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Allgemeine Zeitung, Nr. 82, 25. März 1900.

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erste Seite
Nr. 82. 103. Jahrgang. München, Sonntag, 25. März 1900.
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Wöchentlich
12 Ausgaben.
Bezugspreise:
Durch die Poslämter:
jährlich M. 36. --,
ohne Beil. M. 18. --
(viertelj. M. 9. --,
ohne Veil. M. 4.50);
in München b. d Ex-
pedition od. d. Depots
monatlich M. 2. --,
ohne Veil. M. 1. 20.
Zustellg. mil. 50 Pf.
Direkter Bezug für
Deutschl. u. Oesterreich
monatlich M. 4. --,
ohne Veil. M. 3. --,
Ausland M. 5. 60,
ohne Veil. M. 4.40.

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Allgemeine Zeitung.
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Insertionspreis
für die kleinspaltige
Kolonelzeile od. deren
Raum 25 Pfennig;
finanzielle Anzeigen
35 Pf.; lokale Ver-
kaussanzeig. 20 Pf.;
Stellengesuche 15 Pf.



Redaktion und Expe-
dition befinden sich
Schwanthalerstr. 36
in München.


Berichte sind an die
Redaktion, Inserat-
aufträge an die Ex-
pedition franko ein-
zusenden.



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Abonnements für Berlin nimmt unsere dortige Filiale in der Leipzigerstraße 11 entgegen.
Abounements für das Ausland
nehmen an: für England A. Siegle, 30 Lime Str., London; für Frankreich.
Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klincksieck in Paris; für Belgien, Bulgarien, Dänemark, Italien.
Niederlande, Rumänien, Rußland, Schweden und Norwegen. Schweiz, Serbien die dorligen Postämter; für den Orient
das k. k. Postamt in Wien oder Triest; für Nordamerika F. W. Christern, E. Steiger u. Co., Gust.
E. Stechert, Westermann u. Co., International News Comp., 83 und 85 Duane Str. in New-York.

[Spaltenumbruch] [Abbildung] [Spaltenumbruch]

Inseratenannahme in München bei der Expedition, Schwanthalerstraße 36, in Berlin in unserer Filiale,
Leipzigerstraße 11,
ferner in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln, Leipzig, Frankjurt a. M., Stuttgart, Nürnberg,
Wien, Pest, London, Zürich, Basel etc. bei den Annoncenbureaux R. Mosse. Haasenstein u. Bogler, G. L.
Daubeu. Co. In den Filialen der Zeitungsbureaux Invalidendank zu Berlin, Dresden, Leipzig, Chemnitz etc.
Außerdew in Berlin bei B. Arndt (Mohrenstraße 26) und S. Kornik (Kochstraße 23); für Frankreich bei John
F. Jones u. Co., 31 bis Faubourg Montmartre in Paris.

Verantwortlich für den politischen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Fryr. v. Mensi, für den Handelstheil Ernst Barth, sämmtlich in München.
Druck und Verlag der Gesellschaft mit beschränkter Haftung "Verlag der Allgemeinen Zeitung" tu München.

Wo fehlt es?

Durch unser deutsches Volk geht seit Jahren schon ein
eher noch im Wachsen als im Abnehmen begriffener Zug
der Verstimmung und des Mißbehagens. Man hat das
Empfinden, daß in unserm öffentlichen Leben die Dinge
vielfach nicht so sich entwickeln, wie sie sich entwickeln sollten
und könnten und hadert deßhalb so ziemlich mit aller Welt,
in dem relativ kleinen Kreise derer, die sich der Pflicht zur
Selbsterkenntniß einigermaßen bewußt sind, wohl auch mit
dem lieben Ich und der eigenen Partei. Fast überall je-
doch wird nach einem guten, alten, nebenbei bemerkt, aber
keineswegs nur deutschen Brauch, für das was nicht gefällt,
was man anders haben möchte, die hohe Obrigkeit verant-
wortlich gemacht, die Obrigkeit in Gemeinde, Staat und
Reich; und da die Fäden der politischen Aktion zu allermeist
an der Reichsstelle zusammenlaufen, so haben die dort maß-
gebenden Personen und Kreise das Onus des weitverbrei-
teten Mißmuths in erster Linie zu tragen. In diesem Sinn
kann man sogar von dem Zutagetreten einer gewissen
Reichsverdrossenheit sprechen, die zu der vorbehaltlosen
Freude am Vaterland, der die weit überwiegende Mehrheit
der Nation nach den großen Tagen der Entscheidung und
Einigung vertrauensvoll sich hingab, in einem für das
patriotische Empfinden sehr wenig erfreulichen Gegensatz
steht. Von einer vollständigen Verkennung der deutschen
Verhältnisse und der innerhalb der deutschen Grenzpfähle
sich geltend machenden Stimmungen und Vestrebungen
zengt es allerdings, wenn man im Ausland -- in Anbe-
tracht der tendenziös-gehässigen Ausführungen einzelner
extremer Oppositionsorgane -- hier und da der Erwartung
sich hingibt, daß aus den Reihen der Reichsverdrossenen
heraus eine "Los vom Reich-Bewegung" sich herausbilden
werde. Zu derartigen Hoffnungen oder Befürchtungen
liegt, gottlob, kein Anlaß vor. Auch unsre eingefleischtesten
Partikularisten und unsre rothesten Demokraten wissen
das schützende Dach, unter dem sie heute so wohlgeborgen
wohnen, d. h. das Dach, das mit der Wiederherstellung der
potionalen Einheit, mit der Wiedergeburt von Kaiser und
Reich über den deutschen Einzelstaaten errichtet worden ist,
zu wohl zu schätzen, als daß sie es missen oder gar mit Ge-
walt zerstören möchten, weil seine Form oder Farbe ihnen
nicht behagt. So lange die Sonne scheint, stehen sie wohl
draußen und schelten über den angeblich mißlungenen Bau
und über die Kosten seiner Erhaltung, zu denen natürlich
auch sie ihr Scherflein beizutragen haben; kommt jedoch
ein Regen- oder Hagelschauer, so sind sie gewiß nicht die
letzten, sich unter dem gescholtenen Dach in Sicherheit zu
bringen und sind sie im Trockenen, in einem Gebet ohne
Worte -- denn laut darf es beileibe nicht geschehen -- dem
Himmel und dem Baumeister für seine vorsorgliche
Leistung zu danken.

Tragisch braucht man also die sogenannte Reichs-
verdrossenheit, die mißmuthige Beurtheilung der öffent-
lichen Angelegenheiten und das zeitweilige Sinken des
Vertrauens zum eigenen Können und zur Festigkeit der
offiziellen Zügelführung, noch nicht zu nehmen. Das
Leben der Völker bewegt sich nun einmal, selbst bei einer
im allgemeinen aufwärts gerichteten Entwicklung, in
[Spaltenumbruch] Wellenlinien; es hat, dem Meer gleich, Ebbe und Fluth.
Auch in Frankreich -- es sei hier nur an die noch nicht
weit zurückliegende Periode erinnert, in der man das
bürgerlich-parlamentarische Negime für völlig erschlafft
und seinen Zusammenbruch für nahezu unvermeidlich hielt --,
in Italien -- man denke an die Zeit der starken wirth-
schaftlichen Depression und an die allgemeine Nieder-
geschlagenheit nach der Katastrophe von Adua --, in
Oesterreich-Ungarn, in Spanien, kurz in allen modernen
Staatswesen sind und waren Perioden der allgemeinen
Abspannung und Verstimmung zu registriren, und sie
werden bei uns und anderen Völkern auch fernerhin ganz
ebenso sich einstellen, wie im Dasein der Individuen die
Tage der Krankheit und des mehr oder minder merkbaren
Nachlassens der Arbeitsfreudigkeit und der Schaffens-
krast. Aber um eine nationale Krankheit, um eine Min-
derung des allgemeinen Wohlbefindens handelt es sich
immerhin, und die Frage: "Wo fehlt es?", die der Ein-
zelne, sobald er sich leidend fühlt, sich selbst oder besser
noch dem Arzt vorlegt, um von ihrer Beantwortung die
Entscheidung über die zur Wiederherstellung der Gesund-
heit anzuwendenden Mittel abhängig zu machen, muß
auch unser Volk unter den obwaltenden Verhältnissen sich
stellen. Ist es doch -- um von höheren, im Dienste der
Menschheit der Lösung harrenden Aufgaben nicht zu
sprechen -- sich selbst es schuldig, ungesäumt Sorge zu
tragen, daß es sobald als möglich in voller geistiger und
körperlicher Frische und in vollem Selbstvertrauen, das
nicht nur das eigene ungeschmälerte Krastbewußtsein,
sondern auch ein festwurzelndes Vertrauen zum Wollen
und Können der leitenden Kreise zur Voraussetzung und
Vorbedingung hat, wieder auf dem Plan zu erscheinen
um im Kampfe ums Dasein sein gutes Recht geltend
machen und seine Ansprüche verfechten zu können. Also
"wo fehlt es?" und "wie ist zu helfen?"

Auf die erste Frage möchten wir ohne Zaudern ant-
worten: An der nöthigen Ruhe und Sammlung, und in-
folgedessen an der Fähigkeit, die Situation klaren Blicks
zu überschanen, die minder wichtigen Aufgaben von den
dringenden, keinen Anfschub duldenden zu sondern und
an der Fähigkeit, an das, was wohl oder übel gethan
werden muß, nun auch die ganze Kraft zu setzen. Das
allgemeine Uebel unsrer Zeit, die Nervosität, die Hundert-
tausende, ja Millionen von Einzelwesen heimsucht, hat
auch unser Volk, als politisches Ganze genommen, be-
fallen, und nicht nur das Volk, sondern zugleich, ja viel-
leicht in erster Linie seine Führer und Leiter. Es hat eine
allgemeine nervöse Ueberreizung platzgegriffen, die in
einem nicht unbedenklichen Drange nach Vielgeschäftigkeit
in einer gewissen Ueberhastung und allzu starken An-
spannung der Kräfte, der dann nicht selten eine plötzliche
Abspannung und Erschlaffung folgt, sich kundgibt. Und
daß es so gekommen ist, wird dem, der die Vorgänge des
letzten Jahrzehnts in dem Bestreben, sich ein möglichst
objektives Urtheil zu bilden, aufmerksam verfolgt hat,
nicht befremdlich erscheinen.

Als der erste große Kanzler früher als er selbst es
vorausgesehen, in die Stille des Sachsenwaldes sich zurück-
zog, sahen diejenigen, die statt seiner in Staat und Reich
die Leitung der Geschäfte übernahmen, vor eine selten
[Spaltenumbruch] schwere Aufgabe sich gestellt. Was bis dahin ein Genie
geleistet, sollte nun mit gewiß nicht weniger gutem Willen,
aber doch mit zweifellos geringerem Können und bei
minder reicher Erfahrung von ihnen gethan werden. Daß
sie da durch Vielgeschäftigkeiten das Fehlende zu ersetzen
suchten, daß sie bald hier bald dort in neue Bahnen ein-
lenkten und zur Verstärkung ihres Heerbanus neue Be-
ziehungen anzuknüpfen und neue Truppen zu werben
suchten, erscheint vom rein menschlichen Standpunkt aus
vollkommen begreiflich. Das Resultat aber hat ihren Er-
wartungen nicht entsprochen und konnte ihnen kaum ent-
sprechen. Man lehnte zwar auf Seiten der Parteien
ein Zusammengehen mit den leitenden Kreisen keines-
wegs ab, aber man wollte Leistungen nur für Gegen-
leistungen gewähren, und so gerieth die Regierung, da
sie an fast alle Thüren angeklopft hatte, in die üble Lage,
auch fast allen Richtungen gegenüber Verbindlichkeiten
eingegangen zu sein, die sich miteinander kaum verein-
baren ließen. Der Versuch, ihnen dennoch gewissenhaft
zu genügen, mußte nothgedrungen mißlingen. Bei dem
Bestreben, Allen zu gefallen, hat man sich nur der Ge-
fahr ausgesetzt, auch die alten Anhänger und Freunde
einzubüßen, ohne dafür neue, wirklich zuverlässige Bundes-
genossen zu finden. Unsre Parteiverhältnisse, die ohnehin
nichts weniger als erfreulich und erquicklich gewesen
waren, haben sich infolgedessen im Laufe des letzten
Dezenniums noch verworrener und unklarer gestaltet,
und wenn schon ein Bismarck mehr als einmal gegen
unnatürliche Parteikoalitionen anzukämpfen hatte, so
sahen seine Nachfolger sich noch weit häusiger in die
Nothwendigkeit versetzt, sich wohl oder übel mit parla-
mentarischen Mehrheiten abzufinden, die der Wahrschein-
lichkeitsberechnung ebensowenig entsprachen wie dem
nationalen Interesse.

Trotz aller aus der Unklarheit der parlamentarischen
Verhältnisse, aus dem Tohuwabohu unsres Parteiwesens
und anderen Gründen, deren Darlegung hier zu weit
führen würde, sich ergebenden Schwierigkeiten mochte
man an maßgebender Stelle den Gang des Gesetzgebungs-
apparats nicht verlangsamen; ja es machte den Eindruck,
als ob mit den Hemmnissen zugleich auch der Eifer ge-
wachsen sei, sie durch rastlose Thätigkeit zu überwinden.
Selten ist in den Reichsämtern und Berliner Ministerien
eifriger und hingebender gearbeitet worden als in den
letzten Jahren, und selten nur hat ein Monarch so oft
und so öffentlich für einzelne gesetzgeberische Akte seine
persönliche Autorität eingesetzt wie Wilhelm II. in ent-
schlossener Bethätigung seiner Eigenart und seiner Auffassung
der Pflichten eines Herrschers es gethan hat. Wir wollen hier
die Frage, wieweit das unmittelbare Eingreifen des Mon-
archen in den Streit des Tages und die Kämpfe der Parteien
rathsam oder geboten erscheinen mag, grundsätzlich nicht
erörtern; Thatsache ist es jedenfalls -- darüber kann
Niemand sich täuschen -- daß der muthigen und hoch-
herzigen Initiative des fürstlichen Herrn der erwartete
Erfolg vielfach versagt blieb und daß aufrichtige An-
hänger des monarchischen Gedankens es wiederholt
schmerzlich zu beklagen hatten, gegen diejenigen fechten
zu müssen, über deren Reihen das kaiserliche und könig-
liche Banner entfaltet worden war. Es hat auch dieser

[Spaltenumbruch]
Das Postfräulein.
Hochlandsroman von Arthur Achleitner.
(1)

(Nachdruck verboten.)
Erstes Kapitel.

Der Personenzug der Südbahn fuhr polternd in die
kleine Station ein, hielt und qualmte tüchtig, so daß das
Bahnhöfchen im Nu von schwarzgraubraunem Rauch er-
füllt war. Nur wenige Passagiere kletterten aus dem
Wagen dritter Klasse, ein Fräulein mittleren Wuchses,
städtisch, doch einfach gekleidet, ohne Schleier, daher das
scharfgeschnittene Gesicht und die starken Backenknochen
leicht erkennbar waren, einige Achenthaler Bäuerinnen,
und aus dem Abtheil für Raucher stieg ein junger Mann,
eine stämmige, frische Gestalt im unverfälschten Typus des
Bergvolkes, den die städtische Kleidung nicht verwischen
kann.

Im Lokomotivenqualm verschwinden die Reisenden
fast, man sieht vor Rauch kaum die Austrittsstelle, daher
schreit der Perronsperrling, das heißt Stationsdiener,
laut: "Ausgang hier! Fahrkarten vorzeigen!" Da nur diese
fünf Personen den inzwischen abgegangenen Personenzug
verlassen haben, gibt es an der Perronsperre, dieser "groß-
artigsten" Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts, kein
besonderes Gedränge. Die an sich geduldigen Leute warten
hübsch, geben die Fahrkarten ab und schlängeln sich durch
den Pferch. Befreit vom Eisenbahuzwang, befreit -- o,
welche Seligkeit!

Die Achenthalerinnen gehen ihren Weg und trollen
schwätzend in der Mitte der Straße dem Dorfe zu. Der
junge Mann aber schlägt einen Seitenweg ein, der das
Dorf umkreist und hinter demselben direkt aufwärts
führt ins Seegebiet; er kümmert sich nicht im geringsten
um die wenigen Leute. Nur schnell ins Freie und hinauf
in die Bergheimath.

Hinter dem Stationsgebäude steht allein das Fräu-
lein mit einer Handtasche in der Rechten und blickt ver-
legen um sich. Fremd im Ort, weiß die junge Dame sich
[Spaltenumbruch] keinen Rath zur Fortsetzung der Reise hinauf ins Gebirg.
Enttäuschung prägt sich im Gesicht aus. Das Fräulein
mochte auf Abholung und Fuhrwerk gewartet haben, aber
es ist Niemand da. So stapst die junge Dame ins Dorf,
dem Kaiserlich Königlichen Postamt zu, das durch den
österreichischen Doppeladler und die Aufschrift: "K. K. Post-
amt und Telegraphenstation, K. K. Postsparkasse" leicht er-
kennbar ist. Schon will das Fräulein in die Amtskanzlei
eintreten, da humpelt ein in Loden gekleideter alter Knecht
heran und fragt: "Mit Verlaub! Bischt du die neuchi
Postfräuln?"

Die Gefragte bejaht die ihre Erwartungen wesentlich
herabstimmende Frage, worauf der Knecht erklärt: "Das
Stückl Weg von der Bahn herein hat dich nicht umgebracht,
und mir hat's gut gethan, das Viertelstünderl Schlaf. Du
bischt jung, und ich bin alt. Nix für ungut!" Der Postsepp
nimmt dem Fräulein die Handtasche ab und erklärt, ein-
spannen zu wollen. Auf ein richtiges Postgefährt ist das
Fräulein nicht gefaßt, Fräulein Lina weiß aus der Prakti-
kantenzeit bereits, daß die Post in kleinen Gebirgsorten
nur selten ein Fuhrwerk hat; aber das Wägelchen, welches
zur Beförderung hinauf ins Seedorf dienen soll, spottet
jeglicher Beschreibung. Dieses wackelige, alte Gefährt dient
zweifellos hauptsächlich dem Transport von Kälbern und
Schweinen, woran deutliche Spuren gemahnen, aber auch
Reste von Sand und Kalk sind noch sichtbar; und Federn
hat das Fuhrwerk, daß es einem beim Beschauen schon
angst und wehe werden könnte. Besser als dieses Marter-
fuhrwerk ist der Gaul, ein richtiger Ackergaul schwerer
Pinzgauer Rasse, den der Postsepp mit einer Umständlich-
keit einspannt, als gelte es, eine Krönungskarosse für einen
Kaiser anzuschirren. Fräulein Lina blickt noch immer ent-
setzt auf das schmutzstarrende Wägelchen und sagt: "In
diesem Kälberwagel soll ich fahren?"

Der Knecht nickt und fügt bei: "Wennst nicht magst,
mußt halt zu Fuß gehen! Es hat bloß der Metzger ein
Wagl, und sell haben wir zu leihen genommen für dich!
Steig nur ein, Postfräuln! Besser schlecht gefahren, als
[Spaltenumbruch] gut gegangen!" Dazu wirst der Sepp das Handgepäck des
Fräuleins in das Gefährt und wiederholt die Aufforderung
zum Einsteigen.

Schnell überlegt das Postfräulein, was zu thun sei;
eine Fahrt in diesem Gefährt ruinirt das Kleid ganz sicher,
und das kann sich eine Postexpeditorin mit fünfzehn Gul-
den Monatsgage nicht leisten. So sagt Lina dem ver-
dutzten Knecht, daß sie auf die Mitfahrt verzichte und lieber
zu Fuß gehen werde.

Sepp guckt das Postfräulein an, als sei die "Neue"
übergeschnappt, beschränkte sich aber auf ein "Hü!" und
fuhr rasselnd ab. Hinterdrein schritt mit recht eigenthüm-
lichen Empfindungen in der jungen Brust Lina auf der
steil-ansteigenden Landstraße, welche das langgestreckte
Dorf in zwei Theile trennt. Dann zieht sich die Straße
längs eines tosenden Bergbachs aufwärts und hinein in
einen prächtigen Fichtenwald.

Jener junge Mann, der vom Bahnhof gleich auf einem
Gangsteig der Höhe zustrebte, hat im harzdustendem Hoch-
wald das Tempo bald gemäßigt, und aus froher Brust
klingt das Studentenlied: "Frei ist der Bursch!", daß es
nur so schmettert hinauf zu den Felswänden des See-
gebirges. Beendet ist die Studienzeit, das Doktordiplom
in der Tasche, schreitet der junge Mediziner Kastulus
Oberhummer durch den heimathvertrauten Hochwald dem
Dorfe droben zu, in welchem er geboren und bis zum Be-
such der Schulen aufgewachsen ist. "Frei ist der Bursch!"
Welche Wonne liegt in diesem Lied nach glücklich beendetem
Schlußexamen! Den Gebirgler Kastulus trieb es heim
mit unwiderstehlicher Kraft; fort aus der Stadt, fort trotz
Kneipe, Kommers und Lebensfreuden. Die Sehusucht nach
Alpenluft und Almenleben, nach den Bergen und grünen
Matten ist zu groß, und zu lange mußte der junge Mann
die Heimath entbehren, aus der ihn der Machtspruch des
Vaters vertrieben. Wenn Kastulus an jenen Spruch
denkt, schmunzelt der Mediziner jedesmal. Kostete der erste
Abschied von der Heimath Thränen und verursachte das
Scheiden arges Herzweh, heute dankt Kastulus dem

Nr. 82. 103. Jahrgang. München, Sonntag, 25. März 1900.
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Durch die Poſlämter:
jährlich M. 36. —,
ohne Beil. M. 18. —
(viertelj. M. 9. —,
ohne Veil. M. 4.50);
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pedition od. d. Depots
monatlich M. 2. —,
ohne Veil. M. 1. 20.
Zuſtellg. mil. 50 Pf.
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Deutſchl. u. Oeſterreich
monatlich M. 4. —,
ohne Veil. M. 3. —,
Ausland M. 5. 60,
ohne Veil. M. 4.40.

[Spaltenumbruch]
Allgemeine Zeitung.
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Inſertionspreis
für die kleinſpaltige
Kolonelzeile od. deren
Raum 25 Pfennig;
finanzielle Anzeigen
35 Pf.; lokale Ver-
kauſsanzeig. 20 Pf.;
Stellengeſuche 15 Pf.



Redaktion und Expe-
dition befinden ſich
Schwanthalerſtr. 36
in München.


Berichte ſind an die
Redaktion, Inſerat-
aufträge an die Ex-
pedition franko ein-
zuſenden.



[Spaltenumbruch]

Abonnements für Berlin nimmt unſere dortige Filiale in der Leipzigerſtraße 11 entgegen.
Abounements für das Ausland
nehmen an: für England A. Siegle, 30 Lime Str., London; für Frankreich.
Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris; für Belgien, Bulgarien, Dänemark, Italien.
Niederlande, Rumänien, Rußland, Schweden und Norwegen. Schweiz, Serbien die dorligen Poſtämter; für den Orient
das k. k. Poſtamt in Wien oder Trieſt; für Nordamerika F. W. Chriſtern, E. Steiger u. Co., Guſt.
E. Stechert, Weſtermann u. Co., International News Comp., 83 und 85 Duane Str. in New-York.

[Spaltenumbruch] [Abbildung] [Spaltenumbruch]

Inſeratenannahme in München bei der Expedition, Schwanthalerſtraße 36, in Berlin in unſerer Filiale,
Leipzigerſtraße 11,
ferner in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln, Leipzig, Frankjurt a. M., Stuttgart, Nürnberg,
Wien, Peſt, London, Zürich, Baſel ꝛc. bei den Annoncenbureaux R. Moſſe. Haaſenſtein u. Bogler, G. L.
Daubeu. Co. In den Filialen der Zeitungsbureaux Invalidendank zu Berlin, Dresden, Leipzig, Chemnitz ꝛc.
Außerdew in Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtraße 26) und S. Kornik (Kochſtraße 23); für Frankreich bei John
F. Jones u. Co., 31 bis Faubourg Montmartre in Paris.

Verantwortlich für den politiſchen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Fryr. v. Menſi, für den Handelstheil Ernſt Barth, ſämmtlich in München.
Druck und Verlag der Geſellſchaft mit beſchränkter Haftung „Verlag der Allgemeinen Zeitung“ tu München.

Wo fehlt es?

Durch unſer deutſches Volk geht ſeit Jahren ſchon ein
eher noch im Wachſen als im Abnehmen begriffener Zug
der Verſtimmung und des Mißbehagens. Man hat das
Empfinden, daß in unſerm öffentlichen Leben die Dinge
vielfach nicht ſo ſich entwickeln, wie ſie ſich entwickeln ſollten
und könnten und hadert deßhalb ſo ziemlich mit aller Welt,
in dem relativ kleinen Kreiſe derer, die ſich der Pflicht zur
Selbſterkenntniß einigermaßen bewußt ſind, wohl auch mit
dem lieben Ich und der eigenen Partei. Faſt überall je-
doch wird nach einem guten, alten, nebenbei bemerkt, aber
keineswegs nur deutſchen Brauch, für das was nicht gefällt,
was man anders haben möchte, die hohe Obrigkeit verant-
wortlich gemacht, die Obrigkeit in Gemeinde, Staat und
Reich; und da die Fäden der politiſchen Aktion zu allermeiſt
an der Reichsſtelle zuſammenlaufen, ſo haben die dort maß-
gebenden Perſonen und Kreiſe das Onus des weitverbrei-
teten Mißmuths in erſter Linie zu tragen. In dieſem Sinn
kann man ſogar von dem Zutagetreten einer gewiſſen
Reichsverdroſſenheit ſprechen, die zu der vorbehaltloſen
Freude am Vaterland, der die weit überwiegende Mehrheit
der Nation nach den großen Tagen der Entſcheidung und
Einigung vertrauensvoll ſich hingab, in einem für das
patriotiſche Empfinden ſehr wenig erfreulichen Gegenſatz
ſteht. Von einer vollſtändigen Verkennung der deutſchen
Verhältniſſe und der innerhalb der deutſchen Grenzpfähle
ſich geltend machenden Stimmungen und Veſtrebungen
zengt es allerdings, wenn man im Ausland — in Anbe-
tracht der tendenziös-gehäſſigen Ausführungen einzelner
extremer Oppoſitionsorgane — hier und da der Erwartung
ſich hingibt, daß aus den Reihen der Reichsverdroſſenen
heraus eine „Los vom Reich-Bewegung“ ſich herausbilden
werde. Zu derartigen Hoffnungen oder Befürchtungen
liegt, gottlob, kein Anlaß vor. Auch unſre eingefleiſchteſten
Partikulariſten und unſre rotheſten Demokraten wiſſen
das ſchützende Dach, unter dem ſie heute ſo wohlgeborgen
wohnen, d. h. das Dach, das mit der Wiederherſtellung der
potionalen Einheit, mit der Wiedergeburt von Kaiſer und
Reich über den deutſchen Einzelſtaaten errichtet worden iſt,
zu wohl zu ſchätzen, als daß ſie es miſſen oder gar mit Ge-
walt zerſtören möchten, weil ſeine Form oder Farbe ihnen
nicht behagt. So lange die Sonne ſcheint, ſtehen ſie wohl
draußen und ſchelten über den angeblich mißlungenen Bau
und über die Koſten ſeiner Erhaltung, zu denen natürlich
auch ſie ihr Scherflein beizutragen haben; kommt jedoch
ein Regen- oder Hagelſchauer, ſo ſind ſie gewiß nicht die
letzten, ſich unter dem geſcholtenen Dach in Sicherheit zu
bringen und ſind ſie im Trockenen, in einem Gebet ohne
Worte — denn laut darf es beileibe nicht geſchehen — dem
Himmel und dem Baumeiſter für ſeine vorſorgliche
Leiſtung zu danken.

Tragiſch braucht man alſo die ſogenannte Reichs-
verdroſſenheit, die mißmuthige Beurtheilung der öffent-
lichen Angelegenheiten und das zeitweilige Sinken des
Vertrauens zum eigenen Können und zur Feſtigkeit der
offiziellen Zügelführung, noch nicht zu nehmen. Das
Leben der Völker bewegt ſich nun einmal, ſelbſt bei einer
im allgemeinen aufwärts gerichteten Entwicklung, in
[Spaltenumbruch] Wellenlinien; es hat, dem Meer gleich, Ebbe und Fluth.
Auch in Frankreich — es ſei hier nur an die noch nicht
weit zurückliegende Periode erinnert, in der man das
bürgerlich-parlamentariſche Negime für völlig erſchlafft
und ſeinen Zuſammenbruch für nahezu unvermeidlich hielt —,
in Italien — man denke an die Zeit der ſtarken wirth-
ſchaftlichen Depreſſion und an die allgemeine Nieder-
geſchlagenheit nach der Kataſtrophe von Adua —, in
Oeſterreich-Ungarn, in Spanien, kurz in allen modernen
Staatsweſen ſind und waren Perioden der allgemeinen
Abſpannung und Verſtimmung zu regiſtriren, und ſie
werden bei uns und anderen Völkern auch fernerhin ganz
ebenſo ſich einſtellen, wie im Daſein der Individuen die
Tage der Krankheit und des mehr oder minder merkbaren
Nachlaſſens der Arbeitsfreudigkeit und der Schaffens-
kraſt. Aber um eine nationale Krankheit, um eine Min-
derung des allgemeinen Wohlbefindens handelt es ſich
immerhin, und die Frage: „Wo fehlt es?“, die der Ein-
zelne, ſobald er ſich leidend fühlt, ſich ſelbſt oder beſſer
noch dem Arzt vorlegt, um von ihrer Beantwortung die
Entſcheidung über die zur Wiederherſtellung der Geſund-
heit anzuwendenden Mittel abhängig zu machen, muß
auch unſer Volk unter den obwaltenden Verhältniſſen ſich
ſtellen. Iſt es doch — um von höheren, im Dienſte der
Menſchheit der Löſung harrenden Aufgaben nicht zu
ſprechen — ſich ſelbſt es ſchuldig, ungeſäumt Sorge zu
tragen, daß es ſobald als möglich in voller geiſtiger und
körperlicher Friſche und in vollem Selbſtvertrauen, das
nicht nur das eigene ungeſchmälerte Kraſtbewußtſein,
ſondern auch ein feſtwurzelndes Vertrauen zum Wollen
und Können der leitenden Kreiſe zur Vorausſetzung und
Vorbedingung hat, wieder auf dem Plan zu erſcheinen
um im Kampfe ums Daſein ſein gutes Recht geltend
machen und ſeine Anſprüche verfechten zu können. Alſo
„wo fehlt es?“ und „wie iſt zu helfen?“

Auf die erſte Frage möchten wir ohne Zaudern ant-
worten: An der nöthigen Ruhe und Sammlung, und in-
folgedeſſen an der Fähigkeit, die Situation klaren Blicks
zu überſchanen, die minder wichtigen Aufgaben von den
dringenden, keinen Anfſchub duldenden zu ſondern und
an der Fähigkeit, an das, was wohl oder übel gethan
werden muß, nun auch die ganze Kraft zu ſetzen. Das
allgemeine Uebel unſrer Zeit, die Nervoſität, die Hundert-
tauſende, ja Millionen von Einzelweſen heimſucht, hat
auch unſer Volk, als politiſches Ganze genommen, be-
fallen, und nicht nur das Volk, ſondern zugleich, ja viel-
leicht in erſter Linie ſeine Führer und Leiter. Es hat eine
allgemeine nervöſe Ueberreizung platzgegriffen, die in
einem nicht unbedenklichen Drange nach Vielgeſchäftigkeit
in einer gewiſſen Ueberhaſtung und allzu ſtarken An-
ſpannung der Kräfte, der dann nicht ſelten eine plötzliche
Abſpannung und Erſchlaffung folgt, ſich kundgibt. Und
daß es ſo gekommen iſt, wird dem, der die Vorgänge des
letzten Jahrzehnts in dem Beſtreben, ſich ein möglichſt
objektives Urtheil zu bilden, aufmerkſam verfolgt hat,
nicht befremdlich erſcheinen.

Als der erſte große Kanzler früher als er ſelbſt es
vorausgeſehen, in die Stille des Sachſenwaldes ſich zurück-
zog, ſahen diejenigen, die ſtatt ſeiner in Staat und Reich
die Leitung der Geſchäfte übernahmen, vor eine ſelten
[Spaltenumbruch] ſchwere Aufgabe ſich geſtellt. Was bis dahin ein Genie
geleiſtet, ſollte nun mit gewiß nicht weniger gutem Willen,
aber doch mit zweifellos geringerem Können und bei
minder reicher Erfahrung von ihnen gethan werden. Daß
ſie da durch Vielgeſchäftigkeiten das Fehlende zu erſetzen
ſuchten, daß ſie bald hier bald dort in neue Bahnen ein-
lenkten und zur Verſtärkung ihres Heerbanus neue Be-
ziehungen anzuknüpfen und neue Truppen zu werben
ſuchten, erſcheint vom rein menſchlichen Standpunkt aus
vollkommen begreiflich. Das Reſultat aber hat ihren Er-
wartungen nicht entſprochen und konnte ihnen kaum ent-
ſprechen. Man lehnte zwar auf Seiten der Parteien
ein Zuſammengehen mit den leitenden Kreiſen keines-
wegs ab, aber man wollte Leiſtungen nur für Gegen-
leiſtungen gewähren, und ſo gerieth die Regierung, da
ſie an faſt alle Thüren angeklopft hatte, in die üble Lage,
auch faſt allen Richtungen gegenüber Verbindlichkeiten
eingegangen zu ſein, die ſich miteinander kaum verein-
baren ließen. Der Verſuch, ihnen dennoch gewiſſenhaft
zu genügen, mußte nothgedrungen mißlingen. Bei dem
Beſtreben, Allen zu gefallen, hat man ſich nur der Ge-
fahr ausgeſetzt, auch die alten Anhänger und Freunde
einzubüßen, ohne dafür neue, wirklich zuverläſſige Bundes-
genoſſen zu finden. Unſre Parteiverhältniſſe, die ohnehin
nichts weniger als erfreulich und erquicklich geweſen
waren, haben ſich infolgedeſſen im Laufe des letzten
Dezenniums noch verworrener und unklarer geſtaltet,
und wenn ſchon ein Bismarck mehr als einmal gegen
unnatürliche Parteikoalitionen anzukämpfen hatte, ſo
ſahen ſeine Nachfolger ſich noch weit häuſiger in die
Nothwendigkeit verſetzt, ſich wohl oder übel mit parla-
mentariſchen Mehrheiten abzufinden, die der Wahrſchein-
lichkeitsberechnung ebenſowenig entſprachen wie dem
nationalen Intereſſe.

Trotz aller aus der Unklarheit der parlamentariſchen
Verhältniſſe, aus dem Tohuwabohu unſres Parteiweſens
und anderen Gründen, deren Darlegung hier zu weit
führen würde, ſich ergebenden Schwierigkeiten mochte
man an maßgebender Stelle den Gang des Geſetzgebungs-
apparats nicht verlangſamen; ja es machte den Eindruck,
als ob mit den Hemmniſſen zugleich auch der Eifer ge-
wachſen ſei, ſie durch raſtloſe Thätigkeit zu überwinden.
Selten iſt in den Reichsämtern und Berliner Miniſterien
eifriger und hingebender gearbeitet worden als in den
letzten Jahren, und ſelten nur hat ein Monarch ſo oft
und ſo öffentlich für einzelne geſetzgeberiſche Akte ſeine
perſönliche Autorität eingeſetzt wie Wilhelm II. in ent-
ſchloſſener Bethätigung ſeiner Eigenart und ſeiner Auffaſſung
der Pflichten eines Herrſchers es gethan hat. Wir wollen hier
die Frage, wieweit das unmittelbare Eingreifen des Mon-
archen in den Streit des Tages und die Kämpfe der Parteien
rathſam oder geboten erſcheinen mag, grundſätzlich nicht
erörtern; Thatſache iſt es jedenfalls — darüber kann
Niemand ſich täuſchen — daß der muthigen und hoch-
herzigen Initiative des fürſtlichen Herrn der erwartete
Erfolg vielfach verſagt blieb und daß aufrichtige An-
hänger des monarchiſchen Gedankens es wiederholt
ſchmerzlich zu beklagen hatten, gegen diejenigen fechten
zu müſſen, über deren Reihen das kaiſerliche und könig-
liche Banner entfaltet worden war. Es hat auch dieſer

[Spaltenumbruch]
Das Poſtfräulein.
Hochlandsroman von Arthur Achleitner.
(1)

(Nachdruck verboten.)
Erſtes Kapitel.

Der Perſonenzug der Südbahn fuhr polternd in die
kleine Station ein, hielt und qualmte tüchtig, ſo daß das
Bahnhöfchen im Nu von ſchwarzgraubraunem Rauch er-
füllt war. Nur wenige Paſſagiere kletterten aus dem
Wagen dritter Klaſſe, ein Fräulein mittleren Wuchſes,
ſtädtiſch, doch einfach gekleidet, ohne Schleier, daher das
ſcharfgeſchnittene Geſicht und die ſtarken Backenknochen
leicht erkennbar waren, einige Achenthaler Bäuerinnen,
und aus dem Abtheil für Raucher ſtieg ein junger Mann,
eine ſtämmige, friſche Geſtalt im unverfälſchten Typus des
Bergvolkes, den die ſtädtiſche Kleidung nicht verwiſchen
kann.

Im Lokomotivenqualm verſchwinden die Reiſenden
faſt, man ſieht vor Rauch kaum die Austrittsſtelle, daher
ſchreit der Perronſperrling, das heißt Stationsdiener,
laut: „Ausgang hier! Fahrkarten vorzeigen!“ Da nur dieſe
fünf Perſonen den inzwiſchen abgegangenen Perſonenzug
verlaſſen haben, gibt es an der Perronſperre, dieſer „groß-
artigſten“ Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts, kein
beſonderes Gedränge. Die an ſich geduldigen Leute warten
hübſch, geben die Fahrkarten ab und ſchlängeln ſich durch
den Pferch. Befreit vom Eiſenbahuzwang, befreit — o,
welche Seligkeit!

Die Achenthalerinnen gehen ihren Weg und trollen
ſchwätzend in der Mitte der Straße dem Dorfe zu. Der
junge Mann aber ſchlägt einen Seitenweg ein, der das
Dorf umkreist und hinter demſelben direkt aufwärts
führt ins Seegebiet; er kümmert ſich nicht im geringſten
um die wenigen Leute. Nur ſchnell ins Freie und hinauf
in die Bergheimath.

Hinter dem Stationsgebäude ſteht allein das Fräu-
lein mit einer Handtaſche in der Rechten und blickt ver-
legen um ſich. Fremd im Ort, weiß die junge Dame ſich
[Spaltenumbruch] keinen Rath zur Fortſetzung der Reiſe hinauf ins Gebirg.
Enttäuſchung prägt ſich im Geſicht aus. Das Fräulein
mochte auf Abholung und Fuhrwerk gewartet haben, aber
es iſt Niemand da. So ſtapſt die junge Dame ins Dorf,
dem Kaiſerlich Königlichen Poſtamt zu, das durch den
öſterreichiſchen Doppeladler und die Aufſchrift: „K. K. Poſt-
amt und Telegraphenſtation, K. K. Poſtſparkaſſe“ leicht er-
kennbar iſt. Schon will das Fräulein in die Amtskanzlei
eintreten, da humpelt ein in Loden gekleideter alter Knecht
heran und fragt: „Mit Verlaub! Biſcht du die neuchi
Poſtfräuln?“

Die Gefragte bejaht die ihre Erwartungen weſentlich
herabſtimmende Frage, worauf der Knecht erklärt: „Das
Stückl Weg von der Bahn herein hat dich nicht umgebracht,
und mir hat’s gut gethan, das Viertelſtünderl Schlaf. Du
biſcht jung, und ich bin alt. Nix für ungut!“ Der Poſtſepp
nimmt dem Fräulein die Handtaſche ab und erklärt, ein-
ſpannen zu wollen. Auf ein richtiges Poſtgefährt iſt das
Fräulein nicht gefaßt, Fräulein Lina weiß aus der Prakti-
kantenzeit bereits, daß die Poſt in kleinen Gebirgsorten
nur ſelten ein Fuhrwerk hat; aber das Wägelchen, welches
zur Beförderung hinauf ins Seedorf dienen ſoll, ſpottet
jeglicher Beſchreibung. Dieſes wackelige, alte Gefährt dient
zweifellos hauptſächlich dem Transport von Kälbern und
Schweinen, woran deutliche Spuren gemahnen, aber auch
Reſte von Sand und Kalk ſind noch ſichtbar; und Federn
hat das Fuhrwerk, daß es einem beim Beſchauen ſchon
angſt und wehe werden könnte. Beſſer als dieſes Marter-
fuhrwerk iſt der Gaul, ein richtiger Ackergaul ſchwerer
Pinzgauer Raſſe, den der Poſtſepp mit einer Umſtändlich-
keit einſpannt, als gelte es, eine Krönungskaroſſe für einen
Kaiſer anzuſchirren. Fräulein Lina blickt noch immer ent-
ſetzt auf das ſchmutzſtarrende Wägelchen und ſagt: „In
dieſem Kälberwagel ſoll ich fahren?“

Der Knecht nickt und fügt bei: „Wennſt nicht magſt,
mußt halt zu Fuß gehen! Es hat bloß der Metzger ein
Wagl, und ſell haben wir zu leihen genommen für dich!
Steig nur ein, Poſtfräuln! Beſſer ſchlecht gefahren, als
[Spaltenumbruch] gut gegangen!“ Dazu wirſt der Sepp das Handgepäck des
Fräuleins in das Gefährt und wiederholt die Aufforderung
zum Einſteigen.

Schnell überlegt das Poſtfräulein, was zu thun ſei;
eine Fahrt in dieſem Gefährt ruinirt das Kleid ganz ſicher,
und das kann ſich eine Poſtexpeditorin mit fünfzehn Gul-
den Monatsgage nicht leiſten. So ſagt Lina dem ver-
dutzten Knecht, daß ſie auf die Mitfahrt verzichte und lieber
zu Fuß gehen werde.

Sepp guckt das Poſtfräulein an, als ſei die „Neue“
übergeſchnappt, beſchränkte ſich aber auf ein „Hü!“ und
fuhr raſſelnd ab. Hinterdrein ſchritt mit recht eigenthüm-
lichen Empfindungen in der jungen Bruſt Lina auf der
ſteil-anſteigenden Landſtraße, welche das langgeſtreckte
Dorf in zwei Theile trennt. Dann zieht ſich die Straße
längs eines toſenden Bergbachs aufwärts und hinein in
einen prächtigen Fichtenwald.

Jener junge Mann, der vom Bahnhof gleich auf einem
Gangſteig der Höhe zuſtrebte, hat im harzduſtendem Hoch-
wald das Tempo bald gemäßigt, und aus froher Bruſt
klingt das Studentenlied: „Frei iſt der Burſch!“, daß es
nur ſo ſchmettert hinauf zu den Felswänden des See-
gebirges. Beendet iſt die Studienzeit, das Doktordiplom
in der Taſche, ſchreitet der junge Mediziner Kaſtulus
Oberhummer durch den heimathvertrauten Hochwald dem
Dorfe droben zu, in welchem er geboren und bis zum Be-
ſuch der Schulen aufgewachſen iſt. „Frei iſt der Burſch!“
Welche Wonne liegt in dieſem Lied nach glücklich beendetem
Schlußexamen! Den Gebirgler Kaſtulus trieb es heim
mit unwiderſtehlicher Kraft; fort aus der Stadt, fort trotz
Kneipe, Kommers und Lebensfreuden. Die Sehuſucht nach
Alpenluft und Almenleben, nach den Bergen und grünen
Matten iſt zu groß, und zu lange mußte der junge Mann
die Heimath entbehren, aus der ihn der Machtſpruch des
Vaters vertrieben. Wenn Kaſtulus an jenen Spruch
denkt, ſchmunzelt der Mediziner jedesmal. Koſtete der erſte
Abſchied von der Heimath Thränen und verurſachte das
Scheiden arges Herzweh, heute dankt Kaſtulus dem

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[0001] Nr. 82. 103. Jahrgang. München, Sonntag, 25. März 1900. Wöchentlich 12 Ausgaben. Bezugspreiſe: Durch die Poſlämter: jährlich M. 36. —, ohne Beil. M. 18. — (viertelj. M. 9. —, ohne Veil. M. 4.50); in München b. d Ex- pedition od. d. Depots monatlich M. 2. —, ohne Veil. M. 1. 20. Zuſtellg. mil. 50 Pf. Direkter Bezug für Deutſchl. u. Oeſterreich monatlich M. 4. —, ohne Veil. M. 3. —, Ausland M. 5. 60, ohne Veil. M. 4.40. Allgemeine Zeitung. Inſertionspreis für die kleinſpaltige Kolonelzeile od. deren Raum 25 Pfennig; finanzielle Anzeigen 35 Pf.; lokale Ver- kauſsanzeig. 20 Pf.; Stellengeſuche 15 Pf. Redaktion und Expe- dition befinden ſich Schwanthalerſtr. 36 in München. Berichte ſind an die Redaktion, Inſerat- aufträge an die Ex- pedition franko ein- zuſenden. Abonnements für Berlin nimmt unſere dortige Filiale in der Leipzigerſtraße 11 entgegen. Abounements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle, 30 Lime Str., London; für Frankreich. Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris; für Belgien, Bulgarien, Dänemark, Italien. Niederlande, Rumänien, Rußland, Schweden und Norwegen. Schweiz, Serbien die dorligen Poſtämter; für den Orient das k. k. Poſtamt in Wien oder Trieſt; für Nordamerika F. W. Chriſtern, E. Steiger u. Co., Guſt. E. Stechert, Weſtermann u. Co., International News Comp., 83 und 85 Duane Str. in New-York. [Abbildung] Inſeratenannahme in München bei der Expedition, Schwanthalerſtraße 36, in Berlin in unſerer Filiale, Leipzigerſtraße 11, ferner in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln, Leipzig, Frankjurt a. M., Stuttgart, Nürnberg, Wien, Peſt, London, Zürich, Baſel ꝛc. bei den Annoncenbureaux R. Moſſe. Haaſenſtein u. Bogler, G. L. Daubeu. Co. In den Filialen der Zeitungsbureaux Invalidendank zu Berlin, Dresden, Leipzig, Chemnitz ꝛc. Außerdew in Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtraße 26) und S. Kornik (Kochſtraße 23); für Frankreich bei John F. Jones u. Co., 31 bis Faubourg Montmartre in Paris. Verantwortlich für den politiſchen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Fryr. v. Menſi, für den Handelstheil Ernſt Barth, ſämmtlich in München. Druck und Verlag der Geſellſchaft mit beſchränkter Haftung „Verlag der Allgemeinen Zeitung“ tu München. Wo fehlt es? Durch unſer deutſches Volk geht ſeit Jahren ſchon ein eher noch im Wachſen als im Abnehmen begriffener Zug der Verſtimmung und des Mißbehagens. Man hat das Empfinden, daß in unſerm öffentlichen Leben die Dinge vielfach nicht ſo ſich entwickeln, wie ſie ſich entwickeln ſollten und könnten und hadert deßhalb ſo ziemlich mit aller Welt, in dem relativ kleinen Kreiſe derer, die ſich der Pflicht zur Selbſterkenntniß einigermaßen bewußt ſind, wohl auch mit dem lieben Ich und der eigenen Partei. Faſt überall je- doch wird nach einem guten, alten, nebenbei bemerkt, aber keineswegs nur deutſchen Brauch, für das was nicht gefällt, was man anders haben möchte, die hohe Obrigkeit verant- wortlich gemacht, die Obrigkeit in Gemeinde, Staat und Reich; und da die Fäden der politiſchen Aktion zu allermeiſt an der Reichsſtelle zuſammenlaufen, ſo haben die dort maß- gebenden Perſonen und Kreiſe das Onus des weitverbrei- teten Mißmuths in erſter Linie zu tragen. In dieſem Sinn kann man ſogar von dem Zutagetreten einer gewiſſen Reichsverdroſſenheit ſprechen, die zu der vorbehaltloſen Freude am Vaterland, der die weit überwiegende Mehrheit der Nation nach den großen Tagen der Entſcheidung und Einigung vertrauensvoll ſich hingab, in einem für das patriotiſche Empfinden ſehr wenig erfreulichen Gegenſatz ſteht. Von einer vollſtändigen Verkennung der deutſchen Verhältniſſe und der innerhalb der deutſchen Grenzpfähle ſich geltend machenden Stimmungen und Veſtrebungen zengt es allerdings, wenn man im Ausland — in Anbe- tracht der tendenziös-gehäſſigen Ausführungen einzelner extremer Oppoſitionsorgane — hier und da der Erwartung ſich hingibt, daß aus den Reihen der Reichsverdroſſenen heraus eine „Los vom Reich-Bewegung“ ſich herausbilden werde. Zu derartigen Hoffnungen oder Befürchtungen liegt, gottlob, kein Anlaß vor. Auch unſre eingefleiſchteſten Partikulariſten und unſre rotheſten Demokraten wiſſen das ſchützende Dach, unter dem ſie heute ſo wohlgeborgen wohnen, d. h. das Dach, das mit der Wiederherſtellung der potionalen Einheit, mit der Wiedergeburt von Kaiſer und Reich über den deutſchen Einzelſtaaten errichtet worden iſt, zu wohl zu ſchätzen, als daß ſie es miſſen oder gar mit Ge- walt zerſtören möchten, weil ſeine Form oder Farbe ihnen nicht behagt. So lange die Sonne ſcheint, ſtehen ſie wohl draußen und ſchelten über den angeblich mißlungenen Bau und über die Koſten ſeiner Erhaltung, zu denen natürlich auch ſie ihr Scherflein beizutragen haben; kommt jedoch ein Regen- oder Hagelſchauer, ſo ſind ſie gewiß nicht die letzten, ſich unter dem geſcholtenen Dach in Sicherheit zu bringen und ſind ſie im Trockenen, in einem Gebet ohne Worte — denn laut darf es beileibe nicht geſchehen — dem Himmel und dem Baumeiſter für ſeine vorſorgliche Leiſtung zu danken. Tragiſch braucht man alſo die ſogenannte Reichs- verdroſſenheit, die mißmuthige Beurtheilung der öffent- lichen Angelegenheiten und das zeitweilige Sinken des Vertrauens zum eigenen Können und zur Feſtigkeit der offiziellen Zügelführung, noch nicht zu nehmen. Das Leben der Völker bewegt ſich nun einmal, ſelbſt bei einer im allgemeinen aufwärts gerichteten Entwicklung, in Wellenlinien; es hat, dem Meer gleich, Ebbe und Fluth. Auch in Frankreich — es ſei hier nur an die noch nicht weit zurückliegende Periode erinnert, in der man das bürgerlich-parlamentariſche Negime für völlig erſchlafft und ſeinen Zuſammenbruch für nahezu unvermeidlich hielt —, in Italien — man denke an die Zeit der ſtarken wirth- ſchaftlichen Depreſſion und an die allgemeine Nieder- geſchlagenheit nach der Kataſtrophe von Adua —, in Oeſterreich-Ungarn, in Spanien, kurz in allen modernen Staatsweſen ſind und waren Perioden der allgemeinen Abſpannung und Verſtimmung zu regiſtriren, und ſie werden bei uns und anderen Völkern auch fernerhin ganz ebenſo ſich einſtellen, wie im Daſein der Individuen die Tage der Krankheit und des mehr oder minder merkbaren Nachlaſſens der Arbeitsfreudigkeit und der Schaffens- kraſt. Aber um eine nationale Krankheit, um eine Min- derung des allgemeinen Wohlbefindens handelt es ſich immerhin, und die Frage: „Wo fehlt es?“, die der Ein- zelne, ſobald er ſich leidend fühlt, ſich ſelbſt oder beſſer noch dem Arzt vorlegt, um von ihrer Beantwortung die Entſcheidung über die zur Wiederherſtellung der Geſund- heit anzuwendenden Mittel abhängig zu machen, muß auch unſer Volk unter den obwaltenden Verhältniſſen ſich ſtellen. Iſt es doch — um von höheren, im Dienſte der Menſchheit der Löſung harrenden Aufgaben nicht zu ſprechen — ſich ſelbſt es ſchuldig, ungeſäumt Sorge zu tragen, daß es ſobald als möglich in voller geiſtiger und körperlicher Friſche und in vollem Selbſtvertrauen, das nicht nur das eigene ungeſchmälerte Kraſtbewußtſein, ſondern auch ein feſtwurzelndes Vertrauen zum Wollen und Können der leitenden Kreiſe zur Vorausſetzung und Vorbedingung hat, wieder auf dem Plan zu erſcheinen um im Kampfe ums Daſein ſein gutes Recht geltend machen und ſeine Anſprüche verfechten zu können. Alſo „wo fehlt es?“ und „wie iſt zu helfen?“ Auf die erſte Frage möchten wir ohne Zaudern ant- worten: An der nöthigen Ruhe und Sammlung, und in- folgedeſſen an der Fähigkeit, die Situation klaren Blicks zu überſchanen, die minder wichtigen Aufgaben von den dringenden, keinen Anfſchub duldenden zu ſondern und an der Fähigkeit, an das, was wohl oder übel gethan werden muß, nun auch die ganze Kraft zu ſetzen. Das allgemeine Uebel unſrer Zeit, die Nervoſität, die Hundert- tauſende, ja Millionen von Einzelweſen heimſucht, hat auch unſer Volk, als politiſches Ganze genommen, be- fallen, und nicht nur das Volk, ſondern zugleich, ja viel- leicht in erſter Linie ſeine Führer und Leiter. Es hat eine allgemeine nervöſe Ueberreizung platzgegriffen, die in einem nicht unbedenklichen Drange nach Vielgeſchäftigkeit in einer gewiſſen Ueberhaſtung und allzu ſtarken An- ſpannung der Kräfte, der dann nicht ſelten eine plötzliche Abſpannung und Erſchlaffung folgt, ſich kundgibt. Und daß es ſo gekommen iſt, wird dem, der die Vorgänge des letzten Jahrzehnts in dem Beſtreben, ſich ein möglichſt objektives Urtheil zu bilden, aufmerkſam verfolgt hat, nicht befremdlich erſcheinen. Als der erſte große Kanzler früher als er ſelbſt es vorausgeſehen, in die Stille des Sachſenwaldes ſich zurück- zog, ſahen diejenigen, die ſtatt ſeiner in Staat und Reich die Leitung der Geſchäfte übernahmen, vor eine ſelten ſchwere Aufgabe ſich geſtellt. Was bis dahin ein Genie geleiſtet, ſollte nun mit gewiß nicht weniger gutem Willen, aber doch mit zweifellos geringerem Können und bei minder reicher Erfahrung von ihnen gethan werden. Daß ſie da durch Vielgeſchäftigkeiten das Fehlende zu erſetzen ſuchten, daß ſie bald hier bald dort in neue Bahnen ein- lenkten und zur Verſtärkung ihres Heerbanus neue Be- ziehungen anzuknüpfen und neue Truppen zu werben ſuchten, erſcheint vom rein menſchlichen Standpunkt aus vollkommen begreiflich. Das Reſultat aber hat ihren Er- wartungen nicht entſprochen und konnte ihnen kaum ent- ſprechen. Man lehnte zwar auf Seiten der Parteien ein Zuſammengehen mit den leitenden Kreiſen keines- wegs ab, aber man wollte Leiſtungen nur für Gegen- leiſtungen gewähren, und ſo gerieth die Regierung, da ſie an faſt alle Thüren angeklopft hatte, in die üble Lage, auch faſt allen Richtungen gegenüber Verbindlichkeiten eingegangen zu ſein, die ſich miteinander kaum verein- baren ließen. Der Verſuch, ihnen dennoch gewiſſenhaft zu genügen, mußte nothgedrungen mißlingen. Bei dem Beſtreben, Allen zu gefallen, hat man ſich nur der Ge- fahr ausgeſetzt, auch die alten Anhänger und Freunde einzubüßen, ohne dafür neue, wirklich zuverläſſige Bundes- genoſſen zu finden. Unſre Parteiverhältniſſe, die ohnehin nichts weniger als erfreulich und erquicklich geweſen waren, haben ſich infolgedeſſen im Laufe des letzten Dezenniums noch verworrener und unklarer geſtaltet, und wenn ſchon ein Bismarck mehr als einmal gegen unnatürliche Parteikoalitionen anzukämpfen hatte, ſo ſahen ſeine Nachfolger ſich noch weit häuſiger in die Nothwendigkeit verſetzt, ſich wohl oder übel mit parla- mentariſchen Mehrheiten abzufinden, die der Wahrſchein- lichkeitsberechnung ebenſowenig entſprachen wie dem nationalen Intereſſe. Trotz aller aus der Unklarheit der parlamentariſchen Verhältniſſe, aus dem Tohuwabohu unſres Parteiweſens und anderen Gründen, deren Darlegung hier zu weit führen würde, ſich ergebenden Schwierigkeiten mochte man an maßgebender Stelle den Gang des Geſetzgebungs- apparats nicht verlangſamen; ja es machte den Eindruck, als ob mit den Hemmniſſen zugleich auch der Eifer ge- wachſen ſei, ſie durch raſtloſe Thätigkeit zu überwinden. Selten iſt in den Reichsämtern und Berliner Miniſterien eifriger und hingebender gearbeitet worden als in den letzten Jahren, und ſelten nur hat ein Monarch ſo oft und ſo öffentlich für einzelne geſetzgeberiſche Akte ſeine perſönliche Autorität eingeſetzt wie Wilhelm II. in ent- ſchloſſener Bethätigung ſeiner Eigenart und ſeiner Auffaſſung der Pflichten eines Herrſchers es gethan hat. Wir wollen hier die Frage, wieweit das unmittelbare Eingreifen des Mon- archen in den Streit des Tages und die Kämpfe der Parteien rathſam oder geboten erſcheinen mag, grundſätzlich nicht erörtern; Thatſache iſt es jedenfalls — darüber kann Niemand ſich täuſchen — daß der muthigen und hoch- herzigen Initiative des fürſtlichen Herrn der erwartete Erfolg vielfach verſagt blieb und daß aufrichtige An- hänger des monarchiſchen Gedankens es wiederholt ſchmerzlich zu beklagen hatten, gegen diejenigen fechten zu müſſen, über deren Reihen das kaiſerliche und könig- liche Banner entfaltet worden war. Es hat auch dieſer Das Poſtfräulein. Hochlandsroman von Arthur Achleitner. (1) (Nachdruck verboten.) Erſtes Kapitel. Der Perſonenzug der Südbahn fuhr polternd in die kleine Station ein, hielt und qualmte tüchtig, ſo daß das Bahnhöfchen im Nu von ſchwarzgraubraunem Rauch er- füllt war. Nur wenige Paſſagiere kletterten aus dem Wagen dritter Klaſſe, ein Fräulein mittleren Wuchſes, ſtädtiſch, doch einfach gekleidet, ohne Schleier, daher das ſcharfgeſchnittene Geſicht und die ſtarken Backenknochen leicht erkennbar waren, einige Achenthaler Bäuerinnen, und aus dem Abtheil für Raucher ſtieg ein junger Mann, eine ſtämmige, friſche Geſtalt im unverfälſchten Typus des Bergvolkes, den die ſtädtiſche Kleidung nicht verwiſchen kann. Im Lokomotivenqualm verſchwinden die Reiſenden faſt, man ſieht vor Rauch kaum die Austrittsſtelle, daher ſchreit der Perronſperrling, das heißt Stationsdiener, laut: „Ausgang hier! Fahrkarten vorzeigen!“ Da nur dieſe fünf Perſonen den inzwiſchen abgegangenen Perſonenzug verlaſſen haben, gibt es an der Perronſperre, dieſer „groß- artigſten“ Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts, kein beſonderes Gedränge. Die an ſich geduldigen Leute warten hübſch, geben die Fahrkarten ab und ſchlängeln ſich durch den Pferch. Befreit vom Eiſenbahuzwang, befreit — o, welche Seligkeit! Die Achenthalerinnen gehen ihren Weg und trollen ſchwätzend in der Mitte der Straße dem Dorfe zu. Der junge Mann aber ſchlägt einen Seitenweg ein, der das Dorf umkreist und hinter demſelben direkt aufwärts führt ins Seegebiet; er kümmert ſich nicht im geringſten um die wenigen Leute. Nur ſchnell ins Freie und hinauf in die Bergheimath. Hinter dem Stationsgebäude ſteht allein das Fräu- lein mit einer Handtaſche in der Rechten und blickt ver- legen um ſich. Fremd im Ort, weiß die junge Dame ſich keinen Rath zur Fortſetzung der Reiſe hinauf ins Gebirg. Enttäuſchung prägt ſich im Geſicht aus. Das Fräulein mochte auf Abholung und Fuhrwerk gewartet haben, aber es iſt Niemand da. So ſtapſt die junge Dame ins Dorf, dem Kaiſerlich Königlichen Poſtamt zu, das durch den öſterreichiſchen Doppeladler und die Aufſchrift: „K. K. Poſt- amt und Telegraphenſtation, K. K. Poſtſparkaſſe“ leicht er- kennbar iſt. Schon will das Fräulein in die Amtskanzlei eintreten, da humpelt ein in Loden gekleideter alter Knecht heran und fragt: „Mit Verlaub! Biſcht du die neuchi Poſtfräuln?“ Die Gefragte bejaht die ihre Erwartungen weſentlich herabſtimmende Frage, worauf der Knecht erklärt: „Das Stückl Weg von der Bahn herein hat dich nicht umgebracht, und mir hat’s gut gethan, das Viertelſtünderl Schlaf. Du biſcht jung, und ich bin alt. Nix für ungut!“ Der Poſtſepp nimmt dem Fräulein die Handtaſche ab und erklärt, ein- ſpannen zu wollen. Auf ein richtiges Poſtgefährt iſt das Fräulein nicht gefaßt, Fräulein Lina weiß aus der Prakti- kantenzeit bereits, daß die Poſt in kleinen Gebirgsorten nur ſelten ein Fuhrwerk hat; aber das Wägelchen, welches zur Beförderung hinauf ins Seedorf dienen ſoll, ſpottet jeglicher Beſchreibung. Dieſes wackelige, alte Gefährt dient zweifellos hauptſächlich dem Transport von Kälbern und Schweinen, woran deutliche Spuren gemahnen, aber auch Reſte von Sand und Kalk ſind noch ſichtbar; und Federn hat das Fuhrwerk, daß es einem beim Beſchauen ſchon angſt und wehe werden könnte. Beſſer als dieſes Marter- fuhrwerk iſt der Gaul, ein richtiger Ackergaul ſchwerer Pinzgauer Raſſe, den der Poſtſepp mit einer Umſtändlich- keit einſpannt, als gelte es, eine Krönungskaroſſe für einen Kaiſer anzuſchirren. Fräulein Lina blickt noch immer ent- ſetzt auf das ſchmutzſtarrende Wägelchen und ſagt: „In dieſem Kälberwagel ſoll ich fahren?“ Der Knecht nickt und fügt bei: „Wennſt nicht magſt, mußt halt zu Fuß gehen! Es hat bloß der Metzger ein Wagl, und ſell haben wir zu leihen genommen für dich! Steig nur ein, Poſtfräuln! Beſſer ſchlecht gefahren, als gut gegangen!“ Dazu wirſt der Sepp das Handgepäck des Fräuleins in das Gefährt und wiederholt die Aufforderung zum Einſteigen. Schnell überlegt das Poſtfräulein, was zu thun ſei; eine Fahrt in dieſem Gefährt ruinirt das Kleid ganz ſicher, und das kann ſich eine Poſtexpeditorin mit fünfzehn Gul- den Monatsgage nicht leiſten. So ſagt Lina dem ver- dutzten Knecht, daß ſie auf die Mitfahrt verzichte und lieber zu Fuß gehen werde. Sepp guckt das Poſtfräulein an, als ſei die „Neue“ übergeſchnappt, beſchränkte ſich aber auf ein „Hü!“ und fuhr raſſelnd ab. Hinterdrein ſchritt mit recht eigenthüm- lichen Empfindungen in der jungen Bruſt Lina auf der ſteil-anſteigenden Landſtraße, welche das langgeſtreckte Dorf in zwei Theile trennt. Dann zieht ſich die Straße längs eines toſenden Bergbachs aufwärts und hinein in einen prächtigen Fichtenwald. Jener junge Mann, der vom Bahnhof gleich auf einem Gangſteig der Höhe zuſtrebte, hat im harzduſtendem Hoch- wald das Tempo bald gemäßigt, und aus froher Bruſt klingt das Studentenlied: „Frei iſt der Burſch!“, daß es nur ſo ſchmettert hinauf zu den Felswänden des See- gebirges. Beendet iſt die Studienzeit, das Doktordiplom in der Taſche, ſchreitet der junge Mediziner Kaſtulus Oberhummer durch den heimathvertrauten Hochwald dem Dorfe droben zu, in welchem er geboren und bis zum Be- ſuch der Schulen aufgewachſen iſt. „Frei iſt der Burſch!“ Welche Wonne liegt in dieſem Lied nach glücklich beendetem Schlußexamen! Den Gebirgler Kaſtulus trieb es heim mit unwiderſtehlicher Kraft; fort aus der Stadt, fort trotz Kneipe, Kommers und Lebensfreuden. Die Sehuſucht nach Alpenluft und Almenleben, nach den Bergen und grünen Matten iſt zu groß, und zu lange mußte der junge Mann die Heimath entbehren, aus der ihn der Machtſpruch des Vaters vertrieben. Wenn Kaſtulus an jenen Spruch denkt, ſchmunzelt der Mediziner jedesmal. Koſtete der erſte Abſchied von der Heimath Thränen und verurſachte das Scheiden arges Herzweh, heute dankt Kaſtulus dem

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 82, 25. März 1900, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine82_1900/1>, abgerufen am 17.05.2024.