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Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 9. Mai 1920.

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Allgemeine Zeitung 9. Mai 1920
[Spaltenumbruch]
Die Inokulation der Liebe.

An den Herrn Kreissteuereinnehmer Weiße in Leipzig.

*)
Wie selten fällt des jungen Dichters Wahl
Auf den Gesang, den ihm sein Herz empfahl,
Singt einer auch von Amors Abenteuern:
So stimmen hundert ihre Leiern
Auf den Trompetenton der festlichen Moral,
Und jeder schreit mit anderen Schreiern
Und mancher Harlekin wagt einen Todessprung
In seiner ersten Angst zu dem erhab'nen Young
Und tändelt voller Ernst mit allen Ungeheuern
Der Schwermut, spornt sich selbst zu Rasereien an,
Schweift in die Gegenden der Freuden ein -- und stürzet
Mit Murren auf den Wandersmann,
Der durch ein Lied, das ihm sein Genius ersann,
Sich sorglos seinen Weg verkürzet. --
Wie reizend stell ich mir die freien sichern Zeiten
Horazens und Properzens vor,
Wo nie ein Mensch um andere Menschlichkeiten
Das Maul verzog und nur ein Wort verlor.
Man rechnete dem Dichter seine Lieder
Nicht für Verbrechen an, und Cicero rief nicht:
"Wer einen Wieland, lieben Brüder,
&q;Wer einen Wieland liest, der ist ein Bösewicht!"
Es lebe Billigkeit! Ich räche
An andern niemals eine Schwäche,
Die ich selbst nicht besiegen kann,
Und sehe diese Welt gern für ein Gasthaus an,
Das jedem offen steht. -- Wer sprechen will, der spreche.
Hier ist für jedermann ein voller Tisch gedeckt:
Ein jeder esse, was ihm schmeckt,
Und jeder zahle seine Zeche!
Auch ich, ich höre gern die Sprache des Gefühls
Der Mädchen, die nun, satt des langen Kinderspiels,
Den erst erwachten Wunsch erwärmter Herzen stammeln;
Und siehe gern, wie nach und nach
Sie von dem Leitband' an bis in das Brautgemach
Empfindungen der Freude sammeln:
Und überrasche gern die Unerfahrenheit,
Mit der Natur und Lieb' im Streit. --
Freund, den die Scherze gern zu ihrem Dichter wählen,
Der zur Erholung auch nach langem Ernste lacht;
So einen Streit laß dir erzählen!
Ein Mann von Welt wie du, wird nicht gleich bitter
schmählen,
Wenn es die Muse so wie uns're Damen macht:
Die zieh'n -- wer weiß es nicht? -- Bescheidenheit dem
Schimmer
Des allzufreien Putzes vor:
Doch deckt ihr schönster Teil sich immer
Am liebsten mit dem dünnsten Flor.
*
Da, wo der dunkle Strom des Maines
Sich in den hellern Rhein verlieri,
Wo nebst dem Gott des deutschen Weines
Der erste Fürst des Reichs regiert:
Nicht weit von Mainz -- damit es jeder wisse,
Wer sich auf Politik und Flüsse
Und gute Weine nicht versteht, --
Da lebte, kürzlich noch, dem fetten Vaterlande,
Dem Adel und der Welt zur Schande,
Ein altes, geiziges, stiftmäßiges Skelett:
Ich nenn es Harpagon. -- In seinen jüngern Jahren
Kam ihm die Grille, sich zu paaren,
Aus Liebe nicht, aus Raubsucht ein. Er stahl
Zwei Tonnen Golds durch seine schlaue Wahl:
Denn seine Ehe war nichts weiter,
Als nur ein Einbruch ohne Leiter,
Bei dem er noch vor der Gefahr
[Spaltenumbruch] Gehenkt zu werden sicher war.
Gewinst genug für ihn, um eine Art von Drachen
Jn seinem Raum zu machen!
Es segnete kein Mensch den neuen Ehestand,
Den Trauungssegen ausgenommen.
Gott, welch ein Paar! rief man durchs ganze Land,
Was werden erst für Kinder kommen!
Dies Urteil war sehr übereilt gefällt.
Es kam ein Mädchen an, allein man mußte sagen,
So schön, als an den Hochzeitstagen
Sich keine Seele vorgestellt.
Es hatte kaum die Augen aufgeschlagen,
So starb die Mutter schon, da sie zum Glück der Welt
Das Jhrige nun beigetragen. --
Das Kind zog jedermann mit bittendem Geschrei,
Nur seinen Vater nicht herbei. --
Der arme Mann! wie kann man das begehren?
Er saß, ganz blind von vielen Zähren
Und überrechnete genau
Was zu der Reise einer Frau
Jn jene Welt für Kosten nötig wären?
Man stelle sich nur vor, wie so ein Tod zerstreut!
Bald ängstigt ihn die Pflicht, sie ehrlich zu begraben
Und bald durchschauert ihn in seiner Einsamkeit
Das mächtige Gefühl, sie überlebt zu haben.
Halb froh, halb ängstlich, wie ein Dieb,
Verglich er das, was ihm zurücke blieb,
Und was er ihr zu lassen hätte.
Er stahl der toten Frau die Hälfte von dem Bette,
Schloß jede Kleinigkeit von ihrem Nachlaß ein
Und ließ sein Töchterchen nach fremder Hilfe schrei'n.
Manch' Mädchen lief herbei und hatte zwar den Willen
Allein sonst nichts, das Kind zu stillen:
Der Himmel mag Vergelter sein! --
Zuletzt erschien ein Weib mit tätiger'm Erbarmen,
Bat weinend sich das Kind von seinem Vater aus.
"Nehmt's hin, wenn's Euch gefällt, ich mache mir nichts
draus." --
Die Alte nahms und trug's mit schmeichelhaften Armen
Jn ihr armselig Bauernhaus. --
Der Alberne, der Ungerechte
War hier zum ersten Mal für seinen Vorteil blind.
Jch wüßte nicht, was so geschwind
Für eine süße Müh so viele Freude brächte,
Als ein gesundes, hübsches Kind,
Zumal vom weiblichen Geschlechte. --
Von Tag zu Tag entwickelt sich
Ein neuer Reiz in seinen sanften Zügen.
Sei Vater oder Freund, stets überrascht es dich
Mit einem menschlichern Vergnügen!
Die Wollust kannt' er nicht. -- Das gute Bauernweib
Nahm das verlass'ne Kind zu ihrem Zeitvertreib
Für ein geringes Kostgeld über.
Mit Seufzen zahlt er's aus, zur Nahrung für den Leib --
Und für die Seele? -- Keinen Stüber!
Wenn man, dacht er, den Körper nur erhält,
Was kann die Seele noch verlangen?
Wer weiß es, sitzt die nicht zur Straf' in dieser Welt
Gleich einem Züchtlinge wie auf den Bau gefangen.
Die Alte nahm so gut sich dieses Mädchens an,
Als jemals eine Fee getan.
Jch könnte viel davon erzählen:
Doch will ich nur ein Beispiel wählen,
Von dem man weiter schließen kann.
Es herrschte in dem Dorf ein alter Aberglaube,
Für jedes Kind ein Bäumchen zu erzieh'n.
Die Alte, der ein Baum noch viel zu wenig schien,
Pflanzt' für ihr Fräulein eine Laube
Von jungem sprossenden Jasmin.
Die Anstalt war sehr gut: denn alle Mädchen hatten
Nach fünfzehn Jahren ihren Schatten:
Die Mühe war gering, doch eine Kleinigkeit
Kommt manchmal in der Folgezeit
Den guten Kindern wohl zustatten.

(Fortsetzung folgt.)


*) Moritz August von Thümmel, geb. 27. Mai 1738 in Schöne-
feld bei Leipzig, gest. 26. Oktober 1817 in Koburg. Diese Dich-
tung erschien im Jahre 1772 und ist uns heute, noch ein köstliches
Zeugnis klangvoller Sprachschönheit. Die Schriftleitung.
Allgemeine Zeitung 9. Mai 1920
[Spaltenumbruch]
Die Inokulation der Liebe.

An den Herrn Kreisſteuereinnehmer Weiße in Leipzig.

*)
Wie ſelten fällt des jungen Dichters Wahl
Auf den Geſang, den ihm ſein Herz empfahl,
Singt einer auch von Amors Abenteuern:
So ſtimmen hundert ihre Leiern
Auf den Trompetenton der feſtlichen Moral,
Und jeder ſchreit mit anderen Schreiern
Und mancher Harlekin wagt einen Todesſprung
In ſeiner erſten Angſt zu dem erhab’nen Young
Und tändelt voller Ernſt mit allen Ungeheuern
Der Schwermut, ſpornt ſich ſelbſt zu Raſereien an,
Schweift in die Gegenden der Freuden ein — und ſtürzet
Mit Murren auf den Wandersmann,
Der durch ein Lied, das ihm ſein Genius erſann,
Sich ſorglos ſeinen Weg verkürzet. —
Wie reizend ſtell ich mir die freien ſichern Zeiten
Horazens und Properzens vor,
Wo nie ein Menſch um andere Menſchlichkeiten
Das Maul verzog und nur ein Wort verlor.
Man rechnete dem Dichter ſeine Lieder
Nicht für Verbrechen an, und Cicero rief nicht:
„Wer einen Wieland, lieben Brüder,
&q;Wer einen Wieland lieſt, der iſt ein Böſewicht!“
Es lebe Billigkeit! Ich räche
An andern niemals eine Schwäche,
Die ich ſelbſt nicht beſiegen kann,
Und ſehe dieſe Welt gern für ein Gaſthaus an,
Das jedem offen ſteht. — Wer ſprechen will, der ſpreche.
Hier iſt für jedermann ein voller Tiſch gedeckt:
Ein jeder eſſe, was ihm ſchmeckt,
Und jeder zahle ſeine Zeche!
Auch ich, ich höre gern die Sprache des Gefühls
Der Mädchen, die nun, ſatt des langen Kinderſpiels,
Den erſt erwachten Wunſch erwärmter Herzen ſtammeln;
Und ſiehe gern, wie nach und nach
Sie von dem Leitband’ an bis in das Brautgemach
Empfindungen der Freude ſammeln:
Und überraſche gern die Unerfahrenheit,
Mit der Natur und Lieb’ im Streit. —
Freund, den die Scherze gern zu ihrem Dichter wählen,
Der zur Erholung auch nach langem Ernſte lacht;
So einen Streit laß dir erzählen!
Ein Mann von Welt wie du, wird nicht gleich bitter
ſchmählen,
Wenn es die Muſe ſo wie unſ’re Damen macht:
Die zieh’n — wer weiß es nicht? — Beſcheidenheit dem
Schimmer
Des allzufreien Putzes vor:
Doch deckt ihr ſchönſter Teil ſich immer
Am liebſten mit dem dünnſten Flor.
*
Da, wo der dunkle Strom des Maines
Sich in den hellern Rhein verlieri,
Wo nebſt dem Gott des deutſchen Weines
Der erſte Fürſt des Reichs regiert:
Nicht weit von Mainz — damit es jeder wiſſe,
Wer ſich auf Politik und Flüſſe
Und gute Weine nicht verſteht, —
Da lebte, kürzlich noch, dem fetten Vaterlande,
Dem Adel und der Welt zur Schande,
Ein altes, geiziges, ſtiftmäßiges Skelett:
Ich nenn es Harpagon. — In ſeinen jüngern Jahren
Kam ihm die Grille, ſich zu paaren,
Aus Liebe nicht, aus Raubſucht ein. Er ſtahl
Zwei Tonnen Golds durch ſeine ſchlaue Wahl:
Denn ſeine Ehe war nichts weiter,
Als nur ein Einbruch ohne Leiter,
Bei dem er noch vor der Gefahr
[Spaltenumbruch] Gehenkt zu werden ſicher war.
Gewinſt genug für ihn, um eine Art von Drachen
Jn ſeinem Raum zu machen!
Es ſegnete kein Menſch den neuen Eheſtand,
Den Trauungsſegen ausgenommen.
Gott, welch ein Paar! rief man durchs ganze Land,
Was werden erſt für Kinder kommen!
Dies Urteil war ſehr übereilt gefällt.
Es kam ein Mädchen an, allein man mußte ſagen,
So ſchön, als an den Hochzeitstagen
Sich keine Seele vorgeſtellt.
Es hatte kaum die Augen aufgeſchlagen,
So ſtarb die Mutter ſchon, da ſie zum Glück der Welt
Das Jhrige nun beigetragen. —
Das Kind zog jedermann mit bittendem Geſchrei,
Nur ſeinen Vater nicht herbei. —
Der arme Mann! wie kann man das begehren?
Er ſaß, ganz blind von vielen Zähren
Und überrechnete genau
Was zu der Reiſe einer Frau
Jn jene Welt für Koſten nötig wären?
Man ſtelle ſich nur vor, wie ſo ein Tod zerſtreut!
Bald ängſtigt ihn die Pflicht, ſie ehrlich zu begraben
Und bald durchſchauert ihn in ſeiner Einſamkeit
Das mächtige Gefühl, ſie überlebt zu haben.
Halb froh, halb ängſtlich, wie ein Dieb,
Verglich er das, was ihm zurücke blieb,
Und was er ihr zu laſſen hätte.
Er ſtahl der toten Frau die Hälfte von dem Bette,
Schloß jede Kleinigkeit von ihrem Nachlaß ein
Und ließ ſein Töchterchen nach fremder Hilfe ſchrei’n.
Manch’ Mädchen lief herbei und hatte zwar den Willen
Allein ſonſt nichts, das Kind zu ſtillen:
Der Himmel mag Vergelter ſein! —
Zuletzt erſchien ein Weib mit tätiger’m Erbarmen,
Bat weinend ſich das Kind von ſeinem Vater aus.
„Nehmt’s hin, wenn’s Euch gefällt, ich mache mir nichts
draus.“ —
Die Alte nahms und trug’s mit ſchmeichelhaften Armen
Jn ihr armſelig Bauernhaus. —
Der Alberne, der Ungerechte
War hier zum erſten Mal für ſeinen Vorteil blind.
Jch wüßte nicht, was ſo geſchwind
Für eine ſüße Müh ſo viele Freude brächte,
Als ein geſundes, hübſches Kind,
Zumal vom weiblichen Geſchlechte. —
Von Tag zu Tag entwickelt ſich
Ein neuer Reiz in ſeinen ſanften Zügen.
Sei Vater oder Freund, ſtets überraſcht es dich
Mit einem menſchlichern Vergnügen!
Die Wolluſt kannt’ er nicht. — Das gute Bauernweib
Nahm das verlaſſ’ne Kind zu ihrem Zeitvertreib
Für ein geringes Koſtgeld über.
Mit Seufzen zahlt er’s aus, zur Nahrung für den Leib —
Und für die Seele? — Keinen Stüber!
Wenn man, dacht er, den Körper nur erhält,
Was kann die Seele noch verlangen?
Wer weiß es, ſitzt die nicht zur Straf’ in dieſer Welt
Gleich einem Züchtlinge wie auf den Bau gefangen.
Die Alte nahm ſo gut ſich dieſes Mädchens an,
Als jemals eine Fee getan.
Jch könnte viel davon erzählen:
Doch will ich nur ein Beiſpiel wählen,
Von dem man weiter ſchließen kann.
Es herrſchte in dem Dorf ein alter Aberglaube,
Für jedes Kind ein Bäumchen zu erzieh’n.
Die Alte, der ein Baum noch viel zu wenig ſchien,
Pflanzt’ für ihr Fräulein eine Laube
Von jungem ſproſſenden Jasmin.
Die Anſtalt war ſehr gut: denn alle Mädchen hatten
Nach fünfzehn Jahren ihren Schatten:
Die Mühe war gering, doch eine Kleinigkeit
Kommt manchmal in der Folgezeit
Den guten Kindern wohl zuſtatten.

(Fortſetzung folgt.)


*) Moritz Auguſt von Thümmel, geb. 27. Mai 1738 in Schöne-
feld bei Leipzig, geſt. 26. Oktober 1817 in Koburg. Dieſe Dich-
tung erſchien im Jahre 1772 und iſt uns heute, noch ein köſtliches
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[178/0008] Allgemeine Zeitung 9. Mai 1920 Die Inokulation der Liebe. Eine Erzählung von Herrn von Thümmel. An den Herrn Kreisſteuereinnehmer Weiße in Leipzig. *) Wie ſelten fällt des jungen Dichters Wahl Auf den Geſang, den ihm ſein Herz empfahl, Singt einer auch von Amors Abenteuern: So ſtimmen hundert ihre Leiern Auf den Trompetenton der feſtlichen Moral, Und jeder ſchreit mit anderen Schreiern Und mancher Harlekin wagt einen Todesſprung In ſeiner erſten Angſt zu dem erhab’nen Young Und tändelt voller Ernſt mit allen Ungeheuern Der Schwermut, ſpornt ſich ſelbſt zu Raſereien an, Schweift in die Gegenden der Freuden ein — und ſtürzet Mit Murren auf den Wandersmann, Der durch ein Lied, das ihm ſein Genius erſann, Sich ſorglos ſeinen Weg verkürzet. — Wie reizend ſtell ich mir die freien ſichern Zeiten Horazens und Properzens vor, Wo nie ein Menſch um andere Menſchlichkeiten Das Maul verzog und nur ein Wort verlor. Man rechnete dem Dichter ſeine Lieder Nicht für Verbrechen an, und Cicero rief nicht: „Wer einen Wieland, lieben Brüder, &q;Wer einen Wieland lieſt, der iſt ein Böſewicht!“ Es lebe Billigkeit! Ich räche An andern niemals eine Schwäche, Die ich ſelbſt nicht beſiegen kann, Und ſehe dieſe Welt gern für ein Gaſthaus an, Das jedem offen ſteht. — Wer ſprechen will, der ſpreche. Hier iſt für jedermann ein voller Tiſch gedeckt: Ein jeder eſſe, was ihm ſchmeckt, Und jeder zahle ſeine Zeche! Auch ich, ich höre gern die Sprache des Gefühls Der Mädchen, die nun, ſatt des langen Kinderſpiels, Den erſt erwachten Wunſch erwärmter Herzen ſtammeln; Und ſiehe gern, wie nach und nach Sie von dem Leitband’ an bis in das Brautgemach Empfindungen der Freude ſammeln: Und überraſche gern die Unerfahrenheit, Mit der Natur und Lieb’ im Streit. — Freund, den die Scherze gern zu ihrem Dichter wählen, Der zur Erholung auch nach langem Ernſte lacht; So einen Streit laß dir erzählen! Ein Mann von Welt wie du, wird nicht gleich bitter ſchmählen, Wenn es die Muſe ſo wie unſ’re Damen macht: Die zieh’n — wer weiß es nicht? — Beſcheidenheit dem Schimmer Des allzufreien Putzes vor: Doch deckt ihr ſchönſter Teil ſich immer Am liebſten mit dem dünnſten Flor. * Da, wo der dunkle Strom des Maines Sich in den hellern Rhein verlieri, Wo nebſt dem Gott des deutſchen Weines Der erſte Fürſt des Reichs regiert: Nicht weit von Mainz — damit es jeder wiſſe, Wer ſich auf Politik und Flüſſe Und gute Weine nicht verſteht, — Da lebte, kürzlich noch, dem fetten Vaterlande, Dem Adel und der Welt zur Schande, Ein altes, geiziges, ſtiftmäßiges Skelett: Ich nenn es Harpagon. — In ſeinen jüngern Jahren Kam ihm die Grille, ſich zu paaren, Aus Liebe nicht, aus Raubſucht ein. Er ſtahl Zwei Tonnen Golds durch ſeine ſchlaue Wahl: Denn ſeine Ehe war nichts weiter, Als nur ein Einbruch ohne Leiter, Bei dem er noch vor der Gefahr Gehenkt zu werden ſicher war. Gewinſt genug für ihn, um eine Art von Drachen Jn ſeinem Raum zu machen! Es ſegnete kein Menſch den neuen Eheſtand, Den Trauungsſegen ausgenommen. Gott, welch ein Paar! rief man durchs ganze Land, Was werden erſt für Kinder kommen! Dies Urteil war ſehr übereilt gefällt. Es kam ein Mädchen an, allein man mußte ſagen, So ſchön, als an den Hochzeitstagen Sich keine Seele vorgeſtellt. Es hatte kaum die Augen aufgeſchlagen, So ſtarb die Mutter ſchon, da ſie zum Glück der Welt Das Jhrige nun beigetragen. — Das Kind zog jedermann mit bittendem Geſchrei, Nur ſeinen Vater nicht herbei. — Der arme Mann! wie kann man das begehren? Er ſaß, ganz blind von vielen Zähren Und überrechnete genau Was zu der Reiſe einer Frau Jn jene Welt für Koſten nötig wären? Man ſtelle ſich nur vor, wie ſo ein Tod zerſtreut! Bald ängſtigt ihn die Pflicht, ſie ehrlich zu begraben Und bald durchſchauert ihn in ſeiner Einſamkeit Das mächtige Gefühl, ſie überlebt zu haben. Halb froh, halb ängſtlich, wie ein Dieb, Verglich er das, was ihm zurücke blieb, Und was er ihr zu laſſen hätte. Er ſtahl der toten Frau die Hälfte von dem Bette, Schloß jede Kleinigkeit von ihrem Nachlaß ein Und ließ ſein Töchterchen nach fremder Hilfe ſchrei’n. Manch’ Mädchen lief herbei und hatte zwar den Willen Allein ſonſt nichts, das Kind zu ſtillen: Der Himmel mag Vergelter ſein! — Zuletzt erſchien ein Weib mit tätiger’m Erbarmen, Bat weinend ſich das Kind von ſeinem Vater aus. „Nehmt’s hin, wenn’s Euch gefällt, ich mache mir nichts draus.“ — Die Alte nahms und trug’s mit ſchmeichelhaften Armen Jn ihr armſelig Bauernhaus. — Der Alberne, der Ungerechte War hier zum erſten Mal für ſeinen Vorteil blind. Jch wüßte nicht, was ſo geſchwind Für eine ſüße Müh ſo viele Freude brächte, Als ein geſundes, hübſches Kind, Zumal vom weiblichen Geſchlechte. — Von Tag zu Tag entwickelt ſich Ein neuer Reiz in ſeinen ſanften Zügen. Sei Vater oder Freund, ſtets überraſcht es dich Mit einem menſchlichern Vergnügen! Die Wolluſt kannt’ er nicht. — Das gute Bauernweib Nahm das verlaſſ’ne Kind zu ihrem Zeitvertreib Für ein geringes Koſtgeld über. Mit Seufzen zahlt er’s aus, zur Nahrung für den Leib — Und für die Seele? — Keinen Stüber! Wenn man, dacht er, den Körper nur erhält, Was kann die Seele noch verlangen? Wer weiß es, ſitzt die nicht zur Straf’ in dieſer Welt Gleich einem Züchtlinge wie auf den Bau gefangen. Die Alte nahm ſo gut ſich dieſes Mädchens an, Als jemals eine Fee getan. Jch könnte viel davon erzählen: Doch will ich nur ein Beiſpiel wählen, Von dem man weiter ſchließen kann. Es herrſchte in dem Dorf ein alter Aberglaube, Für jedes Kind ein Bäumchen zu erzieh’n. Die Alte, der ein Baum noch viel zu wenig ſchien, Pflanzt’ für ihr Fräulein eine Laube Von jungem ſproſſenden Jasmin. Die Anſtalt war ſehr gut: denn alle Mädchen hatten Nach fünfzehn Jahren ihren Schatten: Die Mühe war gering, doch eine Kleinigkeit Kommt manchmal in der Folgezeit Den guten Kindern wohl zuſtatten. (Fortſetzung folgt.) *) Moritz Auguſt von Thümmel, geb. 27. Mai 1738 in Schöne- feld bei Leipzig, geſt. 26. Oktober 1817 in Koburg. Dieſe Dich- tung erſchien im Jahre 1772 und iſt uns heute, noch ein köſtliches Zeugnis klangvoller Sprachſchönheit. Die Schriftleitung.

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2020-10-02T09:49:36Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 18, 9. Mai 1920, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine18_1920/8>, abgerufen am 24.11.2024.