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Allgemeine Zeitung, Nr. 170, 18. Juni 1860.

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[Spaltenumbruch] welche Geschichte wollen, und eine gerechte Beleuchtung derselben, nur zur
Empfehlung gereichen.

Katholik und zuerst zum Theologen sich bestimmend, hat der Verfasser
aus innerem Drang sich der Philosophie zugewandt, und einer wissenschaft-
lichen Vergleichung derselben mit der Theologie nachgestrebt. Damit ist er
recht eigentlich der Mann dem gebildeten, denkenden Publicum unserer Zeit
die im Zusammenhang Ideen vorzulegen welche die productiven Geister der
ersten christlichen Jahrhunderte zu Tage gefördert haben, und, indem er die
entweder ungekannten oder verkannten richtig beurtheilen lehrt, ihren weite-
ren Gebrauch zu ermöglichen.

Seine Schrift beginnt mit einer Charakteristik der Alexandrinischen
Theosophie und der Lehre des Juden Philo, schildert dann das Verhältniß des
Christenthums zu Philo, die Entstehung der christlichen Speculation, die Apo-
logetik, die Gnosis und den Neuplatonismus, um durch Vergleichung der
beiden letzteren mit dem Christenthum zu einem ersten Resultat zu gelangen.
Warum verblieb im Kampfe mit dem Gnosticismus und Neuplatonismus dem
Christenthum der Sieg? Diese Frage beantwortet der Verfasser in einer
durchgeführten Vergleichung der drei Lehren, worin er den Unterschied und
den Zusammenhang derselben aufzeigt; und da die Hauptsätze nicht nur Ten-
denz und Standpunkt des Verfassers am klarsten bezeichnen, sondern auch Ge-
danken aussprechen die man jetzt wieder zu beherzigen alle Ursache hat, so
glauben wir sie hier mittheilen zu müssen.

"Das Christenthum lehrt einen persönlichen Gott, und läßt die Welt aus
seinem Willen als eine freie That hervor ehen, während sie dem Neuplato-
nismus, welcher ein unpersönliches Absolute an die Spitze seiner Constructio-
nen stellt, in Folge eines nothwendigen natürlichen Processes auf dem Weg
der Emanation entsteht. Die Gnosis schwankt zwischen einem persönlichen
und unpersönlichen Gott, und darum auch zwischen Schöpfung und Emana-
tion. Alle drei Lehren kommen darin überein daß das jetzige menschliche Da-
seyn überhaupt ein getrübtes und schuldbeladenes sey, daß man daher dem
gegenwärtigen traurigen Zustande des Menschengeschlechts eine vorweltliche
und vorgeschichtliche Sünde als erklärendes Princip unterlegen müsse. Alle
drei sind überzeugt von der Nothwendigkeit einer Befreiung und Erlösung.
Während aber Christenthum und Gnosis dieselbe von der Unterstützung höhe-
rer Wesen abhängig machen, wobei das erstere eine sittliche Erneuerung des
ganzen Menschen, die letztere aber vorzugsweise eine Erleuchtung des erken-
nenden Geistes als subjective Bedingung der Erlösung ausspricht, anerkennt
der Neuplatonismus in seiner ursprünglichen Fassung keine solche Mithülfe
höherer Wesen, sondern vindicirt auch dem gefallenen Geist die hinreichende
Kraft sich in die göttliche Heimath wieder zu erheben, wobei, wie bei der Gnosis
der Nachdruck mehr auf das Erkennen als auf die Gemüthsverfassung gelegt
wird.

"In der gemeinsamen Erklärung der drei Systeme, daß das Gegenwär-
tige ein Unzureichendes sey, und daß darum der Geist von ihm sich losmachen
müsse, lag ausgesprochen daß dieser darüber hinaus sey, daß die alte Welt,
weil der Geist sich aus ihr zurückzog und sie darum innerlich leer geworden
war, ihren Abschluß erreicht habe; denn nur er ist die Quelle des Lebens, ohne
den die Elemente des Leibes sich auseinanderflüchten. Diese Zurückziehung
des Geistes aus den Gestaltungen in die er sich eingeführt hatte, steigerte sich
aber in der Gnosis und dem Neuplatonismus bis zur Weltflucht. Beide ver-
rathen daß ihnen der Muth und die Kraft zur Weltherrschaft mangelt, daß
sie an der Macht des Geistes über die Welt verzweifeln. Das Christenthum
besitzt hingegen als Princip den positiven Geist, welcher der Herr der Natur
und der Zweck der Welt ist, welcher nicht bloß die Bande mit denen sie ihn
umschlingen will zu zerreißen im Stand ist, sondern welcher sie gestalten, ihr
seine Form aufdrücken kann -- den Geist welcher selbst Princip einer Welt zu
werden vermag. Im Christenthum bricht der Geist, nachdem er in seine eigene
Tiefe zurückgegangen war, neuerdings schöpferisch hervor -- es ist als ob eine
neue Lebensströmung ihn gestärkt und befruchtet hätte.

"Alle Dogmen des Christenthums dienen nur dazu den Glauben an die
weltbeherrschende und weltüberwindende Macht des Geistes hervorzurufen und
zu kräftigen. Auf dem göttlichen Geist ruht die gesammte Schöpfung, sie ist
seine bewußte Willenskraft, und demnach, weil selbst Offenbarung des Geistes,
vom Geist erfüllt und getragen. So ist dem menschlichen Geist, weil er mit
ihr auf demselben geistigen Grunde ruht, die Natur schon von Anfang an ver-
wandt und durchdringlich. Wäre noch ein anderes als das göttliche und gei-
stige Princip in der Welt gegenwärtig, würde ihr, wie die dualistische Gnosis
behauptete, auch noch eine jenem antithetische Materle einwohnen, so müßte
die Kraft des Geistes im Wollen und Erkennen an diesem selbst für die Gott-
heit unüberwindlichen Gegensatz sich brechen. Zu einer Herrschaft desselben
über die Natur und Sitte, Wissenschaft und Kunst, konnte es nach den Prä-
missen jener Gnosis niemals kommen. Nach christlicher Annahme ist aber der
Mensch auch der Herr der Natur, der weck der Welt. Die Natur ist für
ihn ein bloßes Material, das von Anfang an darauf wartete von ihm gestaltet
zu werden.

[Spaltenumbruch] "Nach christlicher Ueberzeugung ist der menschlicke Geist das Ebenbild des
göttlichen, er ist darum frei, und soll in seiner Freiheit selbst der Schöpfer
einer eigenen Welt der Geschichte werden. Nicht wie ein Naturproduct das in
seiner Entwicklung schon von Anfang an bestimmt ist, tritt er in das Daseyn,
unfertig und unvollendet hat er die Aufgabe sich selbst erst in seine Lebensge-
staltungen einzuführen -- er ist causa sui. Erst von diesen Prämissen aus
gelangt man zu dem Begriff der Geschichte, der dem ganzen Alterthum fremd
ist. Die Geschichte ist eben diese Selbstrealisirung des Geistes, die jetzt, weil
nach christlicher Ueberzeugung der Urmensch durch seine Willensentscheidung in
eine falsche Bahn eingelenkt hat, in einer weit ernstern und intensivern Arbeit,
wobei die göttliche Gaade mitwirken muß, sich zu vollbringen hat. Die An-
nahme eines gemeinschaftlichen Stammvaters der Menschheit bringt es noth-
wendig mit sich auch die Aufgabe der Geschichte als eine gemeinschaftliche zu
denken, wobei der Particularismus der Vorzeit sich aufheben muß, und über
allen engern nationalen Bestrebungen ein allgemein-menschliches Interesse sich
erhebt, wodurch auch die egoistische Zurückziehung auf sich selbst, die bloße
Sorge um das eigene Wohl, verurtheilt und jeder zum Eingreifen in die große
Bewegung aufgefordert ist.

"Mag auch das Christenthum in den ersten Zeiten, wo es noch galt die
alte Welt zu überwinden, einen mehr weliflüchtigen Charakter gezeigt haben,
in seinem Wesen lag derselbe nicht; es lag darin nur die mangelhaften For-
men des menschlichen Daseyns zu verlassen und an ihre Stelle vollkommenere
zu setzen. Der christliche Geist, indem er mit Liebe an die Natur sich hingibt
und sie gestaltend zu seiner Höhe erhebt, bleibt nicht in ihr gebunden, sondern
setzt sich immer sich selbst zum Zweck; er ist am Ende seiner Arbeit immer
wieder bei sich und darum ins Unendliche hin die Potenz eines neuen Lebens,
einer weitern Entwicklung."

(Schluß folgt.)



Die Gräfin Dora d'Istria über die Frauen im Orient.
Les femmes en Orient, par Madame la Comtesse Dora d'Istria, 2 vol.,
pag. VII. 1008. Zürich 1860.
III.
*)

++ Auf diese ganz aus griechischen Historikern geschöpften Angaben hin
hätte es mit den stolzen Morea-Doriern der Frau Gräfin Dora d'Istria
allerdings seine Bedenklichkeiten. Wir wollen aber aus achtungsvoller Rück-
sicht für die hochgeborne Verfasserin, so wie für ihre zahlreichen Meinungsge-
nossen, welche das neue Hellas nicht aus der historischen Vergangenheit und
aus documentirten Thatsachen, sondern aus der Idee construiren, die Acten
noch nicht für geschlossen erklären; wir wollen den Gegenstand noch als offene
Frage behandeln, und die verzweifelten Argumente noch nicht als unbestreitbare
Thatsachen, sondern als bloße Zweifel und Bedenken hinstellen, die uns noch
immer hindern den idealistischen Auschauungen der edlen Gräfin in vollem
Maß zu huldigen.

Von dem Genie der erlauchten Verfasserin wollen diese Zweifel und Be-
denken ihre endgültige, die abendländische Wissenschaft beruhigende Lösung er-
warten, und bis diese Lösung wirklich erfolgt, bleibt das Urtheil suspendirt.
Wenn es aber der erlauchten Gräfin nicht gelingen sollte durch unwiderleg-
liche Beweisstellen die Nachrichten der griechischen Autoren von Prokopius bis
Mazari als muthwilligen Irrthum und als fortlaufende Conspiration gegen
ihr eigenes Volk zu entlarven, besonders aber den kritischen Occident zu über-
zeugen daß die Mazari'schen Gestalten in Hellas und besonders auf Morea
nicht existiren, und daß die Landbevölkerung in Marathon, in Eleusis, in
Menidi, und selbst im albanesischen Stadtviertel von Athen statt #**
nicht tschben, und statt # und # nicht mire ditta und
mire mbremma sprechen, so ist für die Verfasserin wenig Aussicht daß man
im Occident den Hauptinhalt ihres fünften Buches, hauptsächlich die Briefe
II, III und IV (I. S. 374 -- 401), für mehr als ideales Gedankenspiel,
für eitel Poesie und Fabel hält.

In Europa greift nach Wiederaufnahme der seit Du-Cange verlassenen
Studien der Byzantiner allmählich die Ueberzeugung Platz: die althellenische
Race habe sich nur in den Colonien am Bosporus, auf den sporadischen In-
seln und auf der Nord- und Westküste Kleinasiens erhalten, sey aber im Ur-
lande, dem eigentlichen schon während der römischen Herrschaft verödeten Hel-
las, vom Tempethal bis zur Südspitze des Peloponnesus, bis auf unbedeutende
Reste gänzlich verkommen und durch eine nichthellenische Bevölkerng ersetzt
worden. In den benannten Colonien, namentlich in den beiden Kaiserstädten
Konstantinopel und Trapezunt, hat sich die althellenische Sprache zwar nicht
in der primitiven Reinheit, aber doch im Wesen ununterbrochen bis auf den
heutigen Tag erhalten, obgleich schon Justinian I nach einer großen Pest auf
einmal 70,000 slavinische Barbaren mit vollem Bürgerrecht in das halböde
Byzanz verpflanzte.

Wenn man in unsern Tagen von ächten Hellenen reden will, so sind es

*) S. vorgestrige Beilage.
** Was machst du?

[Spaltenumbruch] welche Geſchichte wollen, und eine gerechte Beleuchtung derſelben, nur zur
Empfehlung gereichen.

Katholik und zuerſt zum Theologen ſich beſtimmend, hat der Verfaſſer
aus innerem Drang ſich der Philoſophie zugewandt, und einer wiſſenſchaft-
lichen Vergleichung derſelben mit der Theologie nachgeſtrebt. Damit iſt er
recht eigentlich der Mann dem gebildeten, denkenden Publicum unſerer Zeit
die im Zuſammenhang Ideen vorzulegen welche die productiven Geiſter der
erſten chriſtlichen Jahrhunderte zu Tage gefördert haben, und, indem er die
entweder ungekannten oder verkannten richtig beurtheilen lehrt, ihren weite-
ren Gebrauch zu ermöglichen.

Seine Schrift beginnt mit einer Charakteriſtik der Alexandriniſchen
Theoſophie und der Lehre des Juden Philo, ſchildert dann das Verhältniß des
Chriſtenthums zu Philo, die Entſtehung der chriſtlichen Speculation, die Apo-
logetik, die Gnoſis und den Neuplatonismus, um durch Vergleichung der
beiden letzteren mit dem Chriſtenthum zu einem erſten Reſultat zu gelangen.
Warum verblieb im Kampfe mit dem Gnoſticismus und Neuplatonismus dem
Chriſtenthum der Sieg? Dieſe Frage beantwortet der Verfaſſer in einer
durchgeführten Vergleichung der drei Lehren, worin er den Unterſchied und
den Zuſammenhang derſelben aufzeigt; und da die Hauptſätze nicht nur Ten-
denz und Standpunkt des Verfaſſers am klarſten bezeichnen, ſondern auch Ge-
danken ausſprechen die man jetzt wieder zu beherzigen alle Urſache hat, ſo
glauben wir ſie hier mittheilen zu müſſen.

„Das Chriſtenthum lehrt einen perſönlichen Gott, und läßt die Welt aus
ſeinem Willen als eine freie That hervor ehen, während ſie dem Neuplato-
nismus, welcher ein unperſönliches Abſolute an die Spitze ſeiner Conſtructio-
nen ſtellt, in Folge eines nothwendigen natürlichen Proceſſes auf dem Weg
der Emanation entſteht. Die Gnoſis ſchwankt zwiſchen einem perſönlichen
und unperſönlichen Gott, und darum auch zwiſchen Schöpfung und Emana-
tion. Alle drei Lehren kommen darin überein daß das jetzige menſchliche Da-
ſeyn überhaupt ein getrübtes und ſchuldbeladenes ſey, daß man daher dem
gegenwärtigen traurigen Zuſtande des Menſchengeſchlechts eine vorweltliche
und vorgeſchichtliche Sünde als erklärendes Princip unterlegen müſſe. Alle
drei ſind überzeugt von der Nothwendigkeit einer Befreiung und Erlöſung.
Während aber Chriſtenthum und Gnoſis dieſelbe von der Unterſtützung höhe-
rer Weſen abhängig machen, wobei das erſtere eine ſittliche Erneuerung des
ganzen Menſchen, die letztere aber vorzugsweiſe eine Erleuchtung des erken-
nenden Geiſtes als ſubjective Bedingung der Erlöſung ausſpricht, anerkennt
der Neuplatonismus in ſeiner urſprünglichen Faſſung keine ſolche Mithülfe
höherer Weſen, ſondern vindicirt auch dem gefallenen Geiſt die hinreichende
Kraft ſich in die göttliche Heimath wieder zu erheben, wobei, wie bei der Gnoſis
der Nachdruck mehr auf das Erkennen als auf die Gemüthsverfaſſung gelegt
wird.

„In der gemeinſamen Erklärung der drei Syſteme, daß das Gegenwär-
tige ein Unzureichendes ſey, und daß darum der Geiſt von ihm ſich losmachen
müſſe, lag ausgeſprochen daß dieſer darüber hinaus ſey, daß die alte Welt,
weil der Geiſt ſich aus ihr zurückzog und ſie darum innerlich leer geworden
war, ihren Abſchluß erreicht habe; denn nur er iſt die Quelle des Lebens, ohne
den die Elemente des Leibes ſich auseinanderflüchten. Dieſe Zurückziehung
des Geiſtes aus den Geſtaltungen in die er ſich eingeführt hatte, ſteigerte ſich
aber in der Gnoſis und dem Neuplatonismus bis zur Weltflucht. Beide ver-
rathen daß ihnen der Muth und die Kraft zur Weltherrſchaft mangelt, daß
ſie an der Macht des Geiſtes über die Welt verzweifeln. Das Chriſtenthum
beſitzt hingegen als Princip den poſitiven Geiſt, welcher der Herr der Natur
und der Zweck der Welt iſt, welcher nicht bloß die Bande mit denen ſie ihn
umſchlingen will zu zerreißen im Stand iſt, ſondern welcher ſie geſtalten, ihr
ſeine Form aufdrücken kann — den Geiſt welcher ſelbſt Princip einer Welt zu
werden vermag. Im Chriſtenthum bricht der Geiſt, nachdem er in ſeine eigene
Tiefe zurückgegangen war, neuerdings ſchöpferiſch hervor — es iſt als ob eine
neue Lebensſtrömung ihn geſtärkt und befruchtet hätte.

„Alle Dogmen des Chriſtenthums dienen nur dazu den Glauben an die
weltbeherrſchende und weltüberwindende Macht des Geiſtes hervorzurufen und
zu kräftigen. Auf dem göttlichen Geiſt ruht die geſammte Schöpfung, ſie iſt
ſeine bewußte Willenskraft, und demnach, weil ſelbſt Offenbarung des Geiſtes,
vom Geiſt erfüllt und getragen. So iſt dem menſchlichen Geiſt, weil er mit
ihr auf demſelben geiſtigen Grunde ruht, die Natur ſchon von Anfang an ver-
wandt und durchdringlich. Wäre noch ein anderes als das göttliche und gei-
ſtige Princip in der Welt gegenwärtig, würde ihr, wie die dualiſtiſche Gnoſis
behauptete, auch noch eine jenem antithetiſche Materle einwohnen, ſo müßte
die Kraft des Geiſtes im Wollen und Erkennen an dieſem ſelbſt für die Gott-
heit unüberwindlichen Gegenſatz ſich brechen. Zu einer Herrſchaft desſelben
über die Natur und Sitte, Wiſſenſchaft und Kunſt, konnte es nach den Prä-
miſſen jener Gnoſis niemals kommen. Nach chriſtlicher Annahme iſt aber der
Menſch auch der Herr der Natur, der weck der Welt. Die Natur iſt für
ihn ein bloßes Material, das von Anfang an darauf wartete von ihm geſtaltet
zu werden.

[Spaltenumbruch] „Nach chriſtlicher Ueberzeugung iſt der menſchlicke Geiſt das Ebenbild des
göttlichen, er iſt darum frei, und ſoll in ſeiner Freiheit ſelbſt der Schöpfer
einer eigenen Welt der Geſchichte werden. Nicht wie ein Naturproduct das in
ſeiner Entwicklung ſchon von Anfang an beſtimmt iſt, tritt er in das Daſeyn,
unfertig und unvollendet hat er die Aufgabe ſich ſelbſt erſt in ſeine Lebensge-
ſtaltungen einzuführen — er iſt causa sui. Erſt von dieſen Prämiſſen aus
gelangt man zu dem Begriff der Geſchichte, der dem ganzen Alterthum fremd
iſt. Die Geſchichte iſt eben dieſe Selbſtrealiſirung des Geiſtes, die jetzt, weil
nach chriſtlicher Ueberzeugung der Urmenſch durch ſeine Willensentſcheidung in
eine falſche Bahn eingelenkt hat, in einer weit ernſtern und intenſivern Arbeit,
wobei die göttliche Gaade mitwirken muß, ſich zu vollbringen hat. Die An-
nahme eines gemeinſchaftlichen Stammvaters der Menſchheit bringt es noth-
wendig mit ſich auch die Aufgabe der Geſchichte als eine gemeinſchaftliche zu
denken, wobei der Particularismus der Vorzeit ſich aufheben muß, und über
allen engern nationalen Beſtrebungen ein allgemein-menſchliches Intereſſe ſich
erhebt, wodurch auch die egoiſtiſche Zurückziehung auf ſich ſelbſt, die bloße
Sorge um das eigene Wohl, verurtheilt und jeder zum Eingreifen in die große
Bewegung aufgefordert iſt.

„Mag auch das Chriſtenthum in den erſten Zeiten, wo es noch galt die
alte Welt zu überwinden, einen mehr weliflüchtigen Charakter gezeigt haben,
in ſeinem Weſen lag derſelbe nicht; es lag darin nur die mangelhaften For-
men des menſchlichen Daſeyns zu verlaſſen und an ihre Stelle vollkommenere
zu ſetzen. Der chriſtliche Geiſt, indem er mit Liebe an die Natur ſich hingibt
und ſie geſtaltend zu ſeiner Höhe erhebt, bleibt nicht in ihr gebunden, ſondern
ſetzt ſich immer ſich ſelbſt zum Zweck; er iſt am Ende ſeiner Arbeit immer
wieder bei ſich und darum ins Unendliche hin die Potenz eines neuen Lebens,
einer weitern Entwicklung.“

(Schluß folgt.)



Die Gräfin Dora d’Iſtria über die Frauen im Orient.
Les femmes en Orient, par Madame la Comtesse Dora d’Istria, 2 vol.,
pag. VII. 1008. Zürich 1860.
III.
*)

‡ Auf dieſe ganz aus griechiſchen Hiſtorikern geſchöpften Angaben hin
hätte es mit den ſtolzen Morea-Doriern der Frau Gräfin Dora d’Iſtria
allerdings ſeine Bedenklichkeiten. Wir wollen aber aus achtungsvoller Rück-
ſicht für die hochgeborne Verfaſſerin, ſo wie für ihre zahlreichen Meinungsge-
noſſen, welche das neue Hellas nicht aus der hiſtoriſchen Vergangenheit und
aus documentirten Thatſachen, ſondern aus der Idee conſtruiren, die Acten
noch nicht für geſchloſſen erklären; wir wollen den Gegenſtand noch als offene
Frage behandeln, und die verzweifelten Argumente noch nicht als unbeſtreitbare
Thatſachen, ſondern als bloße Zweifel und Bedenken hinſtellen, die uns noch
immer hindern den idealiſtiſchen Auſchauungen der edlen Gräfin in vollem
Maß zu huldigen.

Von dem Genie der erlauchten Verfaſſerin wollen dieſe Zweifel und Be-
denken ihre endgültige, die abendländiſche Wiſſenſchaft beruhigende Löſung er-
warten, und bis dieſe Löſung wirklich erfolgt, bleibt das Urtheil ſuspendirt.
Wenn es aber der erlauchten Gräfin nicht gelingen ſollte durch unwiderleg-
liche Beweisſtellen die Nachrichten der griechiſchen Autoren von Prokopius bis
Mazari als muthwilligen Irrthum und als fortlaufende Conſpiration gegen
ihr eigenes Volk zu entlarven, beſonders aber den kritiſchen Occident zu über-
zeugen daß die Mazari’ſchen Geſtalten in Hellas und beſonders auf Morea
nicht exiſtiren, und daß die Landbevölkerung in Marathon, in Eleuſis, in
Menidi, und ſelbſt im albaneſiſchen Stadtviertel von Athen ſtatt #**
nicht tschben, und ſtatt # und # nicht mire ditta und
mire mbremma ſprechen, ſo iſt für die Verfaſſerin wenig Ausſicht daß man
im Occident den Hauptinhalt ihres fünften Buches, hauptſächlich die Briefe
II, III und IV (I. S. 374 — 401), für mehr als ideales Gedankenſpiel,
für eitel Poeſie und Fabel hält.

In Europa greift nach Wiederaufnahme der ſeit Du-Cange verlaſſenen
Studien der Byzantiner allmählich die Ueberzeugung Platz: die althelleniſche
Race habe ſich nur in den Colonien am Bosporus, auf den ſporadiſchen In-
ſeln und auf der Nord- und Weſtküſte Kleinaſiens erhalten, ſey aber im Ur-
lande, dem eigentlichen ſchon während der römiſchen Herrſchaft verödeten Hel-
las, vom Tempethal bis zur Südſpitze des Peloponneſus, bis auf unbedeutende
Reſte gänzlich verkommen und durch eine nichthelleniſche Bevölkerng erſetzt
worden. In den benannten Colonien, namentlich in den beiden Kaiſerſtädten
Konſtantinopel und Trapezunt, hat ſich die althelleniſche Sprache zwar nicht
in der primitiven Reinheit, aber doch im Weſen ununterbrochen bis auf den
heutigen Tag erhalten, obgleich ſchon Juſtinian I nach einer großen Peſt auf
einmal 70,000 ſlaviniſche Barbaren mit vollem Bürgerrecht in das halböde
Byzanz verpflanzte.

Wenn man in unſern Tagen von ächten Hellenen reden will, ſo ſind es

*) S. vorgeſtrige Beilage.
** Was machſt du?
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[2838/0010] welche Geſchichte wollen, und eine gerechte Beleuchtung derſelben, nur zur Empfehlung gereichen. Katholik und zuerſt zum Theologen ſich beſtimmend, hat der Verfaſſer aus innerem Drang ſich der Philoſophie zugewandt, und einer wiſſenſchaft- lichen Vergleichung derſelben mit der Theologie nachgeſtrebt. Damit iſt er recht eigentlich der Mann dem gebildeten, denkenden Publicum unſerer Zeit die im Zuſammenhang Ideen vorzulegen welche die productiven Geiſter der erſten chriſtlichen Jahrhunderte zu Tage gefördert haben, und, indem er die entweder ungekannten oder verkannten richtig beurtheilen lehrt, ihren weite- ren Gebrauch zu ermöglichen. Seine Schrift beginnt mit einer Charakteriſtik der Alexandriniſchen Theoſophie und der Lehre des Juden Philo, ſchildert dann das Verhältniß des Chriſtenthums zu Philo, die Entſtehung der chriſtlichen Speculation, die Apo- logetik, die Gnoſis und den Neuplatonismus, um durch Vergleichung der beiden letzteren mit dem Chriſtenthum zu einem erſten Reſultat zu gelangen. Warum verblieb im Kampfe mit dem Gnoſticismus und Neuplatonismus dem Chriſtenthum der Sieg? Dieſe Frage beantwortet der Verfaſſer in einer durchgeführten Vergleichung der drei Lehren, worin er den Unterſchied und den Zuſammenhang derſelben aufzeigt; und da die Hauptſätze nicht nur Ten- denz und Standpunkt des Verfaſſers am klarſten bezeichnen, ſondern auch Ge- danken ausſprechen die man jetzt wieder zu beherzigen alle Urſache hat, ſo glauben wir ſie hier mittheilen zu müſſen. „Das Chriſtenthum lehrt einen perſönlichen Gott, und läßt die Welt aus ſeinem Willen als eine freie That hervor ehen, während ſie dem Neuplato- nismus, welcher ein unperſönliches Abſolute an die Spitze ſeiner Conſtructio- nen ſtellt, in Folge eines nothwendigen natürlichen Proceſſes auf dem Weg der Emanation entſteht. Die Gnoſis ſchwankt zwiſchen einem perſönlichen und unperſönlichen Gott, und darum auch zwiſchen Schöpfung und Emana- tion. Alle drei Lehren kommen darin überein daß das jetzige menſchliche Da- ſeyn überhaupt ein getrübtes und ſchuldbeladenes ſey, daß man daher dem gegenwärtigen traurigen Zuſtande des Menſchengeſchlechts eine vorweltliche und vorgeſchichtliche Sünde als erklärendes Princip unterlegen müſſe. Alle drei ſind überzeugt von der Nothwendigkeit einer Befreiung und Erlöſung. Während aber Chriſtenthum und Gnoſis dieſelbe von der Unterſtützung höhe- rer Weſen abhängig machen, wobei das erſtere eine ſittliche Erneuerung des ganzen Menſchen, die letztere aber vorzugsweiſe eine Erleuchtung des erken- nenden Geiſtes als ſubjective Bedingung der Erlöſung ausſpricht, anerkennt der Neuplatonismus in ſeiner urſprünglichen Faſſung keine ſolche Mithülfe höherer Weſen, ſondern vindicirt auch dem gefallenen Geiſt die hinreichende Kraft ſich in die göttliche Heimath wieder zu erheben, wobei, wie bei der Gnoſis der Nachdruck mehr auf das Erkennen als auf die Gemüthsverfaſſung gelegt wird. „In der gemeinſamen Erklärung der drei Syſteme, daß das Gegenwär- tige ein Unzureichendes ſey, und daß darum der Geiſt von ihm ſich losmachen müſſe, lag ausgeſprochen daß dieſer darüber hinaus ſey, daß die alte Welt, weil der Geiſt ſich aus ihr zurückzog und ſie darum innerlich leer geworden war, ihren Abſchluß erreicht habe; denn nur er iſt die Quelle des Lebens, ohne den die Elemente des Leibes ſich auseinanderflüchten. 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Wir wollen aber aus achtungsvoller Rück- ſicht für die hochgeborne Verfaſſerin, ſo wie für ihre zahlreichen Meinungsge- noſſen, welche das neue Hellas nicht aus der hiſtoriſchen Vergangenheit und aus documentirten Thatſachen, ſondern aus der Idee conſtruiren, die Acten noch nicht für geſchloſſen erklären; wir wollen den Gegenſtand noch als offene Frage behandeln, und die verzweifelten Argumente noch nicht als unbeſtreitbare Thatſachen, ſondern als bloße Zweifel und Bedenken hinſtellen, die uns noch immer hindern den idealiſtiſchen Auſchauungen der edlen Gräfin in vollem Maß zu huldigen. Von dem Genie der erlauchten Verfaſſerin wollen dieſe Zweifel und Be- denken ihre endgültige, die abendländiſche Wiſſenſchaft beruhigende Löſung er- warten, und bis dieſe Löſung wirklich erfolgt, bleibt das Urtheil ſuspendirt. 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In Europa greift nach Wiederaufnahme der ſeit Du-Cange verlaſſenen Studien der Byzantiner allmählich die Ueberzeugung Platz: die althelleniſche Race habe ſich nur in den Colonien am Bosporus, auf den ſporadiſchen In- ſeln und auf der Nord- und Weſtküſte Kleinaſiens erhalten, ſey aber im Ur- lande, dem eigentlichen ſchon während der römiſchen Herrſchaft verödeten Hel- las, vom Tempethal bis zur Südſpitze des Peloponneſus, bis auf unbedeutende Reſte gänzlich verkommen und durch eine nichthelleniſche Bevölkerng erſetzt worden. In den benannten Colonien, namentlich in den beiden Kaiſerſtädten Konſtantinopel und Trapezunt, hat ſich die althelleniſche Sprache zwar nicht in der primitiven Reinheit, aber doch im Weſen ununterbrochen bis auf den heutigen Tag erhalten, obgleich ſchon Juſtinian I nach einer großen Peſt auf einmal 70,000 ſlaviniſche Barbaren mit vollem Bürgerrecht in das halböde Byzanz verpflanzte. Wenn man in unſern Tagen von ächten Hellenen reden will, ſo ſind es *) S. vorgeſtrige Beilage. ** Was machſt du?

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 170, 18. Juni 1860, S. 2838. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine170_1860/10>, abgerufen am 21.11.2024.