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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Kunst in irgend welchen Formen, besonders als Religion und
Wissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes Pest¬
hauchs erschienen ist.

Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist Sokrates
das Urbild des theoretischen Optimisten, der in dem bezeich¬
neten Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge
dem Wissen und der Erkenntniss die Kraft einer Universal¬
medizin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich begreift.
In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntniss vom
Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen
Menschen der edelste, selbst der einzige wahrhaft mensch¬
liche Beruf zu sein: so wie jener Mechanismus der Begriffe,
Urtheile und Schlüsse von Sokrates ab als höchste Bethäti¬
gung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur über alle
anderen Fähigkeiten geschätzt wurde. Selbst die erhabensten
sittlichen Thaten, die Regungen des Mitleids, der Aufopfe¬
rung, des Heroismus und jene schwer zu erringende Meeres¬
stille der Seele, die der apollinische Grieche Sophrosyne
nannte, ward von Sokrates und seinen gleichgesinnten Nach¬
folgern bis auf die Gegenwart hin aus der Dialektik des
Wissens abgeleitet und demgemäss als lehrbar bezeichnet.
Wer die Lust einer sokratischen Erkenntniss an sich erfahren
hat und spürt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die
ganze Welt der Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird
von da an keinen Stachel, der zum Dasein drängen könnte,
heftiger empfinden als die Begierde, jene Eroberung zu
vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu spinnen.
Einem so Gestimmten erscheint dann der platonische Sokra¬
tes als der Lehrer einer ganz neuen Form der "griechischen
Heiterkeit" und Daseinsseligkeit, welche sich in Handlungen
zu entladen sucht und diese Entladung zumeist in maeeuti¬
schen und erziehenden Einwirkungen auf edle Jünglinge, zum
Zweck der endlichen Erzeugung des Genius, finden wird.

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Kunst in irgend welchen Formen, besonders als Religion und
Wissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes Pest¬
hauchs erschienen ist.

Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist Sokrates
das Urbild des theoretischen Optimisten, der in dem bezeich¬
neten Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge
dem Wissen und der Erkenntniss die Kraft einer Universal¬
medizin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich begreift.
In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntniss vom
Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen
Menschen der edelste, selbst der einzige wahrhaft mensch¬
liche Beruf zu sein: so wie jener Mechanismus der Begriffe,
Urtheile und Schlüsse von Sokrates ab als höchste Bethäti¬
gung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur über alle
anderen Fähigkeiten geschätzt wurde. Selbst die erhabensten
sittlichen Thaten, die Regungen des Mitleids, der Aufopfe¬
rung, des Heroismus und jene schwer zu erringende Meeres¬
stille der Seele, die der apollinische Grieche Sophrosyne
nannte, ward von Sokrates und seinen gleichgesinnten Nach¬
folgern bis auf die Gegenwart hin aus der Dialektik des
Wissens abgeleitet und demgemäss als lehrbar bezeichnet.
Wer die Lust einer sokratischen Erkenntniss an sich erfahren
hat und spürt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die
ganze Welt der Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird
von da an keinen Stachel, der zum Dasein drängen könnte,
heftiger empfinden als die Begierde, jene Eroberung zu
vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu spinnen.
Einem so Gestimmten erscheint dann der platonische Sokra¬
tes als der Lehrer einer ganz neuen Form der »griechischen
Heiterkeit« und Daseinsseligkeit, welche sich in Handlungen
zu entladen sucht und diese Entladung zumeist in maeeuti¬
schen und erziehenden Einwirkungen auf edle Jünglinge, zum
Zweck der endlichen Erzeugung des Genius, finden wird.

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[83/0096] Kunst in irgend welchen Formen, besonders als Religion und Wissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes Pest¬ hauchs erschienen ist. Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist Sokrates das Urbild des theoretischen Optimisten, der in dem bezeich¬ neten Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntniss die Kraft einer Universal¬ medizin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich begreift. In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntniss vom Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen Menschen der edelste, selbst der einzige wahrhaft mensch¬ liche Beruf zu sein: so wie jener Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse von Sokrates ab als höchste Bethäti¬ gung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur über alle anderen Fähigkeiten geschätzt wurde. Selbst die erhabensten sittlichen Thaten, die Regungen des Mitleids, der Aufopfe¬ rung, des Heroismus und jene schwer zu erringende Meeres¬ stille der Seele, die der apollinische Grieche Sophrosyne nannte, ward von Sokrates und seinen gleichgesinnten Nach¬ folgern bis auf die Gegenwart hin aus der Dialektik des Wissens abgeleitet und demgemäss als lehrbar bezeichnet. Wer die Lust einer sokratischen Erkenntniss an sich erfahren hat und spürt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die ganze Welt der Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird von da an keinen Stachel, der zum Dasein drängen könnte, heftiger empfinden als die Begierde, jene Eroberung zu vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu spinnen. Einem so Gestimmten erscheint dann der platonische Sokra¬ tes als der Lehrer einer ganz neuen Form der »griechischen Heiterkeit« und Daseinsseligkeit, welche sich in Handlungen zu entladen sucht und diese Entladung zumeist in maeeuti¬ schen und erziehenden Einwirkungen auf edle Jünglinge, zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius, finden wird. 6*

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/96>, abgerufen am 24.11.2024.