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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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"Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu geniessen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!"
Der Mensch, in's Titanische sich steigernd, erkämpft sich
selbst seine Cultur und zwingt die Götter sich mit ihm
zu verbinden, weil er in seiner selbsteignen Weisheit die
Existenz und die Schranken derselben in seiner Hand hat.
Das Wunderbarste an jenem Prometheusgedicht, das seinem
Grundgedanken nach der eigentliche Hymnus der Unfrömmig¬
keit ist, ist aber der tiefe aeschyleische Zug nach Gerechtig¬
keit:
das unermessliche Leid des kühnen "Einzelnen" auf
der einen Seite, und die göttliche Noth, ja Ahnung einer
Götterdämmerung auf der andern, die zur Versöhnung, zum
metaphysischen Einssein zwingende Macht jener beiden Leidens¬
welten -- dies alles erinnert auf das Stärkste an den Mittel¬
punkt und Hauptsatz der äschyleischen Weltbetrachtung, die
über Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtig¬
keit thronen sieht. Bei der erstaunlichen Kühnheit, mit
der Aeschylus die olympische Welt auf seine Gerechtigkeits¬
wagschalen stellt, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass der
tiefsinnige Grieche einen unverrückbar festen Untergrund des
metaphysischen Denkens in seinen Mysterien hatte, und dass
sich an den Olympiern alle seine skeptischen Anwandelungen
entladen konnten. Der griechische Künstler insbesondere
empfand im Hinblick auf diese Gottheiten ein dunkles Gefühl
wechselseitiger Abhängigkeit: und gerade im Prometheus des
Aeschylus ist dieses Gefühl symbolisirt. Der titanische Künstler
fand in sich den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und
olympische Götter wenigstens vernichten zu können: und
dies durch seine höhere Weisheit, die er freilich durch ewiges

»Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu geniessen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!«
Der Mensch, in's Titanische sich steigernd, erkämpft sich
selbst seine Cultur und zwingt die Götter sich mit ihm
zu verbinden, weil er in seiner selbsteignen Weisheit die
Existenz und die Schranken derselben in seiner Hand hat.
Das Wunderbarste an jenem Prometheusgedicht, das seinem
Grundgedanken nach der eigentliche Hymnus der Unfrömmig¬
keit ist, ist aber der tiefe aeschyleische Zug nach Gerechtig¬
keit:
das unermessliche Leid des kühnen »Einzelnen« auf
der einen Seite, und die göttliche Noth, ja Ahnung einer
Götterdämmerung auf der andern, die zur Versöhnung, zum
metaphysischen Einssein zwingende Macht jener beiden Leidens¬
welten — dies alles erinnert auf das Stärkste an den Mittel¬
punkt und Hauptsatz der äschyleischen Weltbetrachtung, die
über Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtig¬
keit thronen sieht. Bei der erstaunlichen Kühnheit, mit
der Aeschylus die olympische Welt auf seine Gerechtigkeits¬
wagschalen stellt, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass der
tiefsinnige Grieche einen unverrückbar festen Untergrund des
metaphysischen Denkens in seinen Mysterien hatte, und dass
sich an den Olympiern alle seine skeptischen Anwandelungen
entladen konnten. Der griechische Künstler insbesondere
empfand im Hinblick auf diese Gottheiten ein dunkles Gefühl
wechselseitiger Abhängigkeit: und gerade im Prometheus des
Aeschylus ist dieses Gefühl symbolisirt. Der titanische Künstler
fand in sich den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und
olympische Götter wenigstens vernichten zu können: und
dies durch seine höhere Weisheit, die er freilich durch ewiges

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[—47—/0060] »Hier sitz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen, Zu geniessen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich!« Der Mensch, in's Titanische sich steigernd, erkämpft sich selbst seine Cultur und zwingt die Götter sich mit ihm zu verbinden, weil er in seiner selbsteignen Weisheit die Existenz und die Schranken derselben in seiner Hand hat. Das Wunderbarste an jenem Prometheusgedicht, das seinem Grundgedanken nach der eigentliche Hymnus der Unfrömmig¬ keit ist, ist aber der tiefe aeschyleische Zug nach Gerechtig¬ keit: das unermessliche Leid des kühnen »Einzelnen« auf der einen Seite, und die göttliche Noth, ja Ahnung einer Götterdämmerung auf der andern, die zur Versöhnung, zum metaphysischen Einssein zwingende Macht jener beiden Leidens¬ welten — dies alles erinnert auf das Stärkste an den Mittel¬ punkt und Hauptsatz der äschyleischen Weltbetrachtung, die über Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtig¬ keit thronen sieht. Bei der erstaunlichen Kühnheit, mit der Aeschylus die olympische Welt auf seine Gerechtigkeits¬ wagschalen stellt, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass der tiefsinnige Grieche einen unverrückbar festen Untergrund des metaphysischen Denkens in seinen Mysterien hatte, und dass sich an den Olympiern alle seine skeptischen Anwandelungen entladen konnten. Der griechische Künstler insbesondere empfand im Hinblick auf diese Gottheiten ein dunkles Gefühl wechselseitiger Abhängigkeit: und gerade im Prometheus des Aeschylus ist dieses Gefühl symbolisirt. Der titanische Künstler fand in sich den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und olympische Götter wenigstens vernichten zu können: und dies durch seine höhere Weisheit, die er freilich durch ewiges

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —47—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/60>, abgerufen am 27.04.2024.