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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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nämlich das Dasein als begreiflich und damit als gerecht¬
fertigt erscheinen zu machen: wozu freilich, wenn die Gründe
nicht reichen, schliesslich auch der Mythus dienen muss, den
ich sogar als nothwendige Consequenz, ja als Absicht der
Wissenschaft soeben bezeichnete.

Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach Sokrates,
dem Mystagogen der Wissenschaft, eine Philosophenschule
nach der anderen, wie Welle auf Welle, sich ablöst, wie eine
nie geahnte Universalität der Wissensgier in dem weitesten
Bereich der gebildeten Welt und als eigentliche Aufgabe für
jeden höher Befähigten die Wissenschaft auf die hohe See
führte, von der sie niemals seitdem wieder völlig vertrieben
werden konnte, wie durch diese Universalität erst ein gemein¬
sames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, ja
mit Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnen¬
systems, gespannt wurde; wer dies Alles, sammt der er¬
staunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart sich ver¬
gegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen, in Sokrates
den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Welt¬
geschichte zu sehen. Denn dächte man sich einmal diese
ganze unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welt¬
tendenz verbraucht worden ist, nicht im Dienste des Erken¬
nens, sondern auf die praktischen d. h. egoistischen Ziele der
Individuen und Völker verwendet, so wäre wahrscheinlich in
allgemeinen Vernichtungskämpfen und fortdauernden Völker¬
wanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt,
dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne
vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste,
wenn er, wie der Bewohner der Fidschi-Inseln, als Sohns eine
Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer
Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethik des Völker¬
mordes aus Mitleid erzeugen könnte -- der übrigens überall
in der Welt vorhanden ist und vorhanden war, wo nicht die

nämlich das Dasein als begreiflich und damit als gerecht¬
fertigt erscheinen zu machen: wozu freilich, wenn die Gründe
nicht reichen, schliesslich auch der Mythus dienen muss, den
ich sogar als nothwendige Consequenz, ja als Absicht der
Wissenschaft soeben bezeichnete.

Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach Sokrates,
dem Mystagogen der Wissenschaft, eine Philosophenschule
nach der anderen, wie Welle auf Welle, sich ablöst, wie eine
nie geahnte Universalität der Wissensgier in dem weitesten
Bereich der gebildeten Welt und als eigentliche Aufgabe für
jeden höher Befähigten die Wissenschaft auf die hohe See
führte, von der sie niemals seitdem wieder völlig vertrieben
werden konnte, wie durch diese Universalität erst ein gemein¬
sames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, ja
mit Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnen¬
systems, gespannt wurde; wer dies Alles, sammt der er¬
staunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart sich ver¬
gegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen, in Sokrates
den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Welt¬
geschichte zu sehen. Denn dächte man sich einmal diese
ganze unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welt¬
tendenz verbraucht worden ist, nicht im Dienste des Erken¬
nens, sondern auf die praktischen d. h. egoistischen Ziele der
Individuen und Völker verwendet, so wäre wahrscheinlich in
allgemeinen Vernichtungskämpfen und fortdauernden Völker¬
wanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt,
dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne
vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste,
wenn er, wie der Bewohner der Fidschi-Inseln, als Sohns eine
Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer
Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethik des Völker¬
mordes aus Mitleid erzeugen könnte — der übrigens überall
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[—82—/0095] nämlich das Dasein als begreiflich und damit als gerecht¬ fertigt erscheinen zu machen: wozu freilich, wenn die Gründe nicht reichen, schliesslich auch der Mythus dienen muss, den ich sogar als nothwendige Consequenz, ja als Absicht der Wissenschaft soeben bezeichnete. Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach Sokrates, dem Mystagogen der Wissenschaft, eine Philosophenschule nach der anderen, wie Welle auf Welle, sich ablöst, wie eine nie geahnte Universalität der Wissensgier in dem weitesten Bereich der gebildeten Welt und als eigentliche Aufgabe für jeden höher Befähigten die Wissenschaft auf die hohe See führte, von der sie niemals seitdem wieder völlig vertrieben werden konnte, wie durch diese Universalität erst ein gemein¬ sames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, ja mit Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnen¬ systems, gespannt wurde; wer dies Alles, sammt der er¬ staunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart sich ver¬ gegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen, in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Welt¬ geschichte zu sehen. Denn dächte man sich einmal diese ganze unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welt¬ tendenz verbraucht worden ist, nicht im Dienste des Erken¬ nens, sondern auf die praktischen d. h. egoistischen Ziele der Individuen und Völker verwendet, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfen und fortdauernden Völker¬ wanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müsste, wenn er, wie der Bewohner der Fidschi-Inseln, als Sohns eine Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethik des Völker¬ mordes aus Mitleid erzeugen könnte — der übrigens überall in der Welt vorhanden ist und vorhanden war, wo nicht die

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —82—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/95>, abgerufen am 27.04.2024.