde ſich den Gedanken von Einſchränkungsmaßregeln
gegen die Obſtruktionsfreiheit wohl noch zweimal über-
legen, wenn anders es die Freunde von ehedem
nicht noch gründlicherkennenlernen wolle.

Man muß geſtehen, die Herausforderung an die „re-
gierende“ Partei war ſtark genug. Wollte ſie ihre Auto-
rität behaupten, ſo gab es nur eine Antwort: die
Niederzwingung der Obſtruktion um jeden Preis.
Das gleiche Intereſſe hatten mit ihr Alle, welche die lex
Heinze durchzuſetzen entſchloſſen waren. Eine Aenderung
der Geſchäftsordnung war gar nicht nöthig, die Majorität
brauchte nur vollzählig anweſend zu ſein. Der Ge-
danke des Präſidenten, zunächſt die Etatsberathung zu be-
endigen, war berechtigt. Aber die Majorität mußte nach
dem bis dahin unerhörten Erlebniß vom 17. März alles
aufbieten, daß ſie ſofort mit der neuen Woche in impoſanter
Zahl erfcheinen und ihren feſten Willen ankündigen konnte,
noch vor Oſtern die lex Heinze zur vollen Durchberathung
zu bringen. Was hat man ſtatt deſſen geſehen? Die Prä-
ſenz iſt die ganze Woche über troſtloſer als je geweſen, die
Verhandlungen ſind fortwährend den Sozialdemokraten
auf Gnade und Ungnade preisgegeben, und in den Majo-
ritätsparteien hat man nur den einen Gedanken, ſich dieſem
unwürdigen Zuſtand ſo bald wie nur irgend möglich durch
die Flucht in die Ferien zu entziehen. Ein paar Tage iſt
wohl noch in der Preſſe von Abänderung der Geſchäfts-
ordnung die Rede geweſen, auch einige Centrumsfedern
haben ſich daran betheiligt. Gerade in der Centrumspreſſe
aber ſind alle dieſe Ideen dann am ſchärfſten desavouirt
worden, und in der „Köln. Volksztg.“ erſchien die bedeut-
ſame Ermahnung, man ſolle doch über lauter lex Heinze
nicht das Andere vergeſſen. Kann man zweifeln, was das
heißt?

Den führenden Geiſtern des Centrums iſt offenbar die
Erkenntniß gekommen, daß man durch eine energiſche Auf-
nahme und Durchführung des Kampfes gegen die Obſtruk-
tioniſten ſich die „Abwehrmehrheit“ verderben
könnte,
die Zwickmühle, auf welcher die parlamenta-
riſche Machtſtellung des Centrums beruht. Alſo galt es
ſchleunigſt zurückhufen. Und wie graziös man das auszu-
führen verſteht, davon hat man in der Donnerſtagsſitzung
des Reichstags ein allerliebſtes Beiſpiel gehabt. Zu der
Vorlage über die Patentanwälte beliebte es dem
Sozialdemokraten Heine einen Antrag zu ſtellen, nach
welchem Niemand wegen politiſcher, wiſſen-
ſchaftlicher, künſtleriſcher oder religiöſer
Anſichten
von der Patentanwaltliſte ſollte ausge-
ſchloſſen werden können. Nach dem ganzen Inhalt des Ge-
ſetzes hatte eine derartige Beſtimmung in ihm gar keinen
Sinn. Es kam dem Antragſteller nur darauf an, eine
große Rede zu halten, in der er allerlei boshafte Bemer-
kungen über den Fall Arons, die bekannten Maßrege-
lungen in Preußen und ſogar über die lex Heinze vor-
bringen konnte. Er ſelbſt wird wohl am wenigſten darüber
im Zweifel geweſen ſein, daß dieſer Einſchmuggelungs-
verſuch zum mindeſten ein gelinder Unſug war. Aber ſiehe
da, Hr. Schmidt-Warburg nahm den ſozialdemokratiſchen
Antrag unter ſeine Fittiche, indem er das Wörtchen „künſt-
leriſche“ daraus ſtrich, und ſo wurde er unter Führung des
Centrums gegen die Konſervativen und Nationalliberalen
angenommen. Iſt das nicht eine wahrhaft rüh-
rende Pflege der „Abwehrmehrheit“?
Dieſe
hatte übrigens ſchon vorher derſelben Sitzung an be-
deutungsvollerer Stelle, wenn auch nur ſchweigſam, ſo aber
um ſo nachdrücklicher ihren Stempel aufgedrückt. Die Re-
gierung hatte vorgeſchlagen, die Ueberſchüſſe des
Etatsjahres
1900 nicht, wie in den letzten Jahren, zur
Schuldentilgung, ſondern zur Verſtärkung des Be-
triebsfonds der Reichskaſſe
zu verwenden, um
dadurch die Vorſchüſſe der Einzelſtaaten an die Reichskaſſe
unnöthig zu machen und ſo den Finanzen der Einzelſtaaten
eine werthvolle Erleichterung zu gewähren. Es iſt eine
[Spaltenumbruch] Forderung der Gerechtigkeit, im Intereſſe namentlich der
kleineren Staaten. Die „Abwehrmehrheit“ aber hat ſie ab-
gelehnt,
und zwar in erſter Linie, wie man in der Kom-
miſſion ziemlich unverblümt erklärt hat, um die Einzel-
ſtaaten für ihre Zuſtimmung zur Flottenvorlage zu be-
ſtrafen. Das iſt der malen unſer Reichsparla-
mentarismus!

Auswärtige Politik und Senſationspreſſe.

* Es iſt ſehr erfreulich, daß die „Nordd. Allg.
Ztg.“
die falſchen Ausſtrenungen des „Kleinen
Journals“
über angebliche deutſch-engliſch-amerika-
niſche Verhandlungen wegen Südafrika, mit derſelben
Schärfe dementirt, wie die wiederholte Behauptung des
genannten Blattes, daß die Quelle jener Mel-
dungen im Auswärtigen Amte ſelbſt zu
ſuchen ſei.
Wenn die „Nordd. Allg. Ztg.“ heute vont
„Kleinen Journal“ die unzweideutige Bezeichnung ſeines
Gewährsmannes verlangt, es für eine Ausflucht erklärt,
ſich unter derartigen Umſtänden hinter der Pflicht journa-
liſtiſcher Diskretion zu verſchanzen, und ſeſtſtellt, daß
keinerlei öffentliches Intereſſe beſtehe, hier irgend etwas zu
verſchweigen, ſo iſt das vollkommen richtig. Wohl aber be-
ſteht ein öffentliches Intereſſe daran, daß jener Sorte von
Zeitungen die Luſt zur Verbreitung von Erfindungen ge-
nommen wird, die den Anſchein erwecken, als ob im Aus-
wärtigen Amte verſchiedene Strömungen öffentlich mitein-
ander ringen könnten. Ein ſolcher Zuſtand wäre in keinem
Miniſterium ſo unerträglich, wie im Miniſterium des
Aeußern. Daher müſſen mit der größten
Befriedigung die unverkennbaren An-
zeichen dafür begrüßt werden, daß das
Auswärtige Amt ſchlechterdings kein
Gebahren duldet, das es im Lichte der
Desorganiſation erſcheinen läßt.

*

Tel. Die „Nordd. Allg. Ztg.“ ſchreibt
heute: Das „Kleine Journal“ weiß zur Vertheidigung ſeiner
wahrheitswidrigen Behauptungen gegen das Auswärtige Amt
keinen anderen Rath, als unter Ausfällen gegen die hier nicht
in Betracht kommende Redaktion der „Nordd. Allg. Ztg.“
hiuter der „journaliſtiſchen Anſtandspflicht“ Deckung zu ſuchen.
Wir ſind deßhalb ermächtigt, gegenüber den Treibereien des
„Kleinen Journals“ in unbedingter Form die Erklärung zu
wiederholen, daß die ihm angeblich von einer Stelle des Aus-
wärtigen Amts
bekannt gewordenen deutſch - engliſch-
amerikaniſchen Verhandlungen wegen Südafrikas einfach er-
logen
ſind.

Generaldebatte über die Flottenvorlage in der Budgetkommiſſion.

* Ueber die Frage der Koſtendeckung werden,
ſo ſchreibt die „Berl. Korreſp.“, vorausſichtlich erheb-
liche Diskuſſionen in der Kommiſſion ſtattfinden. Es ſei
deßhalb nur betont, daß es, abgeſehen von den Vertretern
gewiſſer radikaler Parteien, die aber jede Ausgabe für die
Zwecke der Landesvertheidigung als unproduktiv be-
mängeln, Niemand in Deutſchland gibt, der ernſtlich die
finanzielle Leiſtungsfähigkeit des deutſchen Volkes in Be-
treff der Flottenvermehrung bezweifelt. Selbſt ein ſo vor-
ſichtiger Rechner, wie der preußiſche Finanzminiſter, hat am
13. Dezember vorigen Jahres im Reichstag ausgeſprochen,
daß nach ſeiner Auffaſſung die Flottennovelle in keinem
Widerſpruch ſteht mit der Leiſtungsfähigkeit der Reichs-
ſinanzen, mit ihrer wahrſcheinlichen künftigen Entwicklung
und der inneren Kraft des deutſchen Volkes, deſſen Lei-
ſtungsfähigkeit noch erheblich gehoben wird durch den
größeren und ſicheren Schutz unſrer Küſten und Häfen,
unſres Handels und unſres Exports. Die wirthſchaftliche
Entwicklung hat es mit ſich gebracht, daß Deutſchlands
Wohl und Wehe täglich mehr von ſeiner Stellung im
großen Weltverkehr abhängig wird. Die Aufgabe Deutſch-
lands iſt dadurch, wie der Finanzminiſter ausführte, eine
ſehr ſchwierige geworden.

„Gelegen mitten in Europa, an beiden Seiten die
größten Militärmächte, andrerſeits ſo ſtark bevölkert, daß die
innere Produktion nothwendig unſre Grenze überſchreiten
muß, daß die Beſchäftigung eines großen Theils unſres
Volkes ſonſt unmöglich iſt, werden wir nothgedrungen auf
den großen Weltmarkt verwieſen, und wir müſſen daraus die
Konſequenzen ziehen. Wenn die Nation das nicht will, wenn
ſie dieſe Opfer nicht bringen will, dann wird nicht Forlgang
und Fortſchritt, ſondern Nückgang und Verkümmerung das
Loos des deutſchen Volkes ſein.“

[Spaltenumbruch]

Alten dafür. Andreas Oberhummer, ein Gütler droben
im Seegebirg, war nämlich der Anſicht, daß ſein Vub
Kaſtulus, gemeiniglich Kaſtl genannt, entſchieden zu dumm
zur Bauernarbeit war, zu wenig anſtellig und völlig be-
griffsſtützig für landwirthſchaftliche Dinge, und deßhalb
beſtand der Alte darauf: der Vub ſei zu dumm, daher müſſe
er ſtudieren und ein Herr werden! Mit dem „Herrn“ war
urſprünglich nach Sitte und Brauch im Hochland der Seel-
ſorger gemeint, aber Kaſtl ging nach der Gymnaſialmatura
der Theologie aus dem Wege und erklärte dem Vater in
einem Briefe, daß er Medizin ſtudiren werde und zwar mit
oder ohne Geld und Erlaubniß. Der alte Oberhummer
fluchte wohl, aber da der eigenſinnige Bub kein Geld zum
Studiren will, läßt er ihn gewähren. Und ſo wurde Kaſtl
Bettelſtudent und nährte ſich vom Stundengeben. Was
während der Studienzeit an Viktualien ins Kämmerlein
des Studenten in der Univerſitätsſtadt wanderte, Speck
und Bauernbrot, Küchel und Geld, das war Mütterchens
und Kaſtls Geheimniß.

Kaſtulus unterbricht den Geſang, denn eben fällt ihm
Vaters Spruch wieder ein, und ſeine Lippen kräuſeln ſich
zum vergnügten Schmunzeln. „Zu dumm zur Bauern-
arbeit war ich, und drum bin ich Doctor medicinae ge-
worden!“ flüſtert der junge Gebirgler ſeelenfroh vor ſich
hin. „Ich lobe mir ſolche Dummheit!“ ruft Kaſtl unwill-
kürlich laut in den Wald, doch läßt ihn ein Raſcheln ſofort
verſtummen.

Aus dem Unterholz tritt der Forſtwart in Waffen und
bedeutet dem Wanderer, daß das Spektakelmachen im Wald
verboten ſei. Kaſtl grüßt und der Waldbeamte beſieht den
jungen Mann genauer. „Wie iſt mir denn, ich mein,
Ihnen ſollt ich kennen!“ ſetzt er dazu.

Kaſtl erwidert: „Freilich! Ich bin ja ...“

„Halt! Ich weiß ſchon: Du biſcht der Bub vom Heißen-
bauern oben!“ lacht der Forſtwart und reicht dem Wan-
derer treubieder die Hand.

Etwas betreten erwidert Kaſtl den derben Händedruck,
ein klein wenig wurmt ihn dieſe reſpektloſe Anrede doch.

[Spaltenumbruch]

In ſeiner geraden Bergnatur aber fragt der Wald-
menſch weiter: „Kommſt wohl in die Vakanz heim, Heißen-
bub, was? Iſcht recht, freut mich! Nur mach mir mein
Wild nicht durch dein unſinniges G’ſangel rebelliſch. Und
wenn du ſpäter jagen willſt, ein Gamſerl erlaub ich dir
ſchon, das heißt in meiner Begleitung. Weißt ja Bub,
ich hab dich immer gern gehabt! Warſt ja der netteſte
von den Krebskönigkindern.“

Jetzt glaubt Kaſtl doch ſeine junge Würde betonen
zu ſollen: „Ich dank, Herr Forſtwart! Wird mir nicht viel
Zeit bleiben zum Jagen. Ein, zwei Tag’ will ich ja aus-
ſchnaufen, dann aber beginne ich die Praxis.“

Erſtaunt guckt der rauhe Waldmann den Jungen an:
„Mit Verlaub! Was willſt anfangen, Heißenbub?“

„Die Praxis! Ich bin jetzt fertig mit ’m Studiren, ich
bin jetzt Doktor.“

„Fürs Viech?“

„Aber nein! Ich werde kranke Menſchen behandeln
und kuriren.“

„So wohl?! Eine ſolche Neuigkeit! Rein zum Ofen
einſchlagen! Ein Dokter willſt jetzt ſein?! Ja warſt du
denn nicht zu dumm für die Bauernarbeit? Und jetzt
biſcht ein G’ſtudirter! Na, da wünſch ich viel Glück! Recht
viel wirſt nicht zu kuriren kriegen, Herr Dokter! Hat ja
der alte Dokter nicht genug zum Beißen! Na der alte
Medizinhafen wird eine Freud’ haben! Behüt Gott, Heißen-
bub! Wenns bei mir mal zum Einrücken Zeit wird, laß ich
dir meine Kundſchaſt zukommen, früher aber nicht. Ich
kurir alles ſelber mit Hirſchunſchlitt. Wennſt eines brauchſt,
ich ſteh zu Dienſten, ſo viel du willſt. Adjes!“

Verſtimmt ſetzt Kaſtl den Weg fort durch den Wald;
die Sangesluſt iſt weg und der Humor auch. Den Ein-
tritt in die Heimath mit der neuen Würde hat Doktor
Oberhummer ſich doch etwas anders vorgeſtellt; wenn die
Bauern alle ſo denken wie der Förſter, dann wird die
Praxisausübung in der Heimath, auf welche ſich Kaſtl die
langen Jahre hindurch ſo ſehr gefreut, ihre „Mucken“
haben. Doch die Forſtleute find immer eigen, ganz anders
[Spaltenumbruch] als die Bauern, das bringt der Veruf und das Einſiedler-
leben mit ſich. Solche Gedanken tröſten Kaſtl in etwas,
die Hoffnung ſchwillt wieder in der jungen Bruſt im Be-
wußtſein deſſen, was auf der Univerſität alles gelernt
wurde. Hat er doch fleißig die Kollegien beſucht, die neu-
eſten Werke gründlich ſtudirt, ſich die neueſten Forſchungen
und Entdeckungen zu eigen gemacht, ſo daß er geradezu
summa cum laude abſolvirte. Was bedeutet da das Ge-
ſchwätz eines verwilderten Förſters! Ein Lufthieb mit
dem Stock zeigt an, das Doktor Oberhummer nicht den
Pfifferling darauf hält.

Allmählich ſteigt das Sträßchen an und windet ſich
aus dem Fichtenwald dem Hügelterrain zu. Das Knarren
eines hinterdrein humpelnden Wagens veranlaßt Kaſtl,
umzublicken, und mit ſpöttiſchem Lächeln begrüßt er den
ſchneckengleich heraufkriechenden alten Karren, neben wel-
chem der Poſtſepp ſchreitet und durch Zurufe den Gaul
zeitweilig ermahnt, doch nicht auf der Landſtraße das
Sterben zu beginnen.

Gutmüthig ſpottet Kaſtl halblaut: „Schau, ſchau
der Sepp lebt auch noch! Und in dem alten Marterkaſten
haben ſie mich damals hinaus zur Lateinſchule verfrachtet.
Widerſtandsfähig iſcht der alte Kälberwagen, das damalige
Thränemmeer hat ihn nicht aus den Fugen gebracht!“

„Hü!“ ruft der Sepp und ſtreift mit der Peitſche die
blutgierigen Bremſen vom Pferderücken ab. Kaſtl hat ge-
wartet, bis das Vehikel die Höhe heraufgekommen iſt, und
grüßt nun leutſelig, mit einer gewiſſen Herablaſſung den
alten Knecht.

„Grüß Gott, Sepp! Allweil noch Poſterer?“

„Grüß Gott auch! Freilich, allweil noch bei der Poſt.
Sind Sie vielleicht müd? Wollen S’ aufſitzen? Ich ver-
laub es ſchon, nur vorm Dorf müſſen S’ halt abſteigen;
die Poſtmeiſterin leidet keinen blinden Paſſagier, aber ich
hab halt ein ſo viel gutes Herz und bin immer ſo viel höf-
lich mit die Leut! Das bringt die Poſt mit ſich! Allweil ſo
viel höflich!“

(Fortſetzung folgt.)

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&#x017F;orger gemeint, aber Ka&#x017F;tl ging nach der Gymna&#x017F;ialmatura<lb/>
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[2/0002] München, Sonntag Allgemeine Zeitung 25. März 1900. Nr. 82. Umſtand zweifelsohne mit dazu beigetragen, unſre Partei- verhältniſſe mehr noch zu verwirren und unſre inneren Konflikte zu verſchärfen. In der Politik entſcheidet am letzten Ende ſtets der Erfolg, und wenn der Monarch mit ſeiner Perſon und mit ſeiner Autorität für eine Sache eintritt, die ſchließlich ſiegreich bleibt, wie es hoffentlich bei der Bewegung für die Verſtärkung unſrer Flotte der Fall ſein wird, ſo wird ſein Eingreifen in den Kampf durch die Ereigniſſe vollkommen ſanktionirt. Allein, mag immer die Vernunft bei Wenigen nur geweſen ſein, und mag es ſo ſich innerlich rechtfertigen laſſen, wenn der Monarch dann und wann offen zur Minorität ſich bekennt, ſo hat es für die erfolganbetende Menge doch leicht etwas befremdliches, wenn im parlamentariſchen Kampf nicht nur die Regierung, ſondern der Monarch ſelbſt ſchließlich den Rückzug antreten muß. Bei all dieſen Kämpfen und Wirrniſſen ſind Regierte und Regierende, Mehrheits- und Minderheitsparteien nervös und unſicher geworden. An redlichen Bemühungen, Beruhigung zu verbreiten und über ihre Ziele, ſowie über die geſammte innere Lage Klarheit zu verſchaffen, hat es die Regierung zwar nicht fehlen laſſen, aber ihr ſelbſt war die erforderliche Ruhe abhanden gekommen und ein erregter Arzt wird ſelten im Stande ſein, ſeinen nervöſen Patienten zur Ruhe zu bringen. Wollen wir im Reiche wieder zu normalen und geſunden Verhältniſſen gelangen, ſo werden wir zunächſt beſtrebt ſein müſſen, allſeits zur Selbſt- beſchränkung und zur Selbſtbeſcheidung uns zu zwingen. Der Ruf zur Sammlung, zum Zuſammenſchließen der innerlich verwandten Elemente, die auf weſentlich gleichen Bahnen die gleichen großen Ziele erſtreben, muß bei unſern Parteien laut werden. Es iſt höchſte Zeit, der Parteimengerei und dem Parteiwirrwarr, dem großentheils ſelbſtiſche oder unklare Beſtrebungen zugrunde liegen, ein Ziel zu ſetzen. Aber auch auf Seiten der Regierung muß man ſich ſagen, daß mit der nervöſen Vielgeſchäftigkeit, ſo gut ſie gemeint ſein mag, wenig zu erreichen iſt. Der zweite Reichskanzler, Graf Caprivi, hatte einſt erklärt, daß unter ihm die Politik langweilig werden würde. Er hat ſein Verſprechen bekanntlich nicht eingelöst; der Gedanke aber, dem er. Ausdruck gab, war durch- aus richtig. Auch jetzt muß die Politik — wir ſprechen natürlich nur von der inneren — lang- weilig werden. Die Regierung muß zu voller Klar- heit darüber gelangen, was ſie mit den ihr zu Gebote ſtehenden Mitteln auf gerader Bahn ohne gewagte parla- mentariſche Experimente, die allzuleicht nur fehlſchlagen, erreichen kann, und was ſie zu des Reiches Beſten unbe- dingt erreichen muß. Nur an dieſes Mindeſtmaß von legislatoriſcher Arbeit ſollte ſie thatſächlich herantreten, an deſſen erfolgreiche Erledigung aber auch ihr ganzes Wollen und ihr ganzes Können ſetzen. Es heißt das, ihr keine kleine Aufgabe zumuthen, denn in der Beſchränkung erſt zeigt ſich der Meiſter. Auf dem Wege weiſer Be- ſchränkung aber werden wir auch zu der dringend nöthigen Klärung unſrer inneren Verhältniſſe und zur Beſeitigung jener Nervoſität gelangen, unter der Volk und Regierung allzulange ſchon leiden. Deutſches Reich. Grelle Streiflichter auf unſre parlamentariſchen Verhältniſſe. ☩ Berlin, 23. März. Die letzte Woche iſt für die Zuſtände innerhalb unſres Reichsparla- mentarismus noch lehrreicher geweſen als die voran- gegangenen. So neu und verblüffend die ſkandalöſen Scenen am Schluß der letzteren erſchienen, eigentlich mußte man ſich doch wundern, daß wir derartiges nicht längſt erlebt haben. Die Sozialdemokraten mit ihrem bürgerlich- demokratiſchen Anhang haben den Anderen nur einmal ge- zeigt, was man auch bei uns an Obſtruktion mit den vorhandenen Mitteln leiſten kann, wenn man nur will. Daß ſie von dieſen Mitteln bisher einen verhältnißmäßig harmloſen Gebrauch gemacht haben, lag nur daran, daß man auch ſie mit zartfühlendem Entgegenkommen be- handelte. Es gibt gar keinen köſtlicheren Ausdruck für die bisherige „Gemüthlichkeit“ im Reichstag als die Thatſache, daß Hr. Singer nun ſchon in das ſiebente Jahr Vor- ſitzender der Geſchäftsordnungskommiſ- ſion iſt. Man kann ſich denken, wie aufreizend und komiſch zugleich es auf die Sozialdemokraten wirken mußte, wenn der Wortführer des Centrums, Hr. Gröber, den Ob- ſtruktioniſten ſofort mit einer Aenderung der Ge- ſchäftsordnung drohte. Hr. Singer erwiderte dem Centrumsmann darauf im Ton des wohlwollenden Men- tors, der den irrenden Freund zur Vernunft zurückruft. Man ſah, das Obſtruktionsmanöver hatte gewiſſermaßen die Bedeutung einer Mahnung an das Centrum, von dem Verſuch einer Vergewaltigung der radikalen Linken mit Hülfe der Konſervativen Abſtand zu nehmen. Deutlich genug wurde dem Centrum zu verſtehen gegeben, es werde ſich den Gedanken von Einſchränkungsmaßregeln gegen die Obſtruktionsfreiheit wohl noch zweimal über- legen, wenn anders es die Freunde von ehedem nicht noch gründlicherkennenlernen wolle. Man muß geſtehen, die Herausforderung an die „re- gierende“ Partei war ſtark genug. Wollte ſie ihre Auto- rität behaupten, ſo gab es nur eine Antwort: die Niederzwingung der Obſtruktion um jeden Preis. Das gleiche Intereſſe hatten mit ihr Alle, welche die lex Heinze durchzuſetzen entſchloſſen waren. Eine Aenderung der Geſchäftsordnung war gar nicht nöthig, die Majorität brauchte nur vollzählig anweſend zu ſein. Der Ge- danke des Präſidenten, zunächſt die Etatsberathung zu be- endigen, war berechtigt. Aber die Majorität mußte nach dem bis dahin unerhörten Erlebniß vom 17. März alles aufbieten, daß ſie ſofort mit der neuen Woche in impoſanter Zahl erfcheinen und ihren feſten Willen ankündigen konnte, noch vor Oſtern die lex Heinze zur vollen Durchberathung zu bringen. Was hat man ſtatt deſſen geſehen? Die Prä- ſenz iſt die ganze Woche über troſtloſer als je geweſen, die Verhandlungen ſind fortwährend den Sozialdemokraten auf Gnade und Ungnade preisgegeben, und in den Majo- ritätsparteien hat man nur den einen Gedanken, ſich dieſem unwürdigen Zuſtand ſo bald wie nur irgend möglich durch die Flucht in die Ferien zu entziehen. Ein paar Tage iſt wohl noch in der Preſſe von Abänderung der Geſchäfts- ordnung die Rede geweſen, auch einige Centrumsfedern haben ſich daran betheiligt. Gerade in der Centrumspreſſe aber ſind alle dieſe Ideen dann am ſchärfſten desavouirt worden, und in der „Köln. Volksztg.“ erſchien die bedeut- ſame Ermahnung, man ſolle doch über lauter lex Heinze nicht das Andere vergeſſen. Kann man zweifeln, was das heißt? Den führenden Geiſtern des Centrums iſt offenbar die Erkenntniß gekommen, daß man durch eine energiſche Auf- nahme und Durchführung des Kampfes gegen die Obſtruk- tioniſten ſich die „Abwehrmehrheit“ verderben könnte, die Zwickmühle, auf welcher die parlamenta- riſche Machtſtellung des Centrums beruht. Alſo galt es ſchleunigſt zurückhufen. Und wie graziös man das auszu- führen verſteht, davon hat man in der Donnerſtagsſitzung des Reichstags ein allerliebſtes Beiſpiel gehabt. Zu der Vorlage über die Patentanwälte beliebte es dem Sozialdemokraten Heine einen Antrag zu ſtellen, nach welchem Niemand wegen politiſcher, wiſſen- ſchaftlicher, künſtleriſcher oder religiöſer Anſichten von der Patentanwaltliſte ſollte ausge- ſchloſſen werden können. Nach dem ganzen Inhalt des Ge- ſetzes hatte eine derartige Beſtimmung in ihm gar keinen Sinn. Es kam dem Antragſteller nur darauf an, eine große Rede zu halten, in der er allerlei boshafte Bemer- kungen über den Fall Arons, die bekannten Maßrege- lungen in Preußen und ſogar über die lex Heinze vor- bringen konnte. Er ſelbſt wird wohl am wenigſten darüber im Zweifel geweſen ſein, daß dieſer Einſchmuggelungs- verſuch zum mindeſten ein gelinder Unſug war. Aber ſiehe da, Hr. Schmidt-Warburg nahm den ſozialdemokratiſchen Antrag unter ſeine Fittiche, indem er das Wörtchen „künſt- leriſche“ daraus ſtrich, und ſo wurde er unter Führung des Centrums gegen die Konſervativen und Nationalliberalen angenommen. Iſt das nicht eine wahrhaft rüh- rende Pflege der „Abwehrmehrheit“? Dieſe hatte übrigens ſchon vorher derſelben Sitzung an be- deutungsvollerer Stelle, wenn auch nur ſchweigſam, ſo aber um ſo nachdrücklicher ihren Stempel aufgedrückt. Die Re- gierung hatte vorgeſchlagen, die Ueberſchüſſe des Etatsjahres 1900 nicht, wie in den letzten Jahren, zur Schuldentilgung, ſondern zur Verſtärkung des Be- triebsfonds der Reichskaſſe zu verwenden, um dadurch die Vorſchüſſe der Einzelſtaaten an die Reichskaſſe unnöthig zu machen und ſo den Finanzen der Einzelſtaaten eine werthvolle Erleichterung zu gewähren. Es iſt eine Forderung der Gerechtigkeit, im Intereſſe namentlich der kleineren Staaten. Die „Abwehrmehrheit“ aber hat ſie ab- gelehnt, und zwar in erſter Linie, wie man in der Kom- miſſion ziemlich unverblümt erklärt hat, um die Einzel- ſtaaten für ihre Zuſtimmung zur Flottenvorlage zu be- ſtrafen. Das iſt der malen unſer Reichsparla- mentarismus! Auswärtige Politik und Senſationspreſſe. * Es iſt ſehr erfreulich, daß die „Nordd. Allg. Ztg.“ die falſchen Ausſtrenungen des „Kleinen Journals“ über angebliche deutſch-engliſch-amerika- niſche Verhandlungen wegen Südafrika, mit derſelben Schärfe dementirt, wie die wiederholte Behauptung des genannten Blattes, daß die Quelle jener Mel- dungen im Auswärtigen Amte ſelbſt zu ſuchen ſei. Wenn die „Nordd. Allg. Ztg.“ heute vont „Kleinen Journal“ die unzweideutige Bezeichnung ſeines Gewährsmannes verlangt, es für eine Ausflucht erklärt, ſich unter derartigen Umſtänden hinter der Pflicht journa- liſtiſcher Diskretion zu verſchanzen, und ſeſtſtellt, daß keinerlei öffentliches Intereſſe beſtehe, hier irgend etwas zu verſchweigen, ſo iſt das vollkommen richtig. Wohl aber be- ſteht ein öffentliches Intereſſe daran, daß jener Sorte von Zeitungen die Luſt zur Verbreitung von Erfindungen ge- nommen wird, die den Anſchein erwecken, als ob im Aus- wärtigen Amte verſchiedene Strömungen öffentlich mitein- ander ringen könnten. Ein ſolcher Zuſtand wäre in keinem Miniſterium ſo unerträglich, wie im Miniſterium des Aeußern. Daher müſſen mit der größten Befriedigung die unverkennbaren An- zeichen dafür begrüßt werden, daß das Auswärtige Amt ſchlechterdings kein Gebahren duldet, das es im Lichte der Desorganiſation erſcheinen läßt. *Berlin, 24. März. Tel. Die „Nordd. Allg. Ztg.“ ſchreibt heute: Das „Kleine Journal“ weiß zur Vertheidigung ſeiner wahrheitswidrigen Behauptungen gegen das Auswärtige Amt keinen anderen Rath, als unter Ausfällen gegen die hier nicht in Betracht kommende Redaktion der „Nordd. Allg. Ztg.“ hiuter der „journaliſtiſchen Anſtandspflicht“ Deckung zu ſuchen. Wir ſind deßhalb ermächtigt, gegenüber den Treibereien des „Kleinen Journals“ in unbedingter Form die Erklärung zu wiederholen, daß die ihm angeblich von einer Stelle des Aus- wärtigen Amts bekannt gewordenen deutſch - engliſch- amerikaniſchen Verhandlungen wegen Südafrikas einfach er- logen ſind. Generaldebatte über die Flottenvorlage in der Budgetkommiſſion. * Ueber die Frage der Koſtendeckung werden, ſo ſchreibt die „Berl. Korreſp.“, vorausſichtlich erheb- liche Diskuſſionen in der Kommiſſion ſtattfinden. Es ſei deßhalb nur betont, daß es, abgeſehen von den Vertretern gewiſſer radikaler Parteien, die aber jede Ausgabe für die Zwecke der Landesvertheidigung als unproduktiv be- mängeln, Niemand in Deutſchland gibt, der ernſtlich die finanzielle Leiſtungsfähigkeit des deutſchen Volkes in Be- treff der Flottenvermehrung bezweifelt. Selbſt ein ſo vor- ſichtiger Rechner, wie der preußiſche Finanzminiſter, hat am 13. Dezember vorigen Jahres im Reichstag ausgeſprochen, daß nach ſeiner Auffaſſung die Flottennovelle in keinem Widerſpruch ſteht mit der Leiſtungsfähigkeit der Reichs- ſinanzen, mit ihrer wahrſcheinlichen künftigen Entwicklung und der inneren Kraft des deutſchen Volkes, deſſen Lei- ſtungsfähigkeit noch erheblich gehoben wird durch den größeren und ſicheren Schutz unſrer Küſten und Häfen, unſres Handels und unſres Exports. Die wirthſchaftliche Entwicklung hat es mit ſich gebracht, daß Deutſchlands Wohl und Wehe täglich mehr von ſeiner Stellung im großen Weltverkehr abhängig wird. Die Aufgabe Deutſch- lands iſt dadurch, wie der Finanzminiſter ausführte, eine ſehr ſchwierige geworden. „Gelegen mitten in Europa, an beiden Seiten die größten Militärmächte, andrerſeits ſo ſtark bevölkert, daß die innere Produktion nothwendig unſre Grenze überſchreiten muß, daß die Beſchäftigung eines großen Theils unſres Volkes ſonſt unmöglich iſt, werden wir nothgedrungen auf den großen Weltmarkt verwieſen, und wir müſſen daraus die Konſequenzen ziehen. Wenn die Nation das nicht will, wenn ſie dieſe Opfer nicht bringen will, dann wird nicht Forlgang und Fortſchritt, ſondern Nückgang und Verkümmerung das Loos des deutſchen Volkes ſein.“ Alten dafür. Andreas Oberhummer, ein Gütler droben im Seegebirg, war nämlich der Anſicht, daß ſein Vub Kaſtulus, gemeiniglich Kaſtl genannt, entſchieden zu dumm zur Bauernarbeit war, zu wenig anſtellig und völlig be- griffsſtützig für landwirthſchaftliche Dinge, und deßhalb beſtand der Alte darauf: der Vub ſei zu dumm, daher müſſe er ſtudieren und ein Herr werden! Mit dem „Herrn“ war urſprünglich nach Sitte und Brauch im Hochland der Seel- ſorger gemeint, aber Kaſtl ging nach der Gymnaſialmatura der Theologie aus dem Wege und erklärte dem Vater in einem Briefe, daß er Medizin ſtudiren werde und zwar mit oder ohne Geld und Erlaubniß. Der alte Oberhummer fluchte wohl, aber da der eigenſinnige Bub kein Geld zum Studiren will, läßt er ihn gewähren. Und ſo wurde Kaſtl Bettelſtudent und nährte ſich vom Stundengeben. Was während der Studienzeit an Viktualien ins Kämmerlein des Studenten in der Univerſitätsſtadt wanderte, Speck und Bauernbrot, Küchel und Geld, das war Mütterchens und Kaſtls Geheimniß. Kaſtulus unterbricht den Geſang, denn eben fällt ihm Vaters Spruch wieder ein, und ſeine Lippen kräuſeln ſich zum vergnügten Schmunzeln. „Zu dumm zur Bauern- arbeit war ich, und drum bin ich Doctor medicinae ge- worden!“ flüſtert der junge Gebirgler ſeelenfroh vor ſich hin. „Ich lobe mir ſolche Dummheit!“ ruft Kaſtl unwill- kürlich laut in den Wald, doch läßt ihn ein Raſcheln ſofort verſtummen. Aus dem Unterholz tritt der Forſtwart in Waffen und bedeutet dem Wanderer, daß das Spektakelmachen im Wald verboten ſei. Kaſtl grüßt und der Waldbeamte beſieht den jungen Mann genauer. „Wie iſt mir denn, ich mein, Ihnen ſollt ich kennen!“ ſetzt er dazu. Kaſtl erwidert: „Freilich! Ich bin ja ...“ „Halt! Ich weiß ſchon: Du biſcht der Bub vom Heißen- bauern oben!“ lacht der Forſtwart und reicht dem Wan- derer treubieder die Hand. Etwas betreten erwidert Kaſtl den derben Händedruck, ein klein wenig wurmt ihn dieſe reſpektloſe Anrede doch. In ſeiner geraden Bergnatur aber fragt der Wald- menſch weiter: „Kommſt wohl in die Vakanz heim, Heißen- bub, was? Iſcht recht, freut mich! Nur mach mir mein Wild nicht durch dein unſinniges G’ſangel rebelliſch. Und wenn du ſpäter jagen willſt, ein Gamſerl erlaub ich dir ſchon, das heißt in meiner Begleitung. Weißt ja Bub, ich hab dich immer gern gehabt! Warſt ja der netteſte von den Krebskönigkindern.“ Jetzt glaubt Kaſtl doch ſeine junge Würde betonen zu ſollen: „Ich dank, Herr Forſtwart! Wird mir nicht viel Zeit bleiben zum Jagen. Ein, zwei Tag’ will ich ja aus- ſchnaufen, dann aber beginne ich die Praxis.“ Erſtaunt guckt der rauhe Waldmann den Jungen an: „Mit Verlaub! Was willſt anfangen, Heißenbub?“ „Die Praxis! Ich bin jetzt fertig mit ’m Studiren, ich bin jetzt Doktor.“ „Fürs Viech?“ „Aber nein! Ich werde kranke Menſchen behandeln und kuriren.“ „So wohl?! Eine ſolche Neuigkeit! Rein zum Ofen einſchlagen! Ein Dokter willſt jetzt ſein?! Ja warſt du denn nicht zu dumm für die Bauernarbeit? Und jetzt biſcht ein G’ſtudirter! Na, da wünſch ich viel Glück! Recht viel wirſt nicht zu kuriren kriegen, Herr Dokter! Hat ja der alte Dokter nicht genug zum Beißen! Na der alte Medizinhafen wird eine Freud’ haben! Behüt Gott, Heißen- bub! Wenns bei mir mal zum Einrücken Zeit wird, laß ich dir meine Kundſchaſt zukommen, früher aber nicht. Ich kurir alles ſelber mit Hirſchunſchlitt. Wennſt eines brauchſt, ich ſteh zu Dienſten, ſo viel du willſt. Adjes!“ Verſtimmt ſetzt Kaſtl den Weg fort durch den Wald; die Sangesluſt iſt weg und der Humor auch. Den Ein- tritt in die Heimath mit der neuen Würde hat Doktor Oberhummer ſich doch etwas anders vorgeſtellt; wenn die Bauern alle ſo denken wie der Förſter, dann wird die Praxisausübung in der Heimath, auf welche ſich Kaſtl die langen Jahre hindurch ſo ſehr gefreut, ihre „Mucken“ haben. Doch die Forſtleute find immer eigen, ganz anders als die Bauern, das bringt der Veruf und das Einſiedler- leben mit ſich. Solche Gedanken tröſten Kaſtl in etwas, die Hoffnung ſchwillt wieder in der jungen Bruſt im Be- wußtſein deſſen, was auf der Univerſität alles gelernt wurde. Hat er doch fleißig die Kollegien beſucht, die neu- eſten Werke gründlich ſtudirt, ſich die neueſten Forſchungen und Entdeckungen zu eigen gemacht, ſo daß er geradezu summa cum laude abſolvirte. Was bedeutet da das Ge- ſchwätz eines verwilderten Förſters! Ein Lufthieb mit dem Stock zeigt an, das Doktor Oberhummer nicht den Pfifferling darauf hält. Allmählich ſteigt das Sträßchen an und windet ſich aus dem Fichtenwald dem Hügelterrain zu. Das Knarren eines hinterdrein humpelnden Wagens veranlaßt Kaſtl, umzublicken, und mit ſpöttiſchem Lächeln begrüßt er den ſchneckengleich heraufkriechenden alten Karren, neben wel- chem der Poſtſepp ſchreitet und durch Zurufe den Gaul zeitweilig ermahnt, doch nicht auf der Landſtraße das Sterben zu beginnen. Gutmüthig ſpottet Kaſtl halblaut: „Schau, ſchau der Sepp lebt auch noch! Und in dem alten Marterkaſten haben ſie mich damals hinaus zur Lateinſchule verfrachtet. Widerſtandsfähig iſcht der alte Kälberwagen, das damalige Thränemmeer hat ihn nicht aus den Fugen gebracht!“ „Hü!“ ruft der Sepp und ſtreift mit der Peitſche die blutgierigen Bremſen vom Pferderücken ab. Kaſtl hat ge- wartet, bis das Vehikel die Höhe heraufgekommen iſt, und grüßt nun leutſelig, mit einer gewiſſen Herablaſſung den alten Knecht. „Grüß Gott, Sepp! Allweil noch Poſterer?“ „Grüß Gott auch! Freilich, allweil noch bei der Poſt. Sind Sie vielleicht müd? Wollen S’ aufſitzen? Ich ver- laub es ſchon, nur vorm Dorf müſſen S’ halt abſteigen; die Poſtmeiſterin leidet keinen blinden Paſſagier, aber ich hab halt ein ſo viel gutes Herz und bin immer ſo viel höf- lich mit die Leut! Das bringt die Poſt mit ſich! Allweil ſo viel höflich!“ (Fortſetzung folgt.)

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 82, 25. März 1900, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine82_1900/2>, abgerufen am 14.08.2024.