Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung, Nr. 14, 15. Januar 1924.

Bild:
<< vorherige Seite
Allgemeine Zeitung. Nr. 14 Dienstag, den 15. Januar 1924.
[Spaltenumbruch]

sondern damit sie in Größe und Kraft wett-
eifern, jedes seine Art von Menschentum so
stark und gesund auszuprägen als in ihm
liegt. Und wir wissen, daß keines der Völ-
ker mehr an herber, tiefer Kraft, mehr an
innerem Reichtum zu geben hat als das
deutsche Volk. Und indem wir um des
deutschen Menschen willen die Größe
unseres Volkes wollen, wollen wir um
des deutschen Volkes willen, daß in ihm
die einzelne Persönlichkeit sich so
tief und reich entfalte und so viel Glück
eigenen Wesens aufsteige, als Kraft in sie
gelegt ist: Persönlichkeit des Volkes, Per-
sönlichkeit des Einzelnen, als Volksdienst
und Gotteswille.

Wenn wir dies wollen, was müssen
wir dazu tun?

Auch hier sei versucht, fürs erste Ge-
meinsames
aufzuzeigen, auf dessen
Grund allein auch Gegensätzliches zu fried-
lichem Austrag entwickelt werden kann.

1. Wir müssen den deutschen
Staat behaupten.
Er und damit das
deutsche Volk sind schlimmer als je bedroht,
seit das deutsche Volk bewußt deutsche Ge-
schichte erlebt. Wohl sagt man, ein Volk
von 60 Millionen könne nicht sterben. Das
ist ruchloser Optimismus. Auch ein großes
Volk kann sterben, und besonders das deut-
sche Volk wird verkümmern, sogar als
Summe von Einzelpersönlichkeiten, sicher-
lich aber absterben als geistige Persönlich-
keit, wenn es den nationalen Staat nicht
behauptet, mit anderen Worten, wenn sein
staatlicher Lebenswille nicht stärker ist als
der Vernichtungswille der Gegner. Diesen
Willen zum Leben gilts ins ganze Volk zu
tragen, denn wir wollen nicht den Tod
Deutschlands, auch nicht den Tod schönster
heldischer Verzweiflungstat; denn schließ-
lich ist die Antithese "lieber tot als Sklave",
auf ein Volk bezogen, doch nur eine schil-
lernde Halbwahrheit, die ganze Wahrheit
aber einfach die Pflicht, weder zu
sterben noch Sklave zu werden.

Das nächste deutsche Schicksal entscheidet
sich am Rhein. Jäh und zielbewußt drang
die französische Besatzungsmacht vor in der
Beherrschung des Verkehrs, in der Aus-
höhlung der deutschen Verwaltung, nun in
Verträgen mit wichtigen großen Wirt-
schaftsgruppen; der Separatistenterror des
Gesindels lastet drüchend auf dem Lande
und die Pläne, denen er dient, sind nicht
allzu schwer zu durchschauen. Dabei ist die
Wirtschaftskraft des gesamten Reiches allzu
sehr geschwächt, als daß sie unbegrenzt Kräfte
und Säfte in ein nimmermehr zu füllendes
Becken fremder Forderungen, die über die
weitesten Grenzen des Vertrages hinaus-
gehen, abfließen lassen könnte, ohne sich zu
verbluten und damit besetztes und unbesetz-
tes Gebiet gleichermaßen zu Grunde gehen
zu lassen. Ob Frankreich sich zu einem
modus vivendi bereit findet, ob sonstwie
die Fremdherrschaft am deutschen Rhein in
die Grenzen des Vertrages von Versailles
zurückgeführt werden wird, ist die Sorge
der nächsten Monate. Wieviel oder wenig
wir erhoffen wollen -- darüber müssen wir
[Spaltenumbruch] uns klar sein, daß das Reich in dieser ge-
schichtlichen Stunde, die nicht die letzte für
uns sein darf, aber es werden könnte, wenn
wir nicht ihren furchtbaren Ernst erfassen,
nur eine verläßliche Waffe hat,
die Treue seiner Bürger rechts
und links des Rheins.

2. Diese Treue kann bestehen nur auf dem
Boden des Gesetzes. Die Verfas-
sung von Weimar
braucht einem nicht
in allem zu gefallen. Aber wer über sie
urteilt, der bedenke, daß in ihr das deutsche
Volk die Revolution überwunden und sich
ein neues Grundgesetz seines Zusammen-
lebens gegeben hat. Die Autorität der Mon-
archie war zerbrochen; kein großer Mann
erstand, der in sich eine neue getragen hätte.
Was blieb, war als letztes die Hoheit des
ganzen Volkes. Im November und De-
zember 1918 wurde sie von allen als die
einzige Rettung und die einzige Grundlage
neuer Rechtsschöpfung begriffen. Wer
Aenderungen will, muß sagen, was an die
Stelle der Demokratie treten soll, welcher
Art und Prägung etwa die Monarchie sein
soll, sei es die eines deutschen Königs oder
Kaisers allein, oder auch die der Teilfürsten;
muß wissen, durch welch besseres anerkann-
tes System er den Parlamentarismus er-
setzen will; und muß bei alledem bedenken,
daß die Verfassung eben diesem deutschen
Volke in seiner derzeitigen außen- und in-
nenpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen
Lage angepaßt sein muß; und vor allem
muß er jede Bestimmung darnach werten,
was sie beiträgt zur Einigung unseres Vol-
kes in sich und mit seinem Staat und zur
Ueberwindung innerer Zwietracht und
Schwäche. Wer so an diese verantwortlichen
Fragen herangeht, wird alsbald erkennen,
daß nur ein Weg offen ist, der der orga-
nischen verfassungsmäßigen
Entwicklung,
und muß innerlich wie
öffentlich jeden Gedanken an gewaltsame
Aenderung ablehnen. Richtig ist, daß der
Parlamentarismus nicht viel dazu getan
hat, das deutsche Volk an seine Kraft und
Würde glauben zu machen, und vor allem
den Sinn für Stil und Schickliches oft ver-
missen ließ. Viele im Reichstag geleistete
fleißige Arbeit ist darüber vergessen wor-
den, auch das, daß die Gegensätze dort, trotz
allem bei weitem nicht so heftig waren und
sind, wie der lobenbe Kampf der Presse und
Parteisekretäre im Lande draußen anneh-
men läßt; wer da nach Beseitigung ruft, der
erwäge dies, prüfe die Möglichkeiten eines
besseren Ersatzes und frage sich, ob etwa die
Auseinandersetzungen im Lager so mancher
Verbände und parlamentsfeindlicher Par-
teien mehr an Willen zur Unterordnung
und Einordnung, mehr an realpolitischer
Abwägung, mehr an Eintracht erwarten
lassen, oder ob nicht doch die demokratische
Volksvertretung zu erhalten und in den
Wahlen ebenso gestaltet werden muß, daß
die Parteien der Mitte zu innerem Aus-
gleich zu stärken sind, damit aus beiter Ge-
meinschaft die Regierung auf großer Linie
geführt werden kann.
(Fortsetzung folgt.)

[Spaltenumbruch]
Die Schulden Frankreichs

In einer Wirt-
schaftskorrespondenz wird eine Zusammen-
stellung der öffentlichen Schulden
Frankreichs
veröffentlicht, aus der
sich folgende Ziffern ergeben: Vorkriegs-
schulden 25 Milliarden Franken, Kriegs-
anleihen 133 Milliarden Franken, kurz-
fristige Schulden in Schatzscheinen usw.
70 Milliarden Fr., Anleihen bei der Bank
von Frankreich 23 Milliarden Fr., äußere
Anleihen 120 Milliarden Fr., Anleihen für
die Wiederherstellung der befreiten Gebiete
30 Milliarden Fr., Kriegsdarlehen an die
Verbündeten 4 Milliarden Fr., jährlicher
Zinsenauflauf 5--6 Milliarden Fr.

Es ergibt sich also insgesamt eine Summe
von über 400 Milliarden Franken.

Kein Generalstreik

Die sozialistischen
Gewerkschaften
lehnen im ganzen
Westen den Generalstreik ab. Die christ-
lichen Gewerkschaften
sind nach
wie vor weder für den Metallarbeiter-
kampf noch für den Generalstreik zu haben,
ausgenommen sind wenige Orte wie
Krefeld, Benrath und Hilden. -- Der
Düsseldorfer Kampf griff so gut wie gar
nicht ins engere Industriegebiet über,
außer in Opladen, wo es zwischen den
Streikenden und Arbeitslosen zu Zu-
sammenstößen mit der Polizei kam. Aus-
schreitungen kamen nicht vor.

Kommunistenterror im Ruhrgebiet

Nach dem Beschluß
des Deutschen Metallarbeiterverbandes, die ein-
zelnen Organisationen die Frage des General-
streikes selbständig entscheiden zu lassen, haben die
Kommunisten in den einzelnen Ortsgruppen im
Ruhrgebiet die Herrschaft an sich genommen. Die
Kommunisten wenden alle Mittel an, die Arbeits-
willigen an der Ausütbung ihrer Arbeit zu ver-
hindern. Die Polizei in Gelsenkirchen wurde
mehrfach gezwungen, mit blanker Waffe
einzugreifen,
um den Belästigungen der
Arbeitswilligen entgegenzutreten. Von den De-
monstranten wurden mehrere verwundet. Durch
die von den Streikenden auf die Blaue Polizei
abgegebenen Revolverschüsse wurde ein Polizei-
beamter verwundet. Die Ortsleitung des Deut-
schen Metallarbeiterverbandes in Gelsenkirchen
will alles versuchen, um die restlose Arbeitsnieder-
legung im ganzen Bezirk zu erzwingen.

Hilfe für deutsche Kinder

Die Schweizer
Eisenbahner
faßten den hochherzigen Ent-
schluß, in ihren Familien einer größeren Anzahl
erholungsbedürftiger und notleidender Kinder
deutscher Reichsbahnbediensteten unentgeltlichen
Erholungsaufenthalt zu gewähren. Es werden
für den ersten Transport nur Kinder aus dem
südwestlichen Reichsbahngebiet ausgewählt. Der
Reichsverkehrsminister sprach der schweizerischen
Eisenbahnerschaft den Dank der deutschen Reichs-
bahnverwaltung aus.

Die Zukunft der Abgebauten

Das Reichsfinanzministerium hat
die Beamtenorganisationen für Donnerstag, den
17. Januar, zu einer Besprechung eingeladen, in
der die Frage der Existenzmöglichkeit
nach erfolgtem Abbau
behandelt werden
soll. In der Einladung zur Besprechung heißt
es, daß zu prüfen sei, wie die zahlreichen abge-
bauten Beamten einer produktiven Tätigkeit als
Neben- oder Vollerwerb zugeführt werden können.
Es wird dabei auf die dem Reichsfinanzmini-
sterium gemachten Vorschläge einer Beamten-
[Spaltenumbruch] spitzenorganisation verwiesen, in denen neben der
Inanspruchnahme des allgemeinen Arrbeitsmark-
tes und der Ergreifung technischer und handwerks-
mäßiger Berufe insbesondere die Siedlungsfrage
in den Vordergrund gestellt wird. Dabei wird
weniger an eine rein bäuerliche als gärtnerische
Kleinsiedlung auf genossenschaftlicher Grundlage
gedacht. Die Mittel sollen in erster Linie bei
gemeinnützigen Bodenkreditanstal-
ten
aufgebracht werden. Ferner ist zur Erleichte-
rung der Kapitalbeschaffung und zur Sicherstellung
der Verzinsung an die Umwandlung der Versor-
gungsgebührnisse (Pensionen, Wartegeld, Abfin-
dungssummen) in eine Rente gedacht.

Aburteilung von Straftaten

Durch eine Verordnung des
Reichspräsidenten über die beschleunigte Ab-
urteilung von Straftaten
vom 17. Dez.
1923 wurden die Strafkammern für zuständig er-
klärt zur Aburteilung einer Reihe von Straftaten,
durch die die öffentliche Ordnung, zumal
in den Zeiten der Unruhen, besonders
schwer beeinträchtigt wird.

Um die notwendige schnelle Aburteilung dieser
Straftaten sicherzustellen, sieht die Verordnung
ein abgekürztes und vielfach verein-
fachtes Verfahren
vor. Die Reichsjustiz-
verwaltung war bestrebt, die zeitliche Geltungs-
dauer der Verordnung vom 17. Dez. 1923 mög-
lichst abzukürzen. Nachdem nunmehr die Verord-
nung über die Gerichtsverfassung und Strafrechts-
pflege vom 4. Januar 1924 erlassen ist, scheint der
Zeitpunkt nahegerückt, in welchem die Verordnung
vom 17. Dezember entbehrlich wird. Durch die
in ihr vorgeschlagenen Maßnahmen wird ein Teil
der Gründe beseitigt, die den Erlaß der Verord-
nung vom 17. Dezember notwendig erscheinen
ließen. Es ist auch zu erwarten, daß die Straf-
kammern die dringendsten unter diese Verordnung
fallenden Sachen bereits erledigten oder
doch bis zum Ablauf des Monats werden erledi-
gen können. Der Reichspräsident entschloß sich
deshalb auf Antrag des Reichsministers der
Justiz, die Verordnung vom 17. Dezember 1923
zum 1. Februar außer Kraft zu setzen

Ernster Zwischenfall

In Balona hat sich ein Zwi-
schenfall zwischen Albanien und Italien abgespielt.
Der erste Offizier des italienischen Dampfers
"Serajewe" wurde beim Betreten des Landes von
albanischen Offizieren und Gendarmen schwer
mißhandelt.
Der italienische Gesandte ver-
langte sofort Genugtnung.

[irrelevantes Material]


Schweninger +

In der Sonntagnacht ist der Geheime Medi-
zinalrat Professor Dr. Ernst Schweninger,
der langjährige Leibarzt des Fürsten Bismarck,
in München gestorben. Er stand im 74. Lebens-
jahr. Er hat namentlich durch die Wiederherstel-
lung der Gesundheit des Reichskanzlers Bismarck
Weltruf erlangt. Später war er Leiter großer
Kliniken und Inhaber bedeutsamer Lehrstühle in
Berlin. Nach seinem Rücktritt vom Lehramt
wohnte er in Prinz Ludwighöhe bei München.

Als ich Schweninger zum letzten Male sah, war
er schon leidend. Ein alter Beckenbruch bildete
Fisteln, die ihn quälten. Aber sein Aussehen blieb
frisch und die Augenbrauen wuchteten schwarz und
mächtig über dem klugen Gesicht, das ein stark
angegrauter, doch nicht weißer Spitzbart nach
unten verjüngte.

Sein Landhaus auf Prinz Ludwigshöhe, dessen
Erkerturm über einen Tannenpark hinweg ins
Isartal hinabschaut, umhegt im vergangenen Stil
der Pseudoromantik eine vergangene Zeit. Es
gibt den gleichen Eindruck, den in Bayreuth Haus
Wahnfried macht; das deutsche Genie stellt sich,
maskulin und feminin, in seinen beiden seitlich
stärksten Exponenten dar: Bismarck und Wagner.
Denn der 73 jährige Schweninger war in seinem
Hause nur der Wärter weltgeschichtlicher Erinne-
rung, ehrfürchtiger Tempeldiener einer Tradition,
die des zweiten Wilhelm ehrgeiziger Schwarm-
geist verhängnisvoll verwarf.

Das Standbild Bismarcks, messingblank, be-
wacht die Tür zu Schweningers Arbeitszimmer.
Das Messing ist von Krupp und sicher prima
[Spaltenumbruch] Qualität; künstlerisch ist das große Kniestück in
Oel, von Lenbachs Meisterhand, entschieden vor-
zuziehen. Bismarcks markanter Rundkopf, Knauf
auf einem schwarzen Turm, Blitz aus seinem
Augenpaar, beherrscht den Raum. Die Hände,
aufeinandergelegt, leuchten nur schwach aus dem
Dunkel. Der alte Schweninger empfand das --
künstlerisch zu unrecht -- als einen Mangel, den
er seinem Freunde Lenbach nachtrug. Denn, sagte
er, Bismarck hatte die schönsten Hände, die man
sich denken kann, durchgeistigte Hände, die noch
in der Ruhe sprachen. Sie zu betrachten, war
allein schon Genuß. Unter dem beherrschenden
Bismarckbild drückt sich eine mittelmäßige Bronze-
büste bescheiden in die Fensterecke; sie stellt den
jungen Prinzen Wilhelm dar, der damals noch
"in wärmster Verehrung und treuester Freund-
schaft" für den Kanzler seines kaiserlichen Groß-
vaters schwärmte.

Der Empfangsraum ist vollgestopft mit Er-
innerungen dieser Art. Ein Bruststück zeigt die
Fürstin Bismarck in jungen Jahren, den roten
Mohnkranz im ebenholzschwarzen Haar. Als
Symphonie in Rot und Schwarz ist auch der
Hausherr selbst gemalt: dämonisch sticht der
schwarze Bart aus dem Purpur des Kardinals-
gewandes, das ihm Lenbach umgetan hat.

Bei diesem letzten Zusammensein wirkte der alte
Geheimrat Schweninger auf mich weder dämonisch
noch bajuwarisch. Sein zartgebauter Körper hatte
eher etwas von der Distinktion altfranzösischer
Edelleute, und seine liebenswürdige Weltgewandt-
heit war weit von jener derben Geradheit, die man
seinen jüngeren Jahren nachgesagt hat. Der Arzt
Schweninger zählte einunddreißig Jahre, als er
zu Bismarck gerufen wurde, und siebzehn Jahre
[Spaltenumbruch] lang hat er Krankheit und Tod von diesem kost-
barsten Leben ferngehalten, das für Deutschlands
Größe und Europas Frieden sorgte. Bismarck
war kein bequemer Patient, aber Schweninger
wußte ihn zu nehmen, indem er ihn von vorn-
herein vor die Alternative stellte, sich entweder
widerspruchslos seinen ärztlichen Anordnungen zu
fügen, oder auf seine Dienste zu verzichten. Diese
Entschiedenheit gefiel dem eisernen Kanzler, und
wenn er auch zu Anfang gelegentlich aufmuckte,
so kam er dann doch selbst wieder zu Schweninger,
um die kleine Verstimmung zu beheben. "Mein
Fürst", erzählte der alte Herr, "war einer der
liebenswürdigsten, besorgtesten, vornehmsten Men-
schen, mit dem ich je zu tun hatte. Er war der
rücksichtsvollste Patient, und wenn ich meinerseits
einmal nicht ganz auf dem Damm war, so kam er
gleich mit einem Kognak oder einer anderen Herz-
stärkung zu mir aufs Zimmer und war rührend
um mich bemüht."

Die gleiche bedingslose Verehrung, die Schwe-
ninger dem Menschen Bismarck entgegenbrachte,
hatte er für den Staatsmann. Die Katastrophe
des Weltkrieges erschien dem Vertrauten Bis-
marcks als eine tragische Bestätigung der Voraus-
sicht, mit der der Alte vom Sachsenwald die Po-
litik Wilhelms II. beobachtete. "Wie oft hat
sich mein Fürst die berühmten drei Haare gerauft
und gestöhnt: "Schweninger, Schweninger, ich sehe
es kommen, wir gehen einer furchtbaren Kata-
strophe entgegen!" Der Fürst sah die Einkrei-
sung Deutschlands kommen und er war überzeugt,
daß auch Rußland ein Kettenglied in diesem Ring
bilden würde. Eines seiner letzten Worte an mich
lautete: "Schweninger, ich sage Ihnen, Deutsch-
land geht schweren Zeiten entgegen."

[Spaltenumbruch]

Mit diesen Zeiten, die Bismarcks prophet Wort
wahr gemacht haben, wollte Geh.-Rat Schweninger
nichts gemein haben. Alles, was nach Bismarcks
Tode für ihn kam: die Berufung an das Lichter-
felder Krankenhaus in Berlin, die Mißhelligkeiten
dort, die ihn zum Rücktritt veranlaßten, die Ruhe-
jahre auf Burg Schwaneck, der Weltkrieg, der
seinen Aeltesten verwundet und in Feindeshand
sah, der Zusammenbruch des Bismarckschen Kai-
serreiches, das Satyrspiel der Münchener Räte-
helden, die den verächtlich abweisenden Greis an
die Wand zu stellen drohten -- all das lag tief
im Schatten der gewaltigen Erscheinung, zu der
Ernst Schweninger nun in die Ewigkeit einge-
gangen ist.

Südlicher Charakter

Ein lebendiges, eiliges Land, heftig und heiter
in schnellstem Wechsel, jedes nach kleinem, leichten
Gewinn die Hand rasch ausstreckend und seine
vielen kleinen Enttäuschungen ebenso rasch über-
windend. Viel Freude am Wechselspiel der Rede,
an schlagender Argumentation, sententiös zu-
rechtgemachter Lebensweisheit, und viel Ober-
flächlichkeit zufolge dieser Freude. Ueberall ist
schnelle, deutliche Stellungnahme erstes Erforder-
nis des geselligen Zusammenlebens. Daher eher
theatralisches Durchführen einer nicht ganz echten
Stellungnahme, als jene zurückhaltende, kühle
Art des Nordländers, der sich alles Weitere für
später offen hält. Dies erscheint dem Italiener
als ein Nicht-reagieren und als solches als für
Stumpfheit oder Dummheit, oder er empfindet es
als tückisch. Er selbst ist im Grunde nur selten
tückisch. Aber die Unverbindlichkeit seiner mo-
mentanen Erregungen läßt ihn dem Nordländer
so erscheinen der zudem für die feineren Abstu-
fungen der Ausdrucksformen, deren geringste
schon ihm als Fortissimo erscheint, nicht viel Emp-
findung hat. Der Italiener wird Versprechungen.

Allgemeine Zeitung. Nr. 14 Dienstag, den 15. Januar 1924.
[Spaltenumbruch]

ſondern damit ſie in Größe und Kraft wett-
eifern, jedes ſeine Art von Menſchentum ſo
ſtark und geſund auszuprägen als in ihm
liegt. Und wir wiſſen, daß keines der Völ-
ker mehr an herber, tiefer Kraft, mehr an
innerem Reichtum zu geben hat als das
deutſche Volk. Und indem wir um des
deutſchen Menſchen willen die Größe
unſeres Volkes wollen, wollen wir um
des deutſchen Volkes willen, daß in ihm
die einzelne Perſönlichkeit ſich ſo
tief und reich entfalte und ſo viel Glück
eigenen Weſens aufſteige, als Kraft in ſie
gelegt iſt: Perſönlichkeit des Volkes, Per-
ſönlichkeit des Einzelnen, als Volksdienſt
und Gotteswille.

Wenn wir dies wollen, was müſſen
wir dazu tun?

Auch hier ſei verſucht, fürs erſte Ge-
meinſames
aufzuzeigen, auf deſſen
Grund allein auch Gegenſätzliches zu fried-
lichem Austrag entwickelt werden kann.

1. Wir müſſen den deutſchen
Staat behaupten.
Er und damit das
deutſche Volk ſind ſchlimmer als je bedroht,
ſeit das deutſche Volk bewußt deutſche Ge-
ſchichte erlebt. Wohl ſagt man, ein Volk
von 60 Millionen könne nicht ſterben. Das
iſt ruchloſer Optimismus. Auch ein großes
Volk kann ſterben, und beſonders das deut-
ſche Volk wird verkümmern, ſogar als
Summe von Einzelperſönlichkeiten, ſicher-
lich aber abſterben als geiſtige Perſönlich-
keit, wenn es den nationalen Staat nicht
behauptet, mit anderen Worten, wenn ſein
ſtaatlicher Lebenswille nicht ſtärker iſt als
der Vernichtungswille der Gegner. Dieſen
Willen zum Leben gilts ins ganze Volk zu
tragen, denn wir wollen nicht den Tod
Deutſchlands, auch nicht den Tod ſchönſter
heldiſcher Verzweiflungstat; denn ſchließ-
lich iſt die Antitheſe „lieber tot als Sklave“,
auf ein Volk bezogen, doch nur eine ſchil-
lernde Halbwahrheit, die ganze Wahrheit
aber einfach die Pflicht, weder zu
ſterben noch Sklave zu werden.

Das nächſte deutſche Schickſal entſcheidet
ſich am Rhein. Jäh und zielbewußt drang
die franzöſiſche Beſatzungsmacht vor in der
Beherrſchung des Verkehrs, in der Aus-
höhlung der deutſchen Verwaltung, nun in
Verträgen mit wichtigen großen Wirt-
ſchaftsgruppen; der Separatiſtenterror des
Geſindels laſtet drüchend auf dem Lande
und die Pläne, denen er dient, ſind nicht
allzu ſchwer zu durchſchauen. Dabei iſt die
Wirtſchaftskraft des geſamten Reiches allzu
ſehr geſchwächt, als daß ſie unbegrenzt Kräfte
und Säfte in ein nimmermehr zu füllendes
Becken fremder Forderungen, die über die
weiteſten Grenzen des Vertrages hinaus-
gehen, abfließen laſſen könnte, ohne ſich zu
verbluten und damit beſetztes und unbeſetz-
tes Gebiet gleichermaßen zu Grunde gehen
zu laſſen. Ob Frankreich ſich zu einem
modus vivendi bereit findet, ob ſonſtwie
die Fremdherrſchaft am deutſchen Rhein in
die Grenzen des Vertrages von Verſailles
zurückgeführt werden wird, iſt die Sorge
der nächſten Monate. Wieviel oder wenig
wir erhoffen wollen — darüber müſſen wir
[Spaltenumbruch] uns klar ſein, daß das Reich in dieſer ge-
ſchichtlichen Stunde, die nicht die letzte für
uns ſein darf, aber es werden könnte, wenn
wir nicht ihren furchtbaren Ernſt erfaſſen,
nur eine verläßliche Waffe hat,
die Treue ſeiner Bürger rechts
und links des Rheins.

2. Dieſe Treue kann beſtehen nur auf dem
Boden des Geſetzes. Die Verfaſ-
ſung von Weimar
braucht einem nicht
in allem zu gefallen. Aber wer über ſie
urteilt, der bedenke, daß in ihr das deutſche
Volk die Revolution überwunden und ſich
ein neues Grundgeſetz ſeines Zuſammen-
lebens gegeben hat. Die Autorität der Mon-
archie war zerbrochen; kein großer Mann
erſtand, der in ſich eine neue getragen hätte.
Was blieb, war als letztes die Hoheit des
ganzen Volkes. Im November und De-
zember 1918 wurde ſie von allen als die
einzige Rettung und die einzige Grundlage
neuer Rechtsſchöpfung begriffen. Wer
Aenderungen will, muß ſagen, was an die
Stelle der Demokratie treten ſoll, welcher
Art und Prägung etwa die Monarchie ſein
ſoll, ſei es die eines deutſchen Königs oder
Kaiſers allein, oder auch die der Teilfürſten;
muß wiſſen, durch welch beſſeres anerkann-
tes Syſtem er den Parlamentarismus er-
ſetzen will; und muß bei alledem bedenken,
daß die Verfaſſung eben dieſem deutſchen
Volke in ſeiner derzeitigen außen- und in-
nenpolitiſchen, wirtſchaftlichen und ſozialen
Lage angepaßt ſein muß; und vor allem
muß er jede Beſtimmung darnach werten,
was ſie beiträgt zur Einigung unſeres Vol-
kes in ſich und mit ſeinem Staat und zur
Ueberwindung innerer Zwietracht und
Schwäche. Wer ſo an dieſe verantwortlichen
Fragen herangeht, wird alsbald erkennen,
daß nur ein Weg offen iſt, der der orga-
niſchen verfaſſungsmäßigen
Entwicklung,
und muß innerlich wie
öffentlich jeden Gedanken an gewaltſame
Aenderung ablehnen. Richtig iſt, daß der
Parlamentarismus nicht viel dazu getan
hat, das deutſche Volk an ſeine Kraft und
Würde glauben zu machen, und vor allem
den Sinn für Stil und Schickliches oft ver-
miſſen ließ. Viele im Reichstag geleiſtete
fleißige Arbeit iſt darüber vergeſſen wor-
den, auch das, daß die Gegenſätze dort, trotz
allem bei weitem nicht ſo heftig waren und
ſind, wie der lobenbe Kampf der Preſſe und
Parteiſekretäre im Lande draußen anneh-
men läßt; wer da nach Beſeitigung ruft, der
erwäge dies, prüfe die Möglichkeiten eines
beſſeren Erſatzes und frage ſich, ob etwa die
Auseinanderſetzungen im Lager ſo mancher
Verbände und parlamentsfeindlicher Par-
teien mehr an Willen zur Unterordnung
und Einordnung, mehr an realpolitiſcher
Abwägung, mehr an Eintracht erwarten
laſſen, oder ob nicht doch die demokratiſche
Volksvertretung zu erhalten und in den
Wahlen ebenſo geſtaltet werden muß, daß
die Parteien der Mitte zu innerem Aus-
gleich zu ſtärken ſind, damit aus beiter Ge-
meinſchaft die Regierung auf großer Linie
geführt werden kann.
(Fortſetzung folgt.)

[Spaltenumbruch]
Die Schulden Frankreichs

In einer Wirt-
ſchaftskorreſpondenz wird eine Zuſammen-
ſtellung der öffentlichen Schulden
Frankreichs
veröffentlicht, aus der
ſich folgende Ziffern ergeben: Vorkriegs-
ſchulden 25 Milliarden Franken, Kriegs-
anleihen 133 Milliarden Franken, kurz-
friſtige Schulden in Schatzſcheinen uſw.
70 Milliarden Fr., Anleihen bei der Bank
von Frankreich 23 Milliarden Fr., äußere
Anleihen 120 Milliarden Fr., Anleihen für
die Wiederherſtellung der befreiten Gebiete
30 Milliarden Fr., Kriegsdarlehen an die
Verbündeten 4 Milliarden Fr., jährlicher
Zinſenauflauf 5—6 Milliarden Fr.

Es ergibt ſich alſo insgeſamt eine Summe
von über 400 Milliarden Franken.

Kein Generalſtreik

Die ſozialiſtiſchen
Gewerkſchaften
lehnen im ganzen
Weſten den Generalſtreik ab. Die chriſt-
lichen Gewerkſchaften
ſind nach
wie vor weder für den Metallarbeiter-
kampf noch für den Generalſtreik zu haben,
ausgenommen ſind wenige Orte wie
Krefeld, Benrath und Hilden. — Der
Düſſeldorfer Kampf griff ſo gut wie gar
nicht ins engere Induſtriegebiet über,
außer in Opladen, wo es zwiſchen den
Streikenden und Arbeitsloſen zu Zu-
ſammenſtößen mit der Polizei kam. Aus-
ſchreitungen kamen nicht vor.

Kommuniſtenterror im Ruhrgebiet

Nach dem Beſchluß
des Deutſchen Metallarbeiterverbandes, die ein-
zelnen Organiſationen die Frage des General-
ſtreikes ſelbſtändig entſcheiden zu laſſen, haben die
Kommuniſten in den einzelnen Ortsgruppen im
Ruhrgebiet die Herrſchaft an ſich genommen. Die
Kommuniſten wenden alle Mittel an, die Arbeits-
willigen an der Ausütbung ihrer Arbeit zu ver-
hindern. Die Polizei in Gelſenkirchen wurde
mehrfach gezwungen, mit blanker Waffe
einzugreifen,
um den Beläſtigungen der
Arbeitswilligen entgegenzutreten. Von den De-
monſtranten wurden mehrere verwundet. Durch
die von den Streikenden auf die Blaue Polizei
abgegebenen Revolverſchüſſe wurde ein Polizei-
beamter verwundet. Die Ortsleitung des Deut-
ſchen Metallarbeiterverbandes in Gelſenkirchen
will alles verſuchen, um die reſtloſe Arbeitsnieder-
legung im ganzen Bezirk zu erzwingen.

Hilfe für deutſche Kinder

Die Schweizer
Eiſenbahner
faßten den hochherzigen Ent-
ſchluß, in ihren Familien einer größeren Anzahl
erholungsbedürftiger und notleidender Kinder
deutſcher Reichsbahnbedienſteten unentgeltlichen
Erholungsaufenthalt zu gewähren. Es werden
für den erſten Transport nur Kinder aus dem
ſüdweſtlichen Reichsbahngebiet ausgewählt. Der
Reichsverkehrsminiſter ſprach der ſchweizeriſchen
Eiſenbahnerſchaft den Dank der deutſchen Reichs-
bahnverwaltung aus.

Die Zukunft der Abgebauten

Das Reichsfinanzminiſterium hat
die Beamtenorganiſationen für Donnerstag, den
17. Januar, zu einer Beſprechung eingeladen, in
der die Frage der Exiſtenzmöglichkeit
nach erfolgtem Abbau
behandelt werden
ſoll. In der Einladung zur Beſprechung heißt
es, daß zu prüfen ſei, wie die zahlreichen abge-
bauten Beamten einer produktiven Tätigkeit als
Neben- oder Vollerwerb zugeführt werden können.
Es wird dabei auf die dem Reichsfinanzmini-
ſterium gemachten Vorſchläge einer Beamten-
[Spaltenumbruch] ſpitzenorganiſation verwieſen, in denen neben der
Inanſpruchnahme des allgemeinen Arrbeitsmark-
tes und der Ergreifung techniſcher und handwerks-
mäßiger Berufe insbeſondere die Siedlungsfrage
in den Vordergrund geſtellt wird. Dabei wird
weniger an eine rein bäuerliche als gärtneriſche
Kleinſiedlung auf genoſſenſchaftlicher Grundlage
gedacht. Die Mittel ſollen in erſter Linie bei
gemeinnützigen Bodenkreditanſtal-
ten
aufgebracht werden. Ferner iſt zur Erleichte-
rung der Kapitalbeſchaffung und zur Sicherſtellung
der Verzinſung an die Umwandlung der Verſor-
gungsgebührniſſe (Penſionen, Wartegeld, Abfin-
dungsſummen) in eine Rente gedacht.

Aburteilung von Straftaten

Durch eine Verordnung des
Reichspräſidenten über die beſchleunigte Ab-
urteilung von Straftaten
vom 17. Dez.
1923 wurden die Strafkammern für zuſtändig er-
klärt zur Aburteilung einer Reihe von Straftaten,
durch die die öffentliche Ordnung, zumal
in den Zeiten der Unruhen, beſonders
ſchwer beeinträchtigt wird.

Um die notwendige ſchnelle Aburteilung dieſer
Straftaten ſicherzuſtellen, ſieht die Verordnung
ein abgekürztes und vielfach verein-
fachtes Verfahren
vor. Die Reichsjuſtiz-
verwaltung war beſtrebt, die zeitliche Geltungs-
dauer der Verordnung vom 17. Dez. 1923 mög-
lichſt abzukürzen. Nachdem nunmehr die Verord-
nung über die Gerichtsverfaſſung und Strafrechts-
pflege vom 4. Januar 1924 erlaſſen iſt, ſcheint der
Zeitpunkt nahegerückt, in welchem die Verordnung
vom 17. Dezember entbehrlich wird. Durch die
in ihr vorgeſchlagenen Maßnahmen wird ein Teil
der Gründe beſeitigt, die den Erlaß der Verord-
nung vom 17. Dezember notwendig erſcheinen
ließen. Es iſt auch zu erwarten, daß die Straf-
kammern die dringendſten unter dieſe Verordnung
fallenden Sachen bereits erledigten oder
doch bis zum Ablauf des Monats werden erledi-
gen können. Der Reichspräſident entſchloß ſich
deshalb auf Antrag des Reichsminiſters der
Juſtiz, die Verordnung vom 17. Dezember 1923
zum 1. Februar außer Kraft zu ſetzen

Ernſter Zwiſchenfall

In Balona hat ſich ein Zwi-
ſchenfall zwiſchen Albanien und Italien abgeſpielt.
Der erſte Offizier des italieniſchen Dampfers
„Serajewe“ wurde beim Betreten des Landes von
albaniſchen Offizieren und Gendarmen ſchwer
mißhandelt.
Der italieniſche Geſandte ver-
langte ſofort Genugtnung.

[irrelevantes Material]


Schweninger †

In der Sonntagnacht iſt der Geheime Medi-
zinalrat Profeſſor Dr. Ernſt Schweninger,
der langjährige Leibarzt des Fürſten Bismarck,
in München geſtorben. Er ſtand im 74. Lebens-
jahr. Er hat namentlich durch die Wiederherſtel-
lung der Geſundheit des Reichskanzlers Bismarck
Weltruf erlangt. Später war er Leiter großer
Kliniken und Inhaber bedeutſamer Lehrſtühle in
Berlin. Nach ſeinem Rücktritt vom Lehramt
wohnte er in Prinz Ludwighöhe bei München.

Als ich Schweninger zum letzten Male ſah, war
er ſchon leidend. Ein alter Beckenbruch bildete
Fiſteln, die ihn quälten. Aber ſein Ausſehen blieb
friſch und die Augenbrauen wuchteten ſchwarz und
mächtig über dem klugen Geſicht, das ein ſtark
angegrauter, doch nicht weißer Spitzbart nach
unten verjüngte.

Sein Landhaus auf Prinz Ludwigshöhe, deſſen
Erkerturm über einen Tannenpark hinweg ins
Iſartal hinabſchaut, umhegt im vergangenen Stil
der Pſeudoromantik eine vergangene Zeit. Es
gibt den gleichen Eindruck, den in Bayreuth Haus
Wahnfried macht; das deutſche Genie ſtellt ſich,
maskulin und feminin, in ſeinen beiden ſeitlich
ſtärkſten Exponenten dar: Bismarck und Wagner.
Denn der 73 jährige Schweninger war in ſeinem
Hauſe nur der Wärter weltgeſchichtlicher Erinne-
rung, ehrfürchtiger Tempeldiener einer Tradition,
die des zweiten Wilhelm ehrgeiziger Schwarm-
geiſt verhängnisvoll verwarf.

Das Standbild Bismarcks, meſſingblank, be-
wacht die Tür zu Schweningers Arbeitszimmer.
Das Meſſing iſt von Krupp und ſicher prima
[Spaltenumbruch] Qualität; künſtleriſch iſt das große Knieſtück in
Oel, von Lenbachs Meiſterhand, entſchieden vor-
zuziehen. Bismarcks markanter Rundkopf, Knauf
auf einem ſchwarzen Turm, Blitz aus ſeinem
Augenpaar, beherrſcht den Raum. Die Hände,
aufeinandergelegt, leuchten nur ſchwach aus dem
Dunkel. Der alte Schweninger empfand das —
künſtleriſch zu unrecht — als einen Mangel, den
er ſeinem Freunde Lenbach nachtrug. Denn, ſagte
er, Bismarck hatte die ſchönſten Hände, die man
ſich denken kann, durchgeiſtigte Hände, die noch
in der Ruhe ſprachen. Sie zu betrachten, war
allein ſchon Genuß. Unter dem beherrſchenden
Bismarckbild drückt ſich eine mittelmäßige Bronze-
büſte beſcheiden in die Fenſterecke; ſie ſtellt den
jungen Prinzen Wilhelm dar, der damals noch
„in wärmſter Verehrung und treueſter Freund-
ſchaft“ für den Kanzler ſeines kaiſerlichen Groß-
vaters ſchwärmte.

Der Empfangsraum iſt vollgeſtopft mit Er-
innerungen dieſer Art. Ein Bruſtſtück zeigt die
Fürſtin Bismarck in jungen Jahren, den roten
Mohnkranz im ebenholzſchwarzen Haar. Als
Symphonie in Rot und Schwarz iſt auch der
Hausherr ſelbſt gemalt: dämoniſch ſticht der
ſchwarze Bart aus dem Purpur des Kardinals-
gewandes, das ihm Lenbach umgetan hat.

Bei dieſem letzten Zuſammenſein wirkte der alte
Geheimrat Schweninger auf mich weder dämoniſch
noch bajuwariſch. Sein zartgebauter Körper hatte
eher etwas von der Diſtinktion altfranzöſiſcher
Edelleute, und ſeine liebenswürdige Weltgewandt-
heit war weit von jener derben Geradheit, die man
ſeinen jüngeren Jahren nachgeſagt hat. Der Arzt
Schweninger zählte einunddreißig Jahre, als er
zu Bismarck gerufen wurde, und ſiebzehn Jahre
[Spaltenumbruch] lang hat er Krankheit und Tod von dieſem koſt-
barſten Leben ferngehalten, das für Deutſchlands
Größe und Europas Frieden ſorgte. Bismarck
war kein bequemer Patient, aber Schweninger
wußte ihn zu nehmen, indem er ihn von vorn-
herein vor die Alternative ſtellte, ſich entweder
widerſpruchslos ſeinen ärztlichen Anordnungen zu
fügen, oder auf ſeine Dienſte zu verzichten. Dieſe
Entſchiedenheit gefiel dem eiſernen Kanzler, und
wenn er auch zu Anfang gelegentlich aufmuckte,
ſo kam er dann doch ſelbſt wieder zu Schweninger,
um die kleine Verſtimmung zu beheben. „Mein
Fürſt“, erzählte der alte Herr, „war einer der
liebenswürdigſten, beſorgteſten, vornehmſten Men-
ſchen, mit dem ich je zu tun hatte. Er war der
rückſichtsvollſte Patient, und wenn ich meinerſeits
einmal nicht ganz auf dem Damm war, ſo kam er
gleich mit einem Kognak oder einer anderen Herz-
ſtärkung zu mir aufs Zimmer und war rührend
um mich bemüht.“

Die gleiche bedingsloſe Verehrung, die Schwe-
ninger dem Menſchen Bismarck entgegenbrachte,
hatte er für den Staatsmann. Die Kataſtrophe
des Weltkrieges erſchien dem Vertrauten Bis-
marcks als eine tragiſche Beſtätigung der Voraus-
ſicht, mit der der Alte vom Sachſenwald die Po-
litik Wilhelms II. beobachtete. „Wie oft hat
ſich mein Fürſt die berühmten drei Haare gerauft
und geſtöhnt: „Schweninger, Schweninger, ich ſehe
es kommen, wir gehen einer furchtbaren Kata-
ſtrophe entgegen!“ Der Fürſt ſah die Einkrei-
ſung Deutſchlands kommen und er war überzeugt,
daß auch Rußland ein Kettenglied in dieſem Ring
bilden würde. Eines ſeiner letzten Worte an mich
lautete: „Schweninger, ich ſage Ihnen, Deutſch-
land geht ſchweren Zeiten entgegen.“

[Spaltenumbruch]

Mit dieſen Zeiten, die Bismarcks prophet Wort
wahr gemacht haben, wollte Geh.-Rat Schweninger
nichts gemein haben. Alles, was nach Bismarcks
Tode für ihn kam: die Berufung an das Lichter-
felder Krankenhaus in Berlin, die Mißhelligkeiten
dort, die ihn zum Rücktritt veranlaßten, die Ruhe-
jahre auf Burg Schwaneck, der Weltkrieg, der
ſeinen Aelteſten verwundet und in Feindeshand
ſah, der Zuſammenbruch des Bismarckſchen Kai-
ſerreiches, das Satyrſpiel der Münchener Räte-
helden, die den verächtlich abweiſenden Greis an
die Wand zu ſtellen drohten — all das lag tief
im Schatten der gewaltigen Erſcheinung, zu der
Ernſt Schweninger nun in die Ewigkeit einge-
gangen iſt.

Südlicher Charakter

Ein lebendiges, eiliges Land, heftig und heiter
in ſchnellſtem Wechſel, jedes nach kleinem, leichten
Gewinn die Hand raſch ausſtreckend und ſeine
vielen kleinen Enttäuſchungen ebenſo raſch über-
windend. Viel Freude am Wechſelſpiel der Rede,
an ſchlagender Argumentation, ſententiös zu-
rechtgemachter Lebensweisheit, und viel Ober-
flächlichkeit zufolge dieſer Freude. Ueberall iſt
ſchnelle, deutliche Stellungnahme erſtes Erforder-
nis des geſelligen Zuſammenlebens. Daher eher
theatraliſches Durchführen einer nicht ganz echten
Stellungnahme, als jene zurückhaltende, kühle
Art des Nordländers, der ſich alles Weitere für
ſpäter offen hält. Dies erſcheint dem Italiener
als ein Nicht-reagieren und als ſolches als für
Stumpfheit oder Dummheit, oder er empfindet es
als tückiſch. Er ſelbſt iſt im Grunde nur ſelten
tückiſch. Aber die Unverbindlichkeit ſeiner mo-
mentanen Erregungen läßt ihn dem Nordländer
ſo erſcheinen der zudem für die feineren Abſtu-
fungen der Ausdrucksformen, deren geringſte
ſchon ihm als Fortiſſimo erſcheint, nicht viel Emp-
findung hat. Der Italiener wird Verſprechungen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jPoliticalNews" n="1">
        <div type="jComment" n="2">
          <pb facs="#f0002" n="Seite 2[2]"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Allgemeine Zeitung.</hi> Nr. 14 Dienstag, den 15. Januar 1924.</hi> </fw><lb/>
          <cb/>
          <p>&#x017F;ondern damit &#x017F;ie in Größe und Kraft wett-<lb/>
eifern, jedes &#x017F;eine Art von Men&#x017F;chentum &#x017F;o<lb/>
&#x017F;tark und ge&#x017F;und auszuprägen als in ihm<lb/>
liegt. Und wir wi&#x017F;&#x017F;en, daß keines der Völ-<lb/>
ker mehr an herber, tiefer Kraft, mehr an<lb/>
innerem Reichtum zu geben hat als das<lb/>
deut&#x017F;che Volk. Und indem wir um des<lb/>
deut&#x017F;chen <hi rendition="#g">Men&#x017F;chen</hi> willen die Größe<lb/>
un&#x017F;eres <hi rendition="#g">Volkes</hi> wollen, wollen wir um<lb/>
des deut&#x017F;chen <hi rendition="#g">Volkes</hi> willen, daß in ihm<lb/>
die einzelne <hi rendition="#g">Per&#x017F;önlichkeit</hi> &#x017F;ich &#x017F;o<lb/>
tief und reich entfalte und &#x017F;o viel Glück<lb/>
eigenen We&#x017F;ens auf&#x017F;teige, als Kraft in &#x017F;ie<lb/>
gelegt i&#x017F;t: Per&#x017F;önlichkeit des Volkes, Per-<lb/>
&#x017F;önlichkeit des Einzelnen, als Volksdien&#x017F;t<lb/>
und Gotteswille.</p><lb/>
          <p>Wenn wir dies <hi rendition="#g">wollen,</hi> was <hi rendition="#g">&#x017F;&#x017F;en</hi><lb/>
wir dazu <hi rendition="#g">tun?</hi></p><lb/>
          <p>Auch hier &#x017F;ei ver&#x017F;ucht, fürs er&#x017F;te <hi rendition="#g">Ge-<lb/>
mein&#x017F;ames</hi> aufzuzeigen, auf de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Grund allein auch Gegen&#x017F;ätzliches zu fried-<lb/>
lichem Austrag entwickelt werden kann.</p><lb/>
          <p>1. <hi rendition="#g">Wir mü&#x017F;&#x017F;en den deut&#x017F;chen<lb/>
Staat behaupten.</hi> Er und damit das<lb/>
deut&#x017F;che Volk &#x017F;ind &#x017F;chlimmer als je bedroht,<lb/>
&#x017F;eit das deut&#x017F;che Volk bewußt deut&#x017F;che Ge-<lb/>
&#x017F;chichte erlebt. Wohl &#x017F;agt man, ein Volk<lb/>
von 60 Millionen könne nicht &#x017F;terben. Das<lb/>
i&#x017F;t ruchlo&#x017F;er Optimismus. Auch ein großes<lb/>
Volk kann &#x017F;terben, und be&#x017F;onders das deut-<lb/>
&#x017F;che Volk wird verkümmern, &#x017F;ogar als<lb/>
Summe von Einzelper&#x017F;önlichkeiten, &#x017F;icher-<lb/>
lich aber ab&#x017F;terben als gei&#x017F;tige Per&#x017F;önlich-<lb/>
keit, wenn es den nationalen Staat nicht<lb/>
behauptet, mit anderen Worten, wenn &#x017F;ein<lb/>
&#x017F;taatlicher Lebenswille nicht &#x017F;tärker i&#x017F;t als<lb/>
der Vernichtungswille der Gegner. Die&#x017F;en<lb/>
Willen zum Leben gilts ins ganze Volk zu<lb/>
tragen, denn wir wollen nicht den Tod<lb/>
Deut&#x017F;chlands, auch nicht den Tod &#x017F;chön&#x017F;ter<lb/>
heldi&#x017F;cher Verzweiflungstat; denn &#x017F;chließ-<lb/>
lich i&#x017F;t die Antithe&#x017F;e &#x201E;lieber tot als Sklave&#x201C;,<lb/>
auf ein Volk bezogen, doch nur eine &#x017F;chil-<lb/>
lernde Halbwahrheit, die ganze Wahrheit<lb/>
aber einfach <hi rendition="#g">die Pflicht, weder zu<lb/>
&#x017F;terben noch Sklave zu werden.</hi><lb/>
Das näch&#x017F;te deut&#x017F;che Schick&#x017F;al ent&#x017F;cheidet<lb/>
&#x017F;ich am Rhein. Jäh und zielbewußt drang<lb/>
die franzö&#x017F;i&#x017F;che Be&#x017F;atzungsmacht vor in der<lb/>
Beherr&#x017F;chung des Verkehrs, in der Aus-<lb/>
höhlung der deut&#x017F;chen Verwaltung, nun in<lb/>
Verträgen mit wichtigen großen Wirt-<lb/>
&#x017F;chaftsgruppen; der Separati&#x017F;tenterror des<lb/>
Ge&#x017F;indels la&#x017F;tet drüchend auf dem Lande<lb/>
und die Pläne, denen er dient, &#x017F;ind nicht<lb/>
allzu &#x017F;chwer zu durch&#x017F;chauen. Dabei i&#x017F;t die<lb/>
Wirt&#x017F;chaftskraft des ge&#x017F;amten Reiches allzu<lb/>
&#x017F;ehr ge&#x017F;chwächt, als daß &#x017F;ie unbegrenzt Kräfte<lb/>
und Säfte in ein nimmermehr zu füllendes<lb/>
Becken fremder Forderungen, die über die<lb/>
weite&#x017F;ten Grenzen des Vertrages hinaus-<lb/>
gehen, abfließen la&#x017F;&#x017F;en könnte, ohne &#x017F;ich zu<lb/>
verbluten und damit be&#x017F;etztes und unbe&#x017F;etz-<lb/>
tes Gebiet gleichermaßen zu Grunde gehen<lb/>
zu la&#x017F;&#x017F;en. Ob Frankreich &#x017F;ich zu einem<lb/>
modus vivendi bereit findet, ob &#x017F;on&#x017F;twie<lb/>
die Fremdherr&#x017F;chaft am deut&#x017F;chen Rhein in<lb/>
die Grenzen des Vertrages von Ver&#x017F;ailles<lb/>
zurückgeführt werden wird, i&#x017F;t die Sorge<lb/>
der näch&#x017F;ten Monate. Wieviel oder wenig<lb/>
wir erhoffen wollen &#x2014; darüber mü&#x017F;&#x017F;en wir<lb/><cb/>
uns klar &#x017F;ein, daß das Reich in die&#x017F;er ge-<lb/>
&#x017F;chichtlichen Stunde, die nicht die letzte für<lb/>
uns &#x017F;ein <hi rendition="#g">darf,</hi> aber es werden könnte, wenn<lb/>
wir nicht ihren furchtbaren Ern&#x017F;t erfa&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
nur <hi rendition="#g">eine verläßliche Waffe hat,<lb/>
die Treue &#x017F;einer Bürger rechts<lb/>
und links des Rheins.</hi></p><lb/>
          <p>2. Die&#x017F;e Treue kann be&#x017F;tehen nur auf dem<lb/><hi rendition="#g">Boden des Ge&#x017F;etzes.</hi> Die <hi rendition="#g">Verfa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ung von Weimar</hi> braucht einem nicht<lb/>
in allem zu gefallen. Aber wer über &#x017F;ie<lb/>
urteilt, der bedenke, daß in ihr das deut&#x017F;che<lb/>
Volk die Revolution überwunden und &#x017F;ich<lb/>
ein neues Grundge&#x017F;etz &#x017F;eines Zu&#x017F;ammen-<lb/>
lebens gegeben hat. Die Autorität der Mon-<lb/>
archie war zerbrochen; kein großer Mann<lb/>
er&#x017F;tand, der in &#x017F;ich eine neue getragen hätte.<lb/>
Was blieb, war als letztes die Hoheit des<lb/>
ganzen Volkes. Im November und De-<lb/>
zember 1918 wurde &#x017F;ie von allen als die<lb/>
einzige Rettung und die einzige Grundlage<lb/>
neuer Rechts&#x017F;chöpfung begriffen. Wer<lb/>
Aenderungen will, muß &#x017F;agen, was an die<lb/>
Stelle der Demokratie treten &#x017F;oll, welcher<lb/>
Art und Prägung etwa die Monarchie &#x017F;ein<lb/>
&#x017F;oll, &#x017F;ei es die eines deut&#x017F;chen Königs oder<lb/>
Kai&#x017F;ers allein, oder auch die der Teilfür&#x017F;ten;<lb/>
muß wi&#x017F;&#x017F;en, durch welch be&#x017F;&#x017F;eres anerkann-<lb/>
tes Sy&#x017F;tem er den Parlamentarismus er-<lb/>
&#x017F;etzen will; und muß bei alledem bedenken,<lb/>
daß die Verfa&#x017F;&#x017F;ung eben die&#x017F;em deut&#x017F;chen<lb/>
Volke in &#x017F;einer derzeitigen außen- und in-<lb/>
nenpoliti&#x017F;chen, wirt&#x017F;chaftlichen und &#x017F;ozialen<lb/>
Lage angepaßt &#x017F;ein muß; und vor allem<lb/>
muß er jede Be&#x017F;timmung darnach werten,<lb/>
was &#x017F;ie beiträgt zur Einigung un&#x017F;eres Vol-<lb/>
kes in &#x017F;ich und mit &#x017F;einem Staat und zur<lb/>
Ueberwindung innerer Zwietracht und<lb/>
Schwäche. Wer &#x017F;o an die&#x017F;e verantwortlichen<lb/>
Fragen herangeht, wird alsbald erkennen,<lb/>
daß nur ein Weg offen i&#x017F;t, der der <hi rendition="#g">orga-<lb/>
ni&#x017F;chen verfa&#x017F;&#x017F;ungsmäßigen<lb/>
Entwicklung,</hi> und muß innerlich wie<lb/>
öffentlich jeden Gedanken an gewalt&#x017F;ame<lb/>
Aenderung ablehnen. Richtig i&#x017F;t, daß der<lb/>
Parlamentarismus nicht viel dazu getan<lb/>
hat, das deut&#x017F;che Volk an &#x017F;eine Kraft und<lb/>
Würde glauben zu machen, und vor allem<lb/>
den Sinn für Stil und Schickliches oft ver-<lb/>
mi&#x017F;&#x017F;en ließ. Viele im Reichstag gelei&#x017F;tete<lb/>
fleißige Arbeit i&#x017F;t darüber verge&#x017F;&#x017F;en wor-<lb/>
den, auch das, daß die Gegen&#x017F;ätze dort, trotz<lb/>
allem bei weitem nicht &#x017F;o heftig waren und<lb/>
&#x017F;ind, wie der lobenbe Kampf der Pre&#x017F;&#x017F;e und<lb/>
Partei&#x017F;ekretäre im Lande draußen anneh-<lb/>
men läßt; wer da nach Be&#x017F;eitigung ruft, der<lb/>
erwäge dies, prüfe die Möglichkeiten eines<lb/>
be&#x017F;&#x017F;eren Er&#x017F;atzes und frage &#x017F;ich, ob etwa die<lb/>
Auseinander&#x017F;etzungen im Lager &#x017F;o mancher<lb/>
Verbände und parlamentsfeindlicher Par-<lb/>
teien mehr an Willen zur Unterordnung<lb/>
und Einordnung, mehr an realpoliti&#x017F;cher<lb/>
Abwägung, mehr an Eintracht erwarten<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, oder ob nicht doch die demokrati&#x017F;che<lb/>
Volksvertretung zu erhalten und in den<lb/>
Wahlen eben&#x017F;o ge&#x017F;taltet werden muß, daß<lb/>
die Parteien der Mitte zu innerem Aus-<lb/>
gleich zu &#x017F;tärken &#x017F;ind, damit aus beiter Ge-<lb/>
mein&#x017F;chaft die Regierung auf großer Linie<lb/>
geführt werden kann.<lb/>
(Fort&#x017F;etzung folgt.)</p><lb/>
          <cb/>
        </div>
        <div type="jArticle" n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Die Schulden Frankreichs</hi> </head><lb/>
          <dateline><hi rendition="#b">Berlin,</hi> 14. Januar.</dateline><lb/>
          <p>In einer Wirt-<lb/>
&#x017F;chaftskorre&#x017F;pondenz wird eine Zu&#x017F;ammen-<lb/>
&#x017F;tellung der öffentlichen <hi rendition="#g">Schulden<lb/>
Frankreichs</hi> veröffentlicht, aus der<lb/>
&#x017F;ich folgende Ziffern ergeben: Vorkriegs-<lb/>
&#x017F;chulden 25 Milliarden Franken, Kriegs-<lb/>
anleihen 133 Milliarden Franken, kurz-<lb/>
fri&#x017F;tige Schulden in Schatz&#x017F;cheinen u&#x017F;w.<lb/>
70 Milliarden Fr., Anleihen bei der Bank<lb/>
von Frankreich 23 Milliarden Fr., äußere<lb/>
Anleihen 120 Milliarden Fr., Anleihen für<lb/>
die Wiederher&#x017F;tellung der befreiten Gebiete<lb/>
30 Milliarden Fr., Kriegsdarlehen an die<lb/>
Verbündeten 4 Milliarden Fr., jährlicher<lb/>
Zin&#x017F;enauflauf 5&#x2014;6 Milliarden Fr.</p><lb/>
          <p>Es ergibt &#x017F;ich al&#x017F;o insge&#x017F;amt eine Summe<lb/>
von über 400 Milliarden Franken.</p>
        </div><lb/>
        <div type="jArticle" n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Kein General&#x017F;treik</hi> </head><lb/>
          <dateline><hi rendition="#b">Köln,</hi> 14. Jan.</dateline><lb/>
          <p>Die <hi rendition="#g">&#x017F;oziali&#x017F;ti&#x017F;chen<lb/>
Gewerk&#x017F;chaften</hi> lehnen im ganzen<lb/>
We&#x017F;ten den General&#x017F;treik ab. Die <hi rendition="#g">chri&#x017F;t-<lb/>
lichen Gewerk&#x017F;chaften</hi> &#x017F;ind nach<lb/>
wie vor weder für den Metallarbeiter-<lb/>
kampf noch für den General&#x017F;treik zu haben,<lb/>
ausgenommen &#x017F;ind wenige Orte wie<lb/>
Krefeld, Benrath und Hilden. &#x2014; Der<lb/>&#x017F;&#x017F;eldorfer Kampf griff &#x017F;o gut wie gar<lb/>
nicht ins engere Indu&#x017F;triegebiet über,<lb/>
außer in Opladen, wo es zwi&#x017F;chen den<lb/>
Streikenden und Arbeitslo&#x017F;en zu Zu-<lb/>
&#x017F;ammen&#x017F;tößen mit der Polizei kam. Aus-<lb/>
&#x017F;chreitungen kamen nicht vor.</p>
        </div><lb/>
        <div type="jArticle" n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Kommuni&#x017F;tenterror im Ruhrgebiet</hi> </head><lb/>
          <dateline>* <hi rendition="#b">Gel&#x017F;enkirchen,</hi> 14. Jan.</dateline><lb/>
          <p>Nach dem Be&#x017F;chluß<lb/>
des Deut&#x017F;chen Metallarbeiterverbandes, die ein-<lb/>
zelnen Organi&#x017F;ationen die Frage des General-<lb/>
&#x017F;treikes &#x017F;elb&#x017F;tändig ent&#x017F;cheiden zu la&#x017F;&#x017F;en, haben die<lb/>
Kommuni&#x017F;ten in den einzelnen Ortsgruppen im<lb/>
Ruhrgebiet die Herr&#x017F;chaft an &#x017F;ich genommen. Die<lb/>
Kommuni&#x017F;ten wenden alle Mittel an, die Arbeits-<lb/>
willigen an der Ausütbung ihrer Arbeit zu ver-<lb/>
hindern. Die <hi rendition="#g">Polizei</hi> in Gel&#x017F;enkirchen wurde<lb/>
mehrfach gezwungen, <hi rendition="#g">mit blanker Waffe<lb/>
einzugreifen,</hi> um den Belä&#x017F;tigungen der<lb/>
Arbeitswilligen entgegenzutreten. Von den De-<lb/>
mon&#x017F;tranten wurden mehrere verwundet. Durch<lb/>
die von den Streikenden auf die Blaue Polizei<lb/>
abgegebenen Revolver&#x017F;chü&#x017F;&#x017F;e wurde ein Polizei-<lb/>
beamter verwundet. Die Ortsleitung des Deut-<lb/>
&#x017F;chen Metallarbeiterverbandes in Gel&#x017F;enkirchen<lb/>
will alles ver&#x017F;uchen, um die re&#x017F;tlo&#x017F;e Arbeitsnieder-<lb/>
legung im ganzen Bezirk zu erzwingen.</p>
        </div><lb/>
        <div type="jArticle" n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Hilfe für deut&#x017F;che Kinder</hi> </head><lb/>
          <dateline><hi rendition="#b">* Berlin,</hi> 12. Januar.</dateline><lb/>
          <p>Die <hi rendition="#g">Schweizer<lb/>
Ei&#x017F;enbahner</hi> faßten den hochherzigen Ent-<lb/>
&#x017F;chluß, in ihren Familien einer größeren Anzahl<lb/>
erholungsbedürftiger und notleidender Kinder<lb/>
deut&#x017F;cher Reichsbahnbedien&#x017F;teten unentgeltlichen<lb/>
Erholungsaufenthalt zu gewähren. Es werden<lb/>
für den er&#x017F;ten Transport nur Kinder aus dem<lb/>
&#x017F;üdwe&#x017F;tlichen Reichsbahngebiet ausgewählt. Der<lb/>
Reichsverkehrsmini&#x017F;ter &#x017F;prach der &#x017F;chweizeri&#x017F;chen<lb/>
Ei&#x017F;enbahner&#x017F;chaft den Dank der deut&#x017F;chen Reichs-<lb/>
bahnverwaltung aus.</p>
        </div><lb/>
        <div type="jArticle" n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Die Zukunft der Abgebauten</hi> </head><lb/>
          <p>Das <hi rendition="#g">Reichsfinanzmini&#x017F;terium</hi> hat<lb/>
die Beamtenorgani&#x017F;ationen für Donnerstag, den<lb/>
17. Januar, zu einer Be&#x017F;prechung eingeladen, in<lb/>
der die Frage der <hi rendition="#g">Exi&#x017F;tenzmöglichkeit<lb/>
nach erfolgtem Abbau</hi> behandelt werden<lb/>
&#x017F;oll. In der Einladung zur Be&#x017F;prechung heißt<lb/>
es, daß zu prüfen &#x017F;ei, wie die zahlreichen abge-<lb/>
bauten Beamten einer produktiven Tätigkeit als<lb/>
Neben- oder Vollerwerb zugeführt werden können.<lb/>
Es wird dabei auf die dem Reichsfinanzmini-<lb/>
&#x017F;terium gemachten Vor&#x017F;chläge einer Beamten-<lb/><cb/>
&#x017F;pitzenorgani&#x017F;ation verwie&#x017F;en, in denen neben der<lb/>
Inan&#x017F;pruchnahme des allgemeinen Arrbeitsmark-<lb/>
tes und der Ergreifung techni&#x017F;cher und handwerks-<lb/>
mäßiger Berufe insbe&#x017F;ondere die Siedlungsfrage<lb/>
in den Vordergrund ge&#x017F;tellt wird. Dabei wird<lb/>
weniger an eine rein bäuerliche als gärtneri&#x017F;che<lb/>
Klein&#x017F;iedlung auf geno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlicher Grundlage<lb/>
gedacht. Die Mittel &#x017F;ollen in er&#x017F;ter Linie <hi rendition="#g">bei<lb/>
gemeinnützigen Bodenkreditan&#x017F;tal-<lb/>
ten</hi> aufgebracht werden. Ferner i&#x017F;t zur Erleichte-<lb/>
rung der Kapitalbe&#x017F;chaffung und zur Sicher&#x017F;tellung<lb/>
der Verzin&#x017F;ung an die Umwandlung der Ver&#x017F;or-<lb/>
gungsgebührni&#x017F;&#x017F;e (Pen&#x017F;ionen, Wartegeld, Abfin-<lb/>
dungs&#x017F;ummen) in eine Rente gedacht.</p>
        </div><lb/>
        <div type="jArticle" n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Aburteilung von Straftaten</hi> </head><lb/>
          <dateline>Berlin, 14. Jan.</dateline><lb/>
          <p>Durch eine Verordnung des<lb/>
Reichsprä&#x017F;identen über die <hi rendition="#g">be&#x017F;chleunigte Ab-<lb/>
urteilung von Straftaten</hi> vom 17. Dez.<lb/>
1923 wurden die Strafkammern für zu&#x017F;tändig er-<lb/>
klärt zur Aburteilung einer Reihe von Straftaten,<lb/>
durch die die <hi rendition="#g">öffentliche Ordnung,</hi> zumal<lb/>
in den <hi rendition="#g">Zeiten der Unruhen,</hi> be&#x017F;onders<lb/>
&#x017F;chwer beeinträchtigt wird.</p><lb/>
          <p>Um die notwendige &#x017F;chnelle Aburteilung die&#x017F;er<lb/>
Straftaten &#x017F;icherzu&#x017F;tellen, &#x017F;ieht die Verordnung<lb/><hi rendition="#g">ein abgekürztes und vielfach verein-<lb/>
fachtes Verfahren</hi> vor. Die Reichsju&#x017F;tiz-<lb/>
verwaltung war be&#x017F;trebt, die zeitliche Geltungs-<lb/>
dauer der Verordnung vom 17. Dez. 1923 mög-<lb/>
lich&#x017F;t abzukürzen. Nachdem nunmehr die Verord-<lb/>
nung über die Gerichtsverfa&#x017F;&#x017F;ung und Strafrechts-<lb/>
pflege vom 4. Januar 1924 erla&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t, &#x017F;cheint der<lb/>
Zeitpunkt nahegerückt, in welchem die Verordnung<lb/>
vom 17. Dezember entbehrlich wird. Durch die<lb/>
in ihr vorge&#x017F;chlagenen Maßnahmen wird ein Teil<lb/>
der Gründe be&#x017F;eitigt, die den Erlaß der Verord-<lb/>
nung vom 17. Dezember notwendig er&#x017F;cheinen<lb/>
ließen. Es i&#x017F;t auch zu erwarten, daß die Straf-<lb/>
kammern die dringend&#x017F;ten unter die&#x017F;e Verordnung<lb/>
fallenden Sachen <hi rendition="#g">bereits erledigten</hi> oder<lb/>
doch bis zum Ablauf des Monats werden erledi-<lb/>
gen können. Der Reichsprä&#x017F;ident ent&#x017F;chloß &#x017F;ich<lb/>
deshalb auf Antrag des Reichsmini&#x017F;ters der<lb/>
Ju&#x017F;tiz, die Verordnung vom 17. Dezember 1923<lb/><hi rendition="#g">zum 1. Februar außer Kraft zu &#x017F;etzen</hi></p>
        </div><lb/>
        <div type="jArticle" n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Ern&#x017F;ter Zwi&#x017F;chenfall</hi> </head><lb/>
          <dateline><hi rendition="#g">Rom,</hi> 14. Jan.</dateline><lb/>
          <p>In <hi rendition="#g">Balona</hi> hat &#x017F;ich ein Zwi-<lb/>
&#x017F;chenfall zwi&#x017F;chen Albanien und Italien abge&#x017F;pielt.<lb/>
Der er&#x017F;te Offizier des italieni&#x017F;chen Dampfers<lb/>
&#x201E;Serajewe&#x201C; wurde beim Betreten des Landes von<lb/>
albani&#x017F;chen Offizieren und Gendarmen <hi rendition="#g">&#x017F;chwer<lb/>
mißhandelt.</hi> Der italieni&#x017F;che Ge&#x017F;andte ver-<lb/>
langte &#x017F;ofort Genugtnung.</p>
        </div><lb/>
        <div type="jAn" n="2">
          <gap reason="insignificant"/>
        </div>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <div type="jFeuilleton" n="1">
        <div type="jComment" n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Schweninger &#x2020;</hi> </head><lb/>
          <p>In der Sonntagnacht i&#x017F;t der Geheime Medi-<lb/>
zinalrat Profe&#x017F;&#x017F;or Dr. Ern&#x017F;t <hi rendition="#g">Schweninger,</hi><lb/>
der langjährige Leibarzt des Für&#x017F;ten <hi rendition="#g">Bismarck,</hi><lb/>
in München ge&#x017F;torben. Er &#x017F;tand im 74. Lebens-<lb/>
jahr. Er hat namentlich durch die Wiederher&#x017F;tel-<lb/>
lung der Ge&#x017F;undheit des Reichskanzlers Bismarck<lb/>
Weltruf erlangt. Später war er Leiter großer<lb/>
Kliniken und Inhaber bedeut&#x017F;amer Lehr&#x017F;tühle in<lb/>
Berlin. Nach &#x017F;einem Rücktritt vom Lehramt<lb/>
wohnte er in Prinz Ludwighöhe bei München.</p><lb/>
          <p>Als ich Schweninger zum letzten Male &#x017F;ah, war<lb/>
er &#x017F;chon leidend. Ein alter Beckenbruch bildete<lb/>
Fi&#x017F;teln, die ihn quälten. Aber &#x017F;ein Aus&#x017F;ehen blieb<lb/>
fri&#x017F;ch und die Augenbrauen wuchteten &#x017F;chwarz und<lb/>
mächtig über dem klugen Ge&#x017F;icht, das ein &#x017F;tark<lb/>
angegrauter, doch nicht weißer Spitzbart nach<lb/>
unten verjüngte.</p><lb/>
          <p>Sein Landhaus auf Prinz Ludwigshöhe, de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Erkerturm über einen Tannenpark hinweg ins<lb/>
I&#x017F;artal hinab&#x017F;chaut, umhegt im vergangenen Stil<lb/>
der P&#x017F;eudoromantik eine vergangene Zeit. Es<lb/>
gibt den gleichen Eindruck, den in Bayreuth Haus<lb/>
Wahnfried macht; das deut&#x017F;che Genie &#x017F;tellt &#x017F;ich,<lb/>
maskulin und feminin, in &#x017F;einen beiden &#x017F;eitlich<lb/>
&#x017F;tärk&#x017F;ten Exponenten dar: Bismarck und Wagner.<lb/>
Denn der 73 jährige Schweninger war in &#x017F;einem<lb/>
Hau&#x017F;e nur der Wärter weltge&#x017F;chichtlicher Erinne-<lb/>
rung, ehrfürchtiger Tempeldiener einer Tradition,<lb/>
die des zweiten Wilhelm ehrgeiziger Schwarm-<lb/>
gei&#x017F;t verhängnisvoll verwarf.</p><lb/>
          <p>Das Standbild Bismarcks, me&#x017F;&#x017F;ingblank, be-<lb/>
wacht die Tür zu Schweningers Arbeitszimmer.<lb/>
Das Me&#x017F;&#x017F;ing i&#x017F;t von Krupp und &#x017F;icher prima<lb/><cb/>
Qualität; kün&#x017F;tleri&#x017F;ch i&#x017F;t das große Knie&#x017F;tück in<lb/>
Oel, von Lenbachs Mei&#x017F;terhand, ent&#x017F;chieden vor-<lb/>
zuziehen. Bismarcks markanter Rundkopf, Knauf<lb/>
auf einem &#x017F;chwarzen Turm, Blitz aus &#x017F;einem<lb/>
Augenpaar, beherr&#x017F;cht den Raum. Die Hände,<lb/>
aufeinandergelegt, leuchten nur &#x017F;chwach aus dem<lb/>
Dunkel. Der alte Schweninger empfand das &#x2014;<lb/>
kün&#x017F;tleri&#x017F;ch zu unrecht &#x2014; als einen Mangel, den<lb/>
er &#x017F;einem Freunde Lenbach nachtrug. Denn, &#x017F;agte<lb/>
er, Bismarck hatte die &#x017F;chön&#x017F;ten Hände, die man<lb/>
&#x017F;ich denken kann, durchgei&#x017F;tigte Hände, die noch<lb/>
in der Ruhe &#x017F;prachen. Sie zu betrachten, war<lb/>
allein &#x017F;chon Genuß. Unter dem beherr&#x017F;chenden<lb/>
Bismarckbild drückt &#x017F;ich eine mittelmäßige Bronze-<lb/>&#x017F;te be&#x017F;cheiden in die Fen&#x017F;terecke; &#x017F;ie &#x017F;tellt den<lb/>
jungen Prinzen Wilhelm dar, der damals noch<lb/>
&#x201E;in wärm&#x017F;ter Verehrung und treue&#x017F;ter Freund-<lb/>
&#x017F;chaft&#x201C; für den Kanzler &#x017F;eines kai&#x017F;erlichen Groß-<lb/>
vaters &#x017F;chwärmte.</p><lb/>
          <p>Der Empfangsraum i&#x017F;t vollge&#x017F;topft mit Er-<lb/>
innerungen die&#x017F;er Art. Ein Bru&#x017F;t&#x017F;tück zeigt die<lb/>
Für&#x017F;tin Bismarck in jungen Jahren, den roten<lb/>
Mohnkranz im ebenholz&#x017F;chwarzen Haar. Als<lb/>
Symphonie in Rot und Schwarz i&#x017F;t auch der<lb/>
Hausherr &#x017F;elb&#x017F;t gemalt: dämoni&#x017F;ch &#x017F;ticht der<lb/>
&#x017F;chwarze Bart aus dem Purpur des Kardinals-<lb/>
gewandes, das ihm Lenbach umgetan hat.</p><lb/>
          <p>Bei die&#x017F;em letzten Zu&#x017F;ammen&#x017F;ein wirkte der alte<lb/>
Geheimrat Schweninger auf mich weder dämoni&#x017F;ch<lb/>
noch bajuwari&#x017F;ch. Sein zartgebauter Körper hatte<lb/>
eher etwas von der Di&#x017F;tinktion altfranzö&#x017F;i&#x017F;cher<lb/>
Edelleute, und &#x017F;eine liebenswürdige Weltgewandt-<lb/>
heit war weit von jener derben Geradheit, die man<lb/>
&#x017F;einen jüngeren Jahren nachge&#x017F;agt hat. Der Arzt<lb/>
Schweninger zählte einunddreißig Jahre, als er<lb/>
zu Bismarck gerufen wurde, und &#x017F;iebzehn Jahre<lb/><cb/>
lang hat er Krankheit und Tod von die&#x017F;em ko&#x017F;t-<lb/>
bar&#x017F;ten Leben ferngehalten, das für Deut&#x017F;chlands<lb/>
Größe und Europas Frieden &#x017F;orgte. Bismarck<lb/>
war kein bequemer Patient, aber Schweninger<lb/>
wußte ihn zu nehmen, indem er ihn von vorn-<lb/>
herein vor die Alternative &#x017F;tellte, &#x017F;ich entweder<lb/>
wider&#x017F;pruchslos &#x017F;einen ärztlichen Anordnungen zu<lb/>
fügen, oder auf &#x017F;eine Dien&#x017F;te zu verzichten. Die&#x017F;e<lb/>
Ent&#x017F;chiedenheit gefiel dem ei&#x017F;ernen Kanzler, und<lb/>
wenn er auch zu Anfang gelegentlich aufmuckte,<lb/>
&#x017F;o kam er dann doch &#x017F;elb&#x017F;t wieder zu Schweninger,<lb/>
um die kleine Ver&#x017F;timmung zu beheben. &#x201E;Mein<lb/>
Für&#x017F;t&#x201C;, erzählte der alte Herr, &#x201E;war einer der<lb/>
liebenswürdig&#x017F;ten, be&#x017F;orgte&#x017F;ten, vornehm&#x017F;ten Men-<lb/>
&#x017F;chen, mit dem ich je zu tun hatte. Er war der<lb/>
rück&#x017F;ichtsvoll&#x017F;te Patient, und wenn ich meiner&#x017F;eits<lb/>
einmal nicht ganz auf dem Damm war, &#x017F;o kam er<lb/>
gleich mit einem Kognak oder einer anderen Herz-<lb/>
&#x017F;tärkung zu mir aufs Zimmer und war rührend<lb/>
um mich bemüht.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Die gleiche bedingslo&#x017F;e Verehrung, die Schwe-<lb/>
ninger dem Men&#x017F;chen Bismarck entgegenbrachte,<lb/>
hatte er für den Staatsmann. Die Kata&#x017F;trophe<lb/>
des Weltkrieges er&#x017F;chien dem Vertrauten Bis-<lb/>
marcks als eine tragi&#x017F;che Be&#x017F;tätigung der Voraus-<lb/>
&#x017F;icht, mit der der Alte vom Sach&#x017F;enwald die Po-<lb/>
litik Wilhelms <hi rendition="#aq">II.</hi> beobachtete. &#x201E;Wie oft hat<lb/>
&#x017F;ich mein Für&#x017F;t die berühmten drei Haare gerauft<lb/>
und ge&#x017F;töhnt: &#x201E;Schweninger, Schweninger, ich &#x017F;ehe<lb/>
es kommen, wir gehen einer furchtbaren Kata-<lb/>
&#x017F;trophe entgegen!&#x201C; Der Für&#x017F;t &#x017F;ah die Einkrei-<lb/>
&#x017F;ung Deut&#x017F;chlands kommen und er war überzeugt,<lb/>
daß auch Rußland ein Kettenglied in die&#x017F;em Ring<lb/>
bilden würde. Eines &#x017F;einer letzten Worte an mich<lb/>
lautete: &#x201E;Schweninger, ich &#x017F;age Ihnen, Deut&#x017F;ch-<lb/>
land geht &#x017F;chweren Zeiten entgegen.&#x201C;</p><lb/>
          <cb/>
          <p>Mit die&#x017F;en Zeiten, die Bismarcks prophet Wort<lb/>
wahr gemacht haben, wollte Geh.-Rat Schweninger<lb/>
nichts gemein haben. Alles, was nach Bismarcks<lb/>
Tode für ihn kam: die Berufung an das Lichter-<lb/>
felder Krankenhaus in Berlin, die Mißhelligkeiten<lb/>
dort, die ihn zum Rücktritt veranlaßten, die Ruhe-<lb/>
jahre auf Burg Schwaneck, der Weltkrieg, der<lb/>
&#x017F;einen Aelte&#x017F;ten verwundet und in Feindeshand<lb/>
&#x017F;ah, der Zu&#x017F;ammenbruch des Bismarck&#x017F;chen Kai-<lb/>
&#x017F;erreiches, das Satyr&#x017F;piel der Münchener Räte-<lb/>
helden, die den verächtlich abwei&#x017F;enden Greis an<lb/>
die Wand zu &#x017F;tellen drohten &#x2014; all das lag tief<lb/>
im Schatten der gewaltigen Er&#x017F;cheinung, zu der<lb/>
Ern&#x017F;t Schweninger nun in die Ewigkeit einge-<lb/>
gangen i&#x017F;t.</p><lb/>
          <byline> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#g">Leonhard Adelt.</hi> </hi> </byline>
        </div><lb/>
        <div xml:id="a02a" next="#a02b" type="jComment" n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Südlicher Charakter</hi> </head><lb/>
          <dateline><hi rendition="#g">Sorrent,</hi> Januar 1924.</dateline><lb/>
          <p>Ein lebendiges, eiliges Land, heftig und heiter<lb/>
in &#x017F;chnell&#x017F;tem Wech&#x017F;el, jedes nach kleinem, leichten<lb/>
Gewinn die Hand ra&#x017F;ch aus&#x017F;treckend und &#x017F;eine<lb/>
vielen kleinen Enttäu&#x017F;chungen eben&#x017F;o ra&#x017F;ch über-<lb/>
windend. Viel Freude am Wech&#x017F;el&#x017F;piel der Rede,<lb/>
an &#x017F;chlagender Argumentation, &#x017F;ententiös zu-<lb/>
rechtgemachter Lebensweisheit, und viel Ober-<lb/>
flächlichkeit zufolge die&#x017F;er Freude. Ueberall i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;chnelle, deutliche Stellungnahme er&#x017F;tes Erforder-<lb/>
nis des ge&#x017F;elligen Zu&#x017F;ammenlebens. Daher eher<lb/>
theatrali&#x017F;ches Durchführen einer nicht ganz echten<lb/>
Stellungnahme, als jene zurückhaltende, kühle<lb/>
Art des Nordländers, der &#x017F;ich alles Weitere für<lb/>
&#x017F;päter offen hält. Dies er&#x017F;cheint dem Italiener<lb/>
als ein Nicht-reagieren und als &#x017F;olches als für<lb/>
Stumpfheit oder Dummheit, oder er empfindet es<lb/>
als tücki&#x017F;ch. Er &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t im Grunde nur &#x017F;elten<lb/>
tücki&#x017F;ch. Aber die Unverbindlichkeit &#x017F;einer mo-<lb/>
mentanen Erregungen läßt ihn dem Nordländer<lb/>
&#x017F;o er&#x017F;cheinen der zudem für die feineren Ab&#x017F;tu-<lb/>
fungen der Ausdrucksformen, deren gering&#x017F;te<lb/>
&#x017F;chon ihm als Forti&#x017F;&#x017F;imo er&#x017F;cheint, nicht viel Emp-<lb/>
findung hat. Der Italiener wird Ver&#x017F;prechungen.</p>
        </div>
      </div><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[Seite 2[2]/0002] Allgemeine Zeitung. Nr. 14 Dienstag, den 15. Januar 1924. ſondern damit ſie in Größe und Kraft wett- eifern, jedes ſeine Art von Menſchentum ſo ſtark und geſund auszuprägen als in ihm liegt. Und wir wiſſen, daß keines der Völ- ker mehr an herber, tiefer Kraft, mehr an innerem Reichtum zu geben hat als das deutſche Volk. Und indem wir um des deutſchen Menſchen willen die Größe unſeres Volkes wollen, wollen wir um des deutſchen Volkes willen, daß in ihm die einzelne Perſönlichkeit ſich ſo tief und reich entfalte und ſo viel Glück eigenen Weſens aufſteige, als Kraft in ſie gelegt iſt: Perſönlichkeit des Volkes, Per- ſönlichkeit des Einzelnen, als Volksdienſt und Gotteswille. Wenn wir dies wollen, was müſſen wir dazu tun? Auch hier ſei verſucht, fürs erſte Ge- meinſames aufzuzeigen, auf deſſen Grund allein auch Gegenſätzliches zu fried- lichem Austrag entwickelt werden kann. 1. Wir müſſen den deutſchen Staat behaupten. Er und damit das deutſche Volk ſind ſchlimmer als je bedroht, ſeit das deutſche Volk bewußt deutſche Ge- ſchichte erlebt. Wohl ſagt man, ein Volk von 60 Millionen könne nicht ſterben. Das iſt ruchloſer Optimismus. Auch ein großes Volk kann ſterben, und beſonders das deut- ſche Volk wird verkümmern, ſogar als Summe von Einzelperſönlichkeiten, ſicher- lich aber abſterben als geiſtige Perſönlich- keit, wenn es den nationalen Staat nicht behauptet, mit anderen Worten, wenn ſein ſtaatlicher Lebenswille nicht ſtärker iſt als der Vernichtungswille der Gegner. Dieſen Willen zum Leben gilts ins ganze Volk zu tragen, denn wir wollen nicht den Tod Deutſchlands, auch nicht den Tod ſchönſter heldiſcher Verzweiflungstat; denn ſchließ- lich iſt die Antitheſe „lieber tot als Sklave“, auf ein Volk bezogen, doch nur eine ſchil- lernde Halbwahrheit, die ganze Wahrheit aber einfach die Pflicht, weder zu ſterben noch Sklave zu werden. Das nächſte deutſche Schickſal entſcheidet ſich am Rhein. Jäh und zielbewußt drang die franzöſiſche Beſatzungsmacht vor in der Beherrſchung des Verkehrs, in der Aus- höhlung der deutſchen Verwaltung, nun in Verträgen mit wichtigen großen Wirt- ſchaftsgruppen; der Separatiſtenterror des Geſindels laſtet drüchend auf dem Lande und die Pläne, denen er dient, ſind nicht allzu ſchwer zu durchſchauen. Dabei iſt die Wirtſchaftskraft des geſamten Reiches allzu ſehr geſchwächt, als daß ſie unbegrenzt Kräfte und Säfte in ein nimmermehr zu füllendes Becken fremder Forderungen, die über die weiteſten Grenzen des Vertrages hinaus- gehen, abfließen laſſen könnte, ohne ſich zu verbluten und damit beſetztes und unbeſetz- tes Gebiet gleichermaßen zu Grunde gehen zu laſſen. Ob Frankreich ſich zu einem modus vivendi bereit findet, ob ſonſtwie die Fremdherrſchaft am deutſchen Rhein in die Grenzen des Vertrages von Verſailles zurückgeführt werden wird, iſt die Sorge der nächſten Monate. Wieviel oder wenig wir erhoffen wollen — darüber müſſen wir uns klar ſein, daß das Reich in dieſer ge- ſchichtlichen Stunde, die nicht die letzte für uns ſein darf, aber es werden könnte, wenn wir nicht ihren furchtbaren Ernſt erfaſſen, nur eine verläßliche Waffe hat, die Treue ſeiner Bürger rechts und links des Rheins. 2. Dieſe Treue kann beſtehen nur auf dem Boden des Geſetzes. Die Verfaſ- ſung von Weimar braucht einem nicht in allem zu gefallen. Aber wer über ſie urteilt, der bedenke, daß in ihr das deutſche Volk die Revolution überwunden und ſich ein neues Grundgeſetz ſeines Zuſammen- lebens gegeben hat. Die Autorität der Mon- archie war zerbrochen; kein großer Mann erſtand, der in ſich eine neue getragen hätte. Was blieb, war als letztes die Hoheit des ganzen Volkes. Im November und De- zember 1918 wurde ſie von allen als die einzige Rettung und die einzige Grundlage neuer Rechtsſchöpfung begriffen. Wer Aenderungen will, muß ſagen, was an die Stelle der Demokratie treten ſoll, welcher Art und Prägung etwa die Monarchie ſein ſoll, ſei es die eines deutſchen Königs oder Kaiſers allein, oder auch die der Teilfürſten; muß wiſſen, durch welch beſſeres anerkann- tes Syſtem er den Parlamentarismus er- ſetzen will; und muß bei alledem bedenken, daß die Verfaſſung eben dieſem deutſchen Volke in ſeiner derzeitigen außen- und in- nenpolitiſchen, wirtſchaftlichen und ſozialen Lage angepaßt ſein muß; und vor allem muß er jede Beſtimmung darnach werten, was ſie beiträgt zur Einigung unſeres Vol- kes in ſich und mit ſeinem Staat und zur Ueberwindung innerer Zwietracht und Schwäche. Wer ſo an dieſe verantwortlichen Fragen herangeht, wird alsbald erkennen, daß nur ein Weg offen iſt, der der orga- niſchen verfaſſungsmäßigen Entwicklung, und muß innerlich wie öffentlich jeden Gedanken an gewaltſame Aenderung ablehnen. Richtig iſt, daß der Parlamentarismus nicht viel dazu getan hat, das deutſche Volk an ſeine Kraft und Würde glauben zu machen, und vor allem den Sinn für Stil und Schickliches oft ver- miſſen ließ. Viele im Reichstag geleiſtete fleißige Arbeit iſt darüber vergeſſen wor- den, auch das, daß die Gegenſätze dort, trotz allem bei weitem nicht ſo heftig waren und ſind, wie der lobenbe Kampf der Preſſe und Parteiſekretäre im Lande draußen anneh- men läßt; wer da nach Beſeitigung ruft, der erwäge dies, prüfe die Möglichkeiten eines beſſeren Erſatzes und frage ſich, ob etwa die Auseinanderſetzungen im Lager ſo mancher Verbände und parlamentsfeindlicher Par- teien mehr an Willen zur Unterordnung und Einordnung, mehr an realpolitiſcher Abwägung, mehr an Eintracht erwarten laſſen, oder ob nicht doch die demokratiſche Volksvertretung zu erhalten und in den Wahlen ebenſo geſtaltet werden muß, daß die Parteien der Mitte zu innerem Aus- gleich zu ſtärken ſind, damit aus beiter Ge- meinſchaft die Regierung auf großer Linie geführt werden kann. (Fortſetzung folgt.) Die Schulden Frankreichs Berlin, 14. Januar. In einer Wirt- ſchaftskorreſpondenz wird eine Zuſammen- ſtellung der öffentlichen Schulden Frankreichs veröffentlicht, aus der ſich folgende Ziffern ergeben: Vorkriegs- ſchulden 25 Milliarden Franken, Kriegs- anleihen 133 Milliarden Franken, kurz- friſtige Schulden in Schatzſcheinen uſw. 70 Milliarden Fr., Anleihen bei der Bank von Frankreich 23 Milliarden Fr., äußere Anleihen 120 Milliarden Fr., Anleihen für die Wiederherſtellung der befreiten Gebiete 30 Milliarden Fr., Kriegsdarlehen an die Verbündeten 4 Milliarden Fr., jährlicher Zinſenauflauf 5—6 Milliarden Fr. Es ergibt ſich alſo insgeſamt eine Summe von über 400 Milliarden Franken. Kein Generalſtreik Köln, 14. Jan. Die ſozialiſtiſchen Gewerkſchaften lehnen im ganzen Weſten den Generalſtreik ab. Die chriſt- lichen Gewerkſchaften ſind nach wie vor weder für den Metallarbeiter- kampf noch für den Generalſtreik zu haben, ausgenommen ſind wenige Orte wie Krefeld, Benrath und Hilden. — Der Düſſeldorfer Kampf griff ſo gut wie gar nicht ins engere Induſtriegebiet über, außer in Opladen, wo es zwiſchen den Streikenden und Arbeitsloſen zu Zu- ſammenſtößen mit der Polizei kam. Aus- ſchreitungen kamen nicht vor. Kommuniſtenterror im Ruhrgebiet * Gelſenkirchen, 14. Jan. Nach dem Beſchluß des Deutſchen Metallarbeiterverbandes, die ein- zelnen Organiſationen die Frage des General- ſtreikes ſelbſtändig entſcheiden zu laſſen, haben die Kommuniſten in den einzelnen Ortsgruppen im Ruhrgebiet die Herrſchaft an ſich genommen. Die Kommuniſten wenden alle Mittel an, die Arbeits- willigen an der Ausütbung ihrer Arbeit zu ver- hindern. Die Polizei in Gelſenkirchen wurde mehrfach gezwungen, mit blanker Waffe einzugreifen, um den Beläſtigungen der Arbeitswilligen entgegenzutreten. Von den De- monſtranten wurden mehrere verwundet. Durch die von den Streikenden auf die Blaue Polizei abgegebenen Revolverſchüſſe wurde ein Polizei- beamter verwundet. Die Ortsleitung des Deut- ſchen Metallarbeiterverbandes in Gelſenkirchen will alles verſuchen, um die reſtloſe Arbeitsnieder- legung im ganzen Bezirk zu erzwingen. Hilfe für deutſche Kinder * Berlin, 12. Januar. Die Schweizer Eiſenbahner faßten den hochherzigen Ent- ſchluß, in ihren Familien einer größeren Anzahl erholungsbedürftiger und notleidender Kinder deutſcher Reichsbahnbedienſteten unentgeltlichen Erholungsaufenthalt zu gewähren. Es werden für den erſten Transport nur Kinder aus dem ſüdweſtlichen Reichsbahngebiet ausgewählt. Der Reichsverkehrsminiſter ſprach der ſchweizeriſchen Eiſenbahnerſchaft den Dank der deutſchen Reichs- bahnverwaltung aus. Die Zukunft der Abgebauten Das Reichsfinanzminiſterium hat die Beamtenorganiſationen für Donnerstag, den 17. Januar, zu einer Beſprechung eingeladen, in der die Frage der Exiſtenzmöglichkeit nach erfolgtem Abbau behandelt werden ſoll. In der Einladung zur Beſprechung heißt es, daß zu prüfen ſei, wie die zahlreichen abge- bauten Beamten einer produktiven Tätigkeit als Neben- oder Vollerwerb zugeführt werden können. Es wird dabei auf die dem Reichsfinanzmini- ſterium gemachten Vorſchläge einer Beamten- ſpitzenorganiſation verwieſen, in denen neben der Inanſpruchnahme des allgemeinen Arrbeitsmark- tes und der Ergreifung techniſcher und handwerks- mäßiger Berufe insbeſondere die Siedlungsfrage in den Vordergrund geſtellt wird. Dabei wird weniger an eine rein bäuerliche als gärtneriſche Kleinſiedlung auf genoſſenſchaftlicher Grundlage gedacht. Die Mittel ſollen in erſter Linie bei gemeinnützigen Bodenkreditanſtal- ten aufgebracht werden. Ferner iſt zur Erleichte- rung der Kapitalbeſchaffung und zur Sicherſtellung der Verzinſung an die Umwandlung der Verſor- gungsgebührniſſe (Penſionen, Wartegeld, Abfin- dungsſummen) in eine Rente gedacht. Aburteilung von Straftaten Berlin, 14. Jan. Durch eine Verordnung des Reichspräſidenten über die beſchleunigte Ab- urteilung von Straftaten vom 17. Dez. 1923 wurden die Strafkammern für zuſtändig er- klärt zur Aburteilung einer Reihe von Straftaten, durch die die öffentliche Ordnung, zumal in den Zeiten der Unruhen, beſonders ſchwer beeinträchtigt wird. Um die notwendige ſchnelle Aburteilung dieſer Straftaten ſicherzuſtellen, ſieht die Verordnung ein abgekürztes und vielfach verein- fachtes Verfahren vor. Die Reichsjuſtiz- verwaltung war beſtrebt, die zeitliche Geltungs- dauer der Verordnung vom 17. Dez. 1923 mög- lichſt abzukürzen. Nachdem nunmehr die Verord- nung über die Gerichtsverfaſſung und Strafrechts- pflege vom 4. Januar 1924 erlaſſen iſt, ſcheint der Zeitpunkt nahegerückt, in welchem die Verordnung vom 17. Dezember entbehrlich wird. Durch die in ihr vorgeſchlagenen Maßnahmen wird ein Teil der Gründe beſeitigt, die den Erlaß der Verord- nung vom 17. Dezember notwendig erſcheinen ließen. Es iſt auch zu erwarten, daß die Straf- kammern die dringendſten unter dieſe Verordnung fallenden Sachen bereits erledigten oder doch bis zum Ablauf des Monats werden erledi- gen können. Der Reichspräſident entſchloß ſich deshalb auf Antrag des Reichsminiſters der Juſtiz, die Verordnung vom 17. Dezember 1923 zum 1. Februar außer Kraft zu ſetzen Ernſter Zwiſchenfall Rom, 14. Jan. In Balona hat ſich ein Zwi- ſchenfall zwiſchen Albanien und Italien abgeſpielt. Der erſte Offizier des italieniſchen Dampfers „Serajewe“ wurde beim Betreten des Landes von albaniſchen Offizieren und Gendarmen ſchwer mißhandelt. Der italieniſche Geſandte ver- langte ſofort Genugtnung. _ Schweninger † In der Sonntagnacht iſt der Geheime Medi- zinalrat Profeſſor Dr. Ernſt Schweninger, der langjährige Leibarzt des Fürſten Bismarck, in München geſtorben. Er ſtand im 74. Lebens- jahr. Er hat namentlich durch die Wiederherſtel- lung der Geſundheit des Reichskanzlers Bismarck Weltruf erlangt. Später war er Leiter großer Kliniken und Inhaber bedeutſamer Lehrſtühle in Berlin. Nach ſeinem Rücktritt vom Lehramt wohnte er in Prinz Ludwighöhe bei München. Als ich Schweninger zum letzten Male ſah, war er ſchon leidend. Ein alter Beckenbruch bildete Fiſteln, die ihn quälten. Aber ſein Ausſehen blieb friſch und die Augenbrauen wuchteten ſchwarz und mächtig über dem klugen Geſicht, das ein ſtark angegrauter, doch nicht weißer Spitzbart nach unten verjüngte. Sein Landhaus auf Prinz Ludwigshöhe, deſſen Erkerturm über einen Tannenpark hinweg ins Iſartal hinabſchaut, umhegt im vergangenen Stil der Pſeudoromantik eine vergangene Zeit. Es gibt den gleichen Eindruck, den in Bayreuth Haus Wahnfried macht; das deutſche Genie ſtellt ſich, maskulin und feminin, in ſeinen beiden ſeitlich ſtärkſten Exponenten dar: Bismarck und Wagner. Denn der 73 jährige Schweninger war in ſeinem Hauſe nur der Wärter weltgeſchichtlicher Erinne- rung, ehrfürchtiger Tempeldiener einer Tradition, die des zweiten Wilhelm ehrgeiziger Schwarm- geiſt verhängnisvoll verwarf. Das Standbild Bismarcks, meſſingblank, be- wacht die Tür zu Schweningers Arbeitszimmer. Das Meſſing iſt von Krupp und ſicher prima Qualität; künſtleriſch iſt das große Knieſtück in Oel, von Lenbachs Meiſterhand, entſchieden vor- zuziehen. Bismarcks markanter Rundkopf, Knauf auf einem ſchwarzen Turm, Blitz aus ſeinem Augenpaar, beherrſcht den Raum. Die Hände, aufeinandergelegt, leuchten nur ſchwach aus dem Dunkel. Der alte Schweninger empfand das — künſtleriſch zu unrecht — als einen Mangel, den er ſeinem Freunde Lenbach nachtrug. Denn, ſagte er, Bismarck hatte die ſchönſten Hände, die man ſich denken kann, durchgeiſtigte Hände, die noch in der Ruhe ſprachen. Sie zu betrachten, war allein ſchon Genuß. Unter dem beherrſchenden Bismarckbild drückt ſich eine mittelmäßige Bronze- büſte beſcheiden in die Fenſterecke; ſie ſtellt den jungen Prinzen Wilhelm dar, der damals noch „in wärmſter Verehrung und treueſter Freund- ſchaft“ für den Kanzler ſeines kaiſerlichen Groß- vaters ſchwärmte. Der Empfangsraum iſt vollgeſtopft mit Er- innerungen dieſer Art. Ein Bruſtſtück zeigt die Fürſtin Bismarck in jungen Jahren, den roten Mohnkranz im ebenholzſchwarzen Haar. Als Symphonie in Rot und Schwarz iſt auch der Hausherr ſelbſt gemalt: dämoniſch ſticht der ſchwarze Bart aus dem Purpur des Kardinals- gewandes, das ihm Lenbach umgetan hat. Bei dieſem letzten Zuſammenſein wirkte der alte Geheimrat Schweninger auf mich weder dämoniſch noch bajuwariſch. Sein zartgebauter Körper hatte eher etwas von der Diſtinktion altfranzöſiſcher Edelleute, und ſeine liebenswürdige Weltgewandt- heit war weit von jener derben Geradheit, die man ſeinen jüngeren Jahren nachgeſagt hat. Der Arzt Schweninger zählte einunddreißig Jahre, als er zu Bismarck gerufen wurde, und ſiebzehn Jahre lang hat er Krankheit und Tod von dieſem koſt- barſten Leben ferngehalten, das für Deutſchlands Größe und Europas Frieden ſorgte. Bismarck war kein bequemer Patient, aber Schweninger wußte ihn zu nehmen, indem er ihn von vorn- herein vor die Alternative ſtellte, ſich entweder widerſpruchslos ſeinen ärztlichen Anordnungen zu fügen, oder auf ſeine Dienſte zu verzichten. Dieſe Entſchiedenheit gefiel dem eiſernen Kanzler, und wenn er auch zu Anfang gelegentlich aufmuckte, ſo kam er dann doch ſelbſt wieder zu Schweninger, um die kleine Verſtimmung zu beheben. „Mein Fürſt“, erzählte der alte Herr, „war einer der liebenswürdigſten, beſorgteſten, vornehmſten Men- ſchen, mit dem ich je zu tun hatte. Er war der rückſichtsvollſte Patient, und wenn ich meinerſeits einmal nicht ganz auf dem Damm war, ſo kam er gleich mit einem Kognak oder einer anderen Herz- ſtärkung zu mir aufs Zimmer und war rührend um mich bemüht.“ Die gleiche bedingsloſe Verehrung, die Schwe- ninger dem Menſchen Bismarck entgegenbrachte, hatte er für den Staatsmann. Die Kataſtrophe des Weltkrieges erſchien dem Vertrauten Bis- marcks als eine tragiſche Beſtätigung der Voraus- ſicht, mit der der Alte vom Sachſenwald die Po- litik Wilhelms II. beobachtete. „Wie oft hat ſich mein Fürſt die berühmten drei Haare gerauft und geſtöhnt: „Schweninger, Schweninger, ich ſehe es kommen, wir gehen einer furchtbaren Kata- ſtrophe entgegen!“ Der Fürſt ſah die Einkrei- ſung Deutſchlands kommen und er war überzeugt, daß auch Rußland ein Kettenglied in dieſem Ring bilden würde. Eines ſeiner letzten Worte an mich lautete: „Schweninger, ich ſage Ihnen, Deutſch- land geht ſchweren Zeiten entgegen.“ Mit dieſen Zeiten, die Bismarcks prophet Wort wahr gemacht haben, wollte Geh.-Rat Schweninger nichts gemein haben. Alles, was nach Bismarcks Tode für ihn kam: die Berufung an das Lichter- felder Krankenhaus in Berlin, die Mißhelligkeiten dort, die ihn zum Rücktritt veranlaßten, die Ruhe- jahre auf Burg Schwaneck, der Weltkrieg, der ſeinen Aelteſten verwundet und in Feindeshand ſah, der Zuſammenbruch des Bismarckſchen Kai- ſerreiches, das Satyrſpiel der Münchener Räte- helden, die den verächtlich abweiſenden Greis an die Wand zu ſtellen drohten — all das lag tief im Schatten der gewaltigen Erſcheinung, zu der Ernſt Schweninger nun in die Ewigkeit einge- gangen iſt. Leonhard Adelt. Südlicher Charakter Sorrent, Januar 1924. Ein lebendiges, eiliges Land, heftig und heiter in ſchnellſtem Wechſel, jedes nach kleinem, leichten Gewinn die Hand raſch ausſtreckend und ſeine vielen kleinen Enttäuſchungen ebenſo raſch über- windend. Viel Freude am Wechſelſpiel der Rede, an ſchlagender Argumentation, ſententiös zu- rechtgemachter Lebensweisheit, und viel Ober- flächlichkeit zufolge dieſer Freude. Ueberall iſt ſchnelle, deutliche Stellungnahme erſtes Erforder- nis des geſelligen Zuſammenlebens. Daher eher theatraliſches Durchführen einer nicht ganz echten Stellungnahme, als jene zurückhaltende, kühle Art des Nordländers, der ſich alles Weitere für ſpäter offen hält. Dies erſcheint dem Italiener als ein Nicht-reagieren und als ſolches als für Stumpfheit oder Dummheit, oder er empfindet es als tückiſch. Er ſelbſt iſt im Grunde nur ſelten tückiſch. Aber die Unverbindlichkeit ſeiner mo- mentanen Erregungen läßt ihn dem Nordländer ſo erſcheinen der zudem für die feineren Abſtu- fungen der Ausdrucksformen, deren geringſte ſchon ihm als Fortiſſimo erſcheint, nicht viel Emp- findung hat. Der Italiener wird Verſprechungen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-12-19T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine14_1924
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine14_1924/2
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 14, 15. Januar 1924, S. Seite 2[2]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine14_1924/2>, abgerufen am 16.07.2024.