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Allgemeine Zeitung, Nr. 45, 14. Februar 1871.

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[Spaltenumbruch] rosig sind aber unsere Hoffnungen nicht, und der Wahltag möchte doch
allerlei Enttäuschungen bringen. Vorerst ist es uns auffallend daß man
dieselben Namen für verschiedene Bezirke in Vorschlag brachte, um doch in
einem zu siegen; dann daß diese Partei für mehrere Bezirke gar keine
Candidaten aufstellte, wie für den vierzehnten, und sodann daß man zu
den eigenartigsten Vorschlägen griff um den Gegnern den Rang abzulau-
fen. So weiß man daß zwei verbündete Parteien für den Bezirk Karls-
ruhe-Bruchsal den Grafen v. Berlichingen vorschlagen und durchbringen
wollen, und man hat nun durch das Bürgermeisteramt zur Vereitelung
dieser Wahl den Prinzen Wilhelm empfohlen, weil man glaubt daß die
Wähler sich scheuen werden einen anderen als den Vorgeschlagenen zu
wählen. Wir meinen freilich, Baden sei das letzte Land das unter seinen
vierzehn Candidaten einen Prinzen, und zwar den Bruder des Großherzogs,
vorzuschlagen habe, da ja die Regierung schon hinlänglich im Bundesrathe
vertreten ist; aber das Karlsruher Beispiel hat sofort in einer Nachbar-
stadt gewirkt, denn in Baden haben Bürgermeister und Staatsanwalt, die
nun damit endlich offen schwarz-feudale Farbe bekannten, den Fürsten
von Fürstenberg in Vorschlag gebracht, der bekanntlich als Vorstand des
Mediatisirten-Vereins seit Jahren nichts weniger als Zurückeroberung
aller bis 1803 besessenen feudalen Vorrechte erstrebte. Dem gegenüber
hat man darauf hingewiesen die Residenz des Fürsten werde ihn wohl
besser kennen und allenfalls selbst behalten, und den Oberschulrathsdirec-
tor Renck in Vorschlag gebracht, ein bisheriges Kammermitglied, von dem
aber zur Zeit nichts hervorragendes bekannt wurde. Für Vretten-Eppin-
gen hat Bluntschli eine Wiederwahl abgelehnt, und er mochte damit sehr
Recht haben; für Mannheim ist Lamey in Vorschlag, wird aber gegenüber
der demokratischen Oberherrschaft schwerlich durchdringen. Für Heidelberg
candidirt Kiefer, ferner sind noch Candidaten Eckhard, Kirsner u. A. Wie
gesagt, fest steht noch nichts, und man muß erst abwarten was die ultra-
montane Partei beginnt, denn sie ist ungemein thätig und wirkt mehr im
stillen. Was sie aber vom neuen Kaiserthum erwartet und erstrebt, gibt sie
in ihrem Hauptorgan zu naiv kund um dessen nicht zu gedenken. Nach dem
"Beobachter" hat nämlich der deutsche Kaiser, da die Rechtscontinuität des
deutschen Rechts aus dem Reichsdeputations-Hauptschluß von 1803 wieder
erstehe(!), als Hauptpflicht zu übernehmen den Papst und die Rechte der katho-
lischen Kirche zu schützen, und der letzteren folgende Rechte zu erstreiten: der
kirchlichen Aemterbesetzung, der Bildung, resp. Prüfung der Geistlichen, Frei-
heit der religiösen Vereine (Orden), katholische Heranbildungder Jugend, Auf-
hebung der Zwangscivilehe, geistliche Verwaltung der Schul-, Armen-,
Kranken- und Waisenstiftungen u. s. w. Jm allgemeinen schweigen noch
die gegenseitigen Angriffe in der Presse, und es gibt bloß leichtes Ge-
plänkel, aber sicherlich geht es auch wieder wie 1868, wo die eine oder an-
dere Partei erst am Vorabend der Wahlen mit Programm und Angriffen
auf die Gegner hervortrat, und es nicht mehr möglich war dieselben zu
widerlegen. Uebrigens dürfte unsere Landwehr noch rechtzeitig in die
Heimath zurückkehren um an diesen Wahlen theilzunehmen, und dieß
möchte manches ändern!

Die Optimisten haben Necht behalten, welche
dem kriegerischen Trotze Gambetta's und seiner Anhänger keine nachhal-
tige Wirkung beimaßen; Gambetta ist beiseite geschafft, und die allgemein
hervortretende Disposition der öffentlichen Meinung in Frankreich bürgt
dafür daß in sehr kurzer Zeit der gewaltige Krieg zwischen Deutschland
und Frankreich durch einen definitiven Friedensschluß sein Ende erreicht
haben wird. Damit wird Deutschland an einem bedeutsamen Abschnitt
seiner Entwicklung angelangt sein. Von dem Augenblick an in welchem
die "deutsche Frage" vor Europa trat, mußten die Fragen der auswärti-
gen Politik die öffentliche Meinung Deutschlands in erster Linie beschäfti-
gen. Mit dem Kriege von 1866 und dessen wunderbaren Erfolgen war
allerdings ein großer, vielleicht der schwierigste, Schritt zur Lösung jener
Frage gethan, und wenigstens so viel erreicht daß von innern Conflicten
eine ernste Gefährdung der neuen nationalen Organisation nicht mehr be-
fürchtet zu werden brauchte; um so sorgsamer hieß es aber dafür die Blicke
über die Gränzen hinaus richten, wo Mißgunst und Rachsucht unablässig
auf Mittel sannen um die neuerstandene große Schöpfung wieder zu zer-
trümmern. Das deutsche Volk und dessen Vertreter erkannten mit rich-
tigem Tact die bedrohte Stelle, und Zollparlament, Reichstag und Landtage
ließen gar oft ihre Bedenken gegen die von leitender Stelle zum innern Ausbau
des deutschen Einigungswerkes gestellten Vorschläge zurücktreten, um die Ac-
tion nach außen nicht zu gefährden, um im Ausland trügerische Hoffnun-
gen auf die unter der Asche der neuen Verträge fortglimmende innere Zwie-
tracht zu erwecken. Die Nothwendigkeit dieser Selbstverläugnung ist für
die Zukunft hinweggefallen; der letzte und gefährlichste Gegner der natio-
nalen Einigung Deutschlands liegt gebändigt zu den Füßen deutscher
Heere, und die deutsche Nation wird ihre häuslichen Angelegenheiten be-
stellen können ohne besorgen zu müssen daß Meinungsverschiedenheiten
[Spaltenumbruch] über innere Fragen von auswärtigen Gegnern als ein willkommener Hebel
für ihre Zwecke betrachtet werden. Als die Consequenz dieser geänderten
Lage wird sich unvermeidlich eine Verschiebung der Parteistandpunkte in
den parlamentarischen Körperschaften Deutschlands, namentlich aber im
Reichstag und im preußischen Landtag, herausstellen; ja es fehlt in letzte-
rem nicht an Symptomen daß jene Verschiebung hier bereits begonnen hat.
Sie besteht darin, und wird im Reichstage darin bestehen, daß jene Par-
teien welche der nationalen Politik zu liebe in vielen inneren Fragen
von ihren Principien abgiengen, nun neuerdings zu ihren Grundsätzen
zurückzukehren, und da dieß am häufigsten von Seiten der Conservativen
und der Nationalliberalen geschah, wird selbstverständlich auch die Schwen-
kung in diesen beiden Lagern sich am deutlichsten bemerkbar machen. Die Na-
tionalliberalen, für welche ja ohnehin nur die Jdee der deutschen Einigung
der verbindende Kitt gewesen, werden allem Anscheine nach bei diesem Pro-
ceß ganz und gar oder bis auf ein Minimum vom Schauplatze verschwinden,
um in verschiedenen liberalen Fractionen wieder aufzutauchen. Höchstens
dürfte ein Häuflein eingefleischter Centralisten sich nochmals unter der
alten Firma zusammenfinden, und hinter dem Aushängschild einheitstaat-
licher Tendenzen verschämt gouvernemental sein. Bei den Confervativen
dagegen dürfte sich der Frontwechsel viel langsamer, also minder auffällig,
aber darum um so gründlicher vollziehen. Die preußischen Conservativen
sind seit beinahe neun Jahren unbedingt gouvernemental gewesen; zuerst
weil die Regierung selbst eine conservative war, und seit 1866 weil sie
Parteibedenken höheren Rücksichten unterordnen zu müssen glaubten. Die
Partei, der es ohnedieß an hervorragenden energischen Führern fehlt, hat
durch ihre vieljährige Fügsamkeit die Kraft zu selbständigem Auftreten fast
verloren; aber sie beginnt sich zu sammeln, sie fühlt den Boden auch der
Zukunft unter ihren Füßen verschwinden, und macht gewaltige Anstren-
gungen um sich wieder zu finden und im äußersten Fall wenigstens für
jene Zeit zu reorganisiren in welcher nach den liberalen Experimenten der
Gegenwart und vielleicht einer nahen Zukunft auf die erhaltende Kraft
conservativer Principien wird zurückgegriffen werden müssen. Und wer
es nicht für möglich halten sollte daß die conservative Partei in Preußen
darnach strebe wieder auf eigenen Füßen zu stehen, wird sich vielleicht durch
die Abstimmung über das am 6 d. im Abgeordnetenhaus erledigte Gesetz
betreffs der hannoverischen Volksschulen eines bessern belehren lassen, in wel-
cher die Conservativen gegen Hrn. v. Mühler und gegen die Regierungsvor-
lage stimmten, die zwar nur die allgemeine in Preußen geltende Bestim-
mung der Unterordnung der Volksschulen unter das Cultusministerium
auch auf die Provinz Hannover ausdehnt, beziehungsweise die hanno-
verischen Volksschulen von der Oberaufsicht der Consistorien emancipirt,
aber dessenungeachtet von den Conservativen als eine nicht unbedingt ge-
botene und darum überflüssige Neuerung abgelehnt wurde.



Italien.

Schon seit fünf Tagen ist die Kammer in
die Specialdiscussion des Gesetzes vom Papst und von der Kirche getreten,
und nach fünf Tagen hat sie bereits zwei Artikeln des ersten Titels, der
von den Prärogativen des Papstes und des hl. Stuhles handelt, ihre Ge-
nehmigung ertheilt. Eigentlich hat sich sogar diese fünftägige Verhand-
lung nur um einen Artikel, den zweiten, gedreht, denn die Genehmigung
des ersten ist rasch und glatt abgegangen. Dieser erste Artikel lautet:
,Die Person des Papstes ist heilig und unverletzlich." Der Artikel 4 der
,italienischen Verfassung lautet: "Die Person des Königs ist heilig und
unverletzlich." Das italienische Staatsrecht wird also fortan zwei heilige
und unverletzliche Personen kennen; während aber für die Handlungen
des heiligen und unverletzlichen Königs verantwortliche Minister haften,
trägt niemand die Verantwortung für die Handlungen des heiligen und
unverletzlichen Papstes, und während der König durch sein eigenes Jn-
teresse, durch das Jnteresse seiner Dynastie abgehalten wird von jeder
Handlung welche die Wohlfahrt des Staates zu gefährden vermöchte, hat
der Papst keinen Grund das Jnteresse des Papstthums mit dem Jnteresse
des Königreichs Jtalien zu identificiren. Dennoch hat die Heiligkeit und
Unverletzlichkeit der Person des Papstes ohne sonderliche Mühe die Aner-
kennung der italienischen Kammer gesunden; bei solch einer allgemeinen
Redensart, wie diese des Art. 1, welche so ungeheuer viel sagt, denkt man
sich nichts bestimmtes, und so läßt man sie passiren, ohne erst zu unter-
suchen wie viel Samen einer schlimmen und gefährlichen Praxis sie viel-
leicht in ihrem weiten abstracten Kleide verbirgt. Aber die Bedenken stell-
ten sich sofort ein bei Art. 2, welcher eben die erste concrete Anwendung
des in Art. 1 enthaltenen allgemeinen Satzes darstellt. Dieser Art. 2
lautete in der ursprünglichen Fassung des Commissionsentwurfes so: "Die
Strafandrohungen für die Vergehen gegen die Person des Königs sind
anwendbar und werden ausgedehnt auf die Vergehen gegen die Person des
Papstes." Aber noch ehe die Discussion begann, erkannte die Commission daß

[Spaltenumbruch] roſig ſind aber unſere Hoffnungen nicht, und der Wahltag möchte doch
allerlei Enttäuſchungen bringen. Vorerſt iſt es uns auffallend daß man
dieſelben Namen für verſchiedene Bezirke in Vorſchlag brachte, um doch in
einem zu ſiegen; dann daß dieſe Partei für mehrere Bezirke gar keine
Candidaten aufſtellte, wie für den vierzehnten, und ſodann daß man zu
den eigenartigſten Vorſchlägen griff um den Gegnern den Rang abzulau-
fen. So weiß man daß zwei verbündete Parteien für den Bezirk Karls-
ruhe-Bruchſal den Grafen v. Berlichingen vorſchlagen und durchbringen
wollen, und man hat nun durch das Bürgermeiſteramt zur Vereitelung
dieſer Wahl den Prinzen Wilhelm empfohlen, weil man glaubt daß die
Wähler ſich ſcheuen werden einen anderen als den Vorgeſchlagenen zu
wählen. Wir meinen freilich, Baden ſei das letzte Land das unter ſeinen
vierzehn Candidaten einen Prinzen, und zwar den Bruder des Großherzogs,
vorzuſchlagen habe, da ja die Regierung ſchon hinlänglich im Bundesrathe
vertreten iſt; aber das Karlsruher Beiſpiel hat ſofort in einer Nachbar-
ſtadt gewirkt, denn in Baden haben Bürgermeiſter und Staatsanwalt, die
nun damit endlich offen ſchwarz-feudale Farbe bekannten, den Fürſten
von Fürſtenberg in Vorſchlag gebracht, der bekanntlich als Vorſtand des
Mediatiſirten-Vereins ſeit Jahren nichts weniger als Zurückeroberung
aller bis 1803 beſeſſenen feudalen Vorrechte erſtrebte. Dem gegenüber
hat man darauf hingewieſen die Reſidenz des Fürſten werde ihn wohl
beſſer kennen und allenfalls ſelbſt behalten, und den Oberſchulrathsdirec-
tor Renck in Vorſchlag gebracht, ein bisheriges Kammermitglied, von dem
aber zur Zeit nichts hervorragendes bekannt wurde. Für Vretten-Eppin-
gen hat Bluntſchli eine Wiederwahl abgelehnt, und er mochte damit ſehr
Recht haben; für Mannheim iſt Lamey in Vorſchlag, wird aber gegenüber
der demokratiſchen Oberherrſchaft ſchwerlich durchdringen. Für Heidelberg
candidirt Kiefer, ferner ſind noch Candidaten Eckhard, Kirsner u. A. Wie
geſagt, feſt ſteht noch nichts, und man muß erſt abwarten was die ultra-
montane Partei beginnt, denn ſie iſt ungemein thätig und wirkt mehr im
ſtillen. Was ſie aber vom neuen Kaiſerthum erwartet und erſtrebt, gibt ſie
in ihrem Hauptorgan zu naiv kund um deſſen nicht zu gedenken. Nach dem
„Beobachter“ hat nämlich der deutſche Kaiſer, da die Rechtscontinuität des
deutſchen Rechts aus dem Reichsdeputations-Hauptſchluß von 1803 wieder
erſtehe(!), als Hauptpflicht zu übernehmen den Papſt und die Rechte der katho-
liſchen Kirche zu ſchützen, und der letzteren folgende Rechte zu erſtreiten: der
kirchlichen Aemterbeſetzung, der Bildung, reſp. Prüfung der Geiſtlichen, Frei-
heit der religiöſen Vereine (Orden), katholiſche Heranbildungder Jugend, Auf-
hebung der Zwangscivilehe, geiſtliche Verwaltung der Schul-, Armen-,
Kranken- und Waiſenſtiftungen u. ſ. w. Jm allgemeinen ſchweigen noch
die gegenſeitigen Angriffe in der Preſſe, und es gibt bloß leichtes Ge-
plänkel, aber ſicherlich geht es auch wieder wie 1868, wo die eine oder an-
dere Partei erſt am Vorabend der Wahlen mit Programm und Angriffen
auf die Gegner hervortrat, und es nicht mehr möglich war dieſelben zu
widerlegen. Uebrigens dürfte unſere Landwehr noch rechtzeitig in die
Heimath zurückkehren um an dieſen Wahlen theilzunehmen, und dieß
möchte manches ändern!

Die Optimiſten haben Necht behalten, welche
dem kriegeriſchen Trotze Gambetta’s und ſeiner Anhänger keine nachhal-
tige Wirkung beimaßen; Gambetta iſt beiſeite geſchafft, und die allgemein
hervortretende Dispoſition der öffentlichen Meinung in Frankreich bürgt
dafür daß in ſehr kurzer Zeit der gewaltige Krieg zwiſchen Deutſchland
und Frankreich durch einen definitiven Friedensſchluß ſein Ende erreicht
haben wird. Damit wird Deutſchland an einem bedeutſamen Abſchnitt
ſeiner Entwicklung angelangt ſein. Von dem Augenblick an in welchem
die „deutſche Frage“ vor Europa trat, mußten die Fragen der auswärti-
gen Politik die öffentliche Meinung Deutſchlands in erſter Linie beſchäfti-
gen. Mit dem Kriege von 1866 und deſſen wunderbaren Erfolgen war
allerdings ein großer, vielleicht der ſchwierigſte, Schritt zur Löſung jener
Frage gethan, und wenigſtens ſo viel erreicht daß von innern Conflicten
eine ernſte Gefährdung der neuen nationalen Organiſation nicht mehr be-
fürchtet zu werden brauchte; um ſo ſorgſamer hieß es aber dafür die Blicke
über die Gränzen hinaus richten, wo Mißgunſt und Rachſucht unabläſſig
auf Mittel ſannen um die neuerſtandene große Schöpfung wieder zu zer-
trümmern. Das deutſche Volk und deſſen Vertreter erkannten mit rich-
tigem Tact die bedrohte Stelle, und Zollparlament, Reichstag und Landtage
ließen gar oft ihre Bedenken gegen die von leitender Stelle zum innern Ausbau
des deutſchen Einigungswerkes geſtellten Vorſchläge zurücktreten, um die Ac-
tion nach außen nicht zu gefährden, um im Ausland trügeriſche Hoffnun-
gen auf die unter der Aſche der neuen Verträge fortglimmende innere Zwie-
tracht zu erwecken. Die Nothwendigkeit dieſer Selbſtverläugnung iſt für
die Zukunft hinweggefallen; der letzte und gefährlichſte Gegner der natio-
nalen Einigung Deutſchlands liegt gebändigt zu den Füßen deutſcher
Heere, und die deutſche Nation wird ihre häuslichen Angelegenheiten be-
ſtellen können ohne beſorgen zu müſſen daß Meinungsverſchiedenheiten
[Spaltenumbruch] über innere Fragen von auswärtigen Gegnern als ein willkommener Hebel
für ihre Zwecke betrachtet werden. Als die Conſequenz dieſer geänderten
Lage wird ſich unvermeidlich eine Verſchiebung der Parteiſtandpunkte in
den parlamentariſchen Körperſchaften Deutſchlands, namentlich aber im
Reichstag und im preußiſchen Landtag, herausſtellen; ja es fehlt in letzte-
rem nicht an Symptomen daß jene Verſchiebung hier bereits begonnen hat.
Sie beſteht darin, und wird im Reichstage darin beſtehen, daß jene Par-
teien welche der nationalen Politik zu liebe in vielen inneren Fragen
von ihren Principien abgiengen, nun neuerdings zu ihren Grundſätzen
zurückzukehren, und da dieß am häufigſten von Seiten der Conſervativen
und der Nationalliberalen geſchah, wird ſelbſtverſtändlich auch die Schwen-
kung in dieſen beiden Lagern ſich am deutlichſten bemerkbar machen. Die Na-
tionalliberalen, für welche ja ohnehin nur die Jdee der deutſchen Einigung
der verbindende Kitt geweſen, werden allem Anſcheine nach bei dieſem Pro-
ceß ganz und gar oder bis auf ein Minimum vom Schauplatze verſchwinden,
um in verſchiedenen liberalen Fractionen wieder aufzutauchen. Höchſtens
dürfte ein Häuflein eingefleiſchter Centraliſten ſich nochmals unter der
alten Firma zuſammenfinden, und hinter dem Aushängſchild einheitſtaat-
licher Tendenzen verſchämt gouvernemental ſein. Bei den Confervativen
dagegen dürfte ſich der Frontwechſel viel langſamer, alſo minder auffällig,
aber darum um ſo gründlicher vollziehen. Die preußiſchen Conſervativen
ſind ſeit beinahe neun Jahren unbedingt gouvernemental geweſen; zuerſt
weil die Regierung ſelbſt eine conſervative war, und ſeit 1866 weil ſie
Parteibedenken höheren Rückſichten unterordnen zu müſſen glaubten. Die
Partei, der es ohnedieß an hervorragenden energiſchen Führern fehlt, hat
durch ihre vieljährige Fügſamkeit die Kraft zu ſelbſtändigem Auftreten faſt
verloren; aber ſie beginnt ſich zu ſammeln, ſie fühlt den Boden auch der
Zukunft unter ihren Füßen verſchwinden, und macht gewaltige Anſtren-
gungen um ſich wieder zu finden und im äußerſten Fall wenigſtens für
jene Zeit zu reorganiſiren in welcher nach den liberalen Experimenten der
Gegenwart und vielleicht einer nahen Zukunft auf die erhaltende Kraft
conſervativer Principien wird zurückgegriffen werden müſſen. Und wer
es nicht für möglich halten ſollte daß die conſervative Partei in Preußen
darnach ſtrebe wieder auf eigenen Füßen zu ſtehen, wird ſich vielleicht durch
die Abſtimmung über das am 6 d. im Abgeordnetenhaus erledigte Geſetz
betreffs der hannoveriſchen Volksſchulen eines beſſern belehren laſſen, in wel-
cher die Conſervativen gegen Hrn. v. Mühler und gegen die Regierungsvor-
lage ſtimmten, die zwar nur die allgemeine in Preußen geltende Beſtim-
mung der Unterordnung der Volksſchulen unter das Cultusminiſterium
auch auf die Provinz Hannover ausdehnt, beziehungsweiſe die hanno-
veriſchen Volksſchulen von der Oberaufſicht der Conſiſtorien emancipirt,
aber deſſenungeachtet von den Conſervativen als eine nicht unbedingt ge-
botene und darum überflüſſige Neuerung abgelehnt wurde.



Italien.

Schon ſeit fünf Tagen iſt die Kammer in
die Specialdiscuſſion des Geſetzes vom Papſt und von der Kirche getreten,
und nach fünf Tagen hat ſie bereits zwei Artikeln des erſten Titels, der
von den Prärogativen des Papſtes und des hl. Stuhles handelt, ihre Ge-
nehmigung ertheilt. Eigentlich hat ſich ſogar dieſe fünftägige Verhand-
lung nur um einen Artikel, den zweiten, gedreht, denn die Genehmigung
des erſten iſt raſch und glatt abgegangen. Dieſer erſte Artikel lautet:
‚Die Perſon des Papſtes iſt heilig und unverletzlich.“ Der Artikel 4 der
‚italieniſchen Verfaſſung lautet: „Die Perſon des Königs iſt heilig und
unverletzlich.“ Das italieniſche Staatsrecht wird alſo fortan zwei heilige
und unverletzliche Perſonen kennen; während aber für die Handlungen
des heiligen und unverletzlichen Königs verantwortliche Miniſter haften,
trägt niemand die Verantwortung für die Handlungen des heiligen und
unverletzlichen Papſtes, und während der König durch ſein eigenes Jn-
tereſſe, durch das Jntereſſe ſeiner Dynaſtie abgehalten wird von jeder
Handlung welche die Wohlfahrt des Staates zu gefährden vermöchte, hat
der Papſt keinen Grund das Jntereſſe des Papſtthums mit dem Jntereſſe
des Königreichs Jtalien zu identificiren. Dennoch hat die Heiligkeit und
Unverletzlichkeit der Perſon des Papſtes ohne ſonderliche Mühe die Aner-
kennung der italieniſchen Kammer geſunden; bei ſolch einer allgemeinen
Redensart, wie dieſe des Art. 1, welche ſo ungeheuer viel ſagt, denkt man
ſich nichts beſtimmtes, und ſo läßt man ſie paſſiren, ohne erſt zu unter-
ſuchen wie viel Samen einer ſchlimmen und gefährlichen Praxis ſie viel-
leicht in ihrem weiten abſtracten Kleide verbirgt. Aber die Bedenken ſtell-
ten ſich ſofort ein bei Art. 2, welcher eben die erſte concrete Anwendung
des in Art. 1 enthaltenen allgemeinen Satzes darſtellt. Dieſer Art. 2
lautete in der urſprünglichen Faſſung des Commiſſionsentwurfes ſo: „Die
Strafandrohungen für die Vergehen gegen die Perſon des Königs ſind
anwendbar und werden ausgedehnt auf die Vergehen gegen die Perſon des
Papſtes.“ Aber noch ehe die Discuſſion begann, erkannte die Commiſſion daß

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[758/0018] roſig ſind aber unſere Hoffnungen nicht, und der Wahltag möchte doch allerlei Enttäuſchungen bringen. Vorerſt iſt es uns auffallend daß man dieſelben Namen für verſchiedene Bezirke in Vorſchlag brachte, um doch in einem zu ſiegen; dann daß dieſe Partei für mehrere Bezirke gar keine Candidaten aufſtellte, wie für den vierzehnten, und ſodann daß man zu den eigenartigſten Vorſchlägen griff um den Gegnern den Rang abzulau- fen. So weiß man daß zwei verbündete Parteien für den Bezirk Karls- ruhe-Bruchſal den Grafen v. Berlichingen vorſchlagen und durchbringen wollen, und man hat nun durch das Bürgermeiſteramt zur Vereitelung dieſer Wahl den Prinzen Wilhelm empfohlen, weil man glaubt daß die Wähler ſich ſcheuen werden einen anderen als den Vorgeſchlagenen zu wählen. Wir meinen freilich, Baden ſei das letzte Land das unter ſeinen vierzehn Candidaten einen Prinzen, und zwar den Bruder des Großherzogs, vorzuſchlagen habe, da ja die Regierung ſchon hinlänglich im Bundesrathe vertreten iſt; aber das Karlsruher Beiſpiel hat ſofort in einer Nachbar- ſtadt gewirkt, denn in Baden haben Bürgermeiſter und Staatsanwalt, die nun damit endlich offen ſchwarz-feudale Farbe bekannten, den Fürſten von Fürſtenberg in Vorſchlag gebracht, der bekanntlich als Vorſtand des Mediatiſirten-Vereins ſeit Jahren nichts weniger als Zurückeroberung aller bis 1803 beſeſſenen feudalen Vorrechte erſtrebte. Dem gegenüber hat man darauf hingewieſen die Reſidenz des Fürſten werde ihn wohl beſſer kennen und allenfalls ſelbſt behalten, und den Oberſchulrathsdirec- tor Renck in Vorſchlag gebracht, ein bisheriges Kammermitglied, von dem aber zur Zeit nichts hervorragendes bekannt wurde. Für Vretten-Eppin- gen hat Bluntſchli eine Wiederwahl abgelehnt, und er mochte damit ſehr Recht haben; für Mannheim iſt Lamey in Vorſchlag, wird aber gegenüber der demokratiſchen Oberherrſchaft ſchwerlich durchdringen. Für Heidelberg candidirt Kiefer, ferner ſind noch Candidaten Eckhard, Kirsner u. A. Wie geſagt, feſt ſteht noch nichts, und man muß erſt abwarten was die ultra- montane Partei beginnt, denn ſie iſt ungemein thätig und wirkt mehr im ſtillen. Was ſie aber vom neuen Kaiſerthum erwartet und erſtrebt, gibt ſie in ihrem Hauptorgan zu naiv kund um deſſen nicht zu gedenken. Nach dem „Beobachter“ hat nämlich der deutſche Kaiſer, da die Rechtscontinuität des deutſchen Rechts aus dem Reichsdeputations-Hauptſchluß von 1803 wieder erſtehe(!), als Hauptpflicht zu übernehmen den Papſt und die Rechte der katho- liſchen Kirche zu ſchützen, und der letzteren folgende Rechte zu erſtreiten: der kirchlichen Aemterbeſetzung, der Bildung, reſp. Prüfung der Geiſtlichen, Frei- heit der religiöſen Vereine (Orden), katholiſche Heranbildungder Jugend, Auf- hebung der Zwangscivilehe, geiſtliche Verwaltung der Schul-, Armen-, Kranken- und Waiſenſtiftungen u. ſ. w. Jm allgemeinen ſchweigen noch die gegenſeitigen Angriffe in der Preſſe, und es gibt bloß leichtes Ge- plänkel, aber ſicherlich geht es auch wieder wie 1868, wo die eine oder an- dere Partei erſt am Vorabend der Wahlen mit Programm und Angriffen auf die Gegner hervortrat, und es nicht mehr möglich war dieſelben zu widerlegen. Uebrigens dürfte unſere Landwehr noch rechtzeitig in die Heimath zurückkehren um an dieſen Wahlen theilzunehmen, und dieß möchte manches ändern! # Berlin, 8 Febr. Die Optimiſten haben Necht behalten, welche dem kriegeriſchen Trotze Gambetta’s und ſeiner Anhänger keine nachhal- tige Wirkung beimaßen; Gambetta iſt beiſeite geſchafft, und die allgemein hervortretende Dispoſition der öffentlichen Meinung in Frankreich bürgt dafür daß in ſehr kurzer Zeit der gewaltige Krieg zwiſchen Deutſchland und Frankreich durch einen definitiven Friedensſchluß ſein Ende erreicht haben wird. Damit wird Deutſchland an einem bedeutſamen Abſchnitt ſeiner Entwicklung angelangt ſein. Von dem Augenblick an in welchem die „deutſche Frage“ vor Europa trat, mußten die Fragen der auswärti- gen Politik die öffentliche Meinung Deutſchlands in erſter Linie beſchäfti- gen. Mit dem Kriege von 1866 und deſſen wunderbaren Erfolgen war allerdings ein großer, vielleicht der ſchwierigſte, Schritt zur Löſung jener Frage gethan, und wenigſtens ſo viel erreicht daß von innern Conflicten eine ernſte Gefährdung der neuen nationalen Organiſation nicht mehr be- fürchtet zu werden brauchte; um ſo ſorgſamer hieß es aber dafür die Blicke über die Gränzen hinaus richten, wo Mißgunſt und Rachſucht unabläſſig auf Mittel ſannen um die neuerſtandene große Schöpfung wieder zu zer- trümmern. Das deutſche Volk und deſſen Vertreter erkannten mit rich- tigem Tact die bedrohte Stelle, und Zollparlament, Reichstag und Landtage ließen gar oft ihre Bedenken gegen die von leitender Stelle zum innern Ausbau des deutſchen Einigungswerkes geſtellten Vorſchläge zurücktreten, um die Ac- tion nach außen nicht zu gefährden, um im Ausland trügeriſche Hoffnun- gen auf die unter der Aſche der neuen Verträge fortglimmende innere Zwie- tracht zu erwecken. Die Nothwendigkeit dieſer Selbſtverläugnung iſt für die Zukunft hinweggefallen; der letzte und gefährlichſte Gegner der natio- nalen Einigung Deutſchlands liegt gebändigt zu den Füßen deutſcher Heere, und die deutſche Nation wird ihre häuslichen Angelegenheiten be- ſtellen können ohne beſorgen zu müſſen daß Meinungsverſchiedenheiten über innere Fragen von auswärtigen Gegnern als ein willkommener Hebel für ihre Zwecke betrachtet werden. Als die Conſequenz dieſer geänderten Lage wird ſich unvermeidlich eine Verſchiebung der Parteiſtandpunkte in den parlamentariſchen Körperſchaften Deutſchlands, namentlich aber im Reichstag und im preußiſchen Landtag, herausſtellen; ja es fehlt in letzte- rem nicht an Symptomen daß jene Verſchiebung hier bereits begonnen hat. 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Bei den Confervativen dagegen dürfte ſich der Frontwechſel viel langſamer, alſo minder auffällig, aber darum um ſo gründlicher vollziehen. Die preußiſchen Conſervativen ſind ſeit beinahe neun Jahren unbedingt gouvernemental geweſen; zuerſt weil die Regierung ſelbſt eine conſervative war, und ſeit 1866 weil ſie Parteibedenken höheren Rückſichten unterordnen zu müſſen glaubten. Die Partei, der es ohnedieß an hervorragenden energiſchen Führern fehlt, hat durch ihre vieljährige Fügſamkeit die Kraft zu ſelbſtändigem Auftreten faſt verloren; aber ſie beginnt ſich zu ſammeln, ſie fühlt den Boden auch der Zukunft unter ihren Füßen verſchwinden, und macht gewaltige Anſtren- gungen um ſich wieder zu finden und im äußerſten Fall wenigſtens für jene Zeit zu reorganiſiren in welcher nach den liberalen Experimenten der Gegenwart und vielleicht einer nahen Zukunft auf die erhaltende Kraft conſervativer Principien wird zurückgegriffen werden müſſen. 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Schon ſeit fünf Tagen iſt die Kammer in die Specialdiscuſſion des Geſetzes vom Papſt und von der Kirche getreten, und nach fünf Tagen hat ſie bereits zwei Artikeln des erſten Titels, der von den Prärogativen des Papſtes und des hl. Stuhles handelt, ihre Ge- nehmigung ertheilt. Eigentlich hat ſich ſogar dieſe fünftägige Verhand- lung nur um einen Artikel, den zweiten, gedreht, denn die Genehmigung des erſten iſt raſch und glatt abgegangen. Dieſer erſte Artikel lautet: ‚Die Perſon des Papſtes iſt heilig und unverletzlich.“ Der Artikel 4 der ‚italieniſchen Verfaſſung lautet: „Die Perſon des Königs iſt heilig und unverletzlich.“ Das italieniſche Staatsrecht wird alſo fortan zwei heilige und unverletzliche Perſonen kennen; während aber für die Handlungen des heiligen und unverletzlichen Königs verantwortliche Miniſter haften, trägt niemand die Verantwortung für die Handlungen des heiligen und unverletzlichen Papſtes, und während der König durch ſein eigenes Jn- tereſſe, durch das Jntereſſe ſeiner Dynaſtie abgehalten wird von jeder Handlung welche die Wohlfahrt des Staates zu gefährden vermöchte, hat der Papſt keinen Grund das Jntereſſe des Papſtthums mit dem Jntereſſe des Königreichs Jtalien zu identificiren. 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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 45, 14. Februar 1871, S. 758. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine45_1871/18>, abgerufen am 23.11.2024.