Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

aus Incest geboren werden könne: was wir uns, im Hinblick
auf den räthsellösenden und seine Mutter freienden Oedipus,
sofort so zu interpretieren haben, dass dort, wo durch weis¬
sagende und magische Kräfte der Bann von Gegenwart und Zu¬
kunft, das starre Gesetz der Individuation, und überhaupt der
eigentliche Zauber der Natur gebrochen ist, eine ungeheure
Naturwidrigkeit -- wie dort der Incest -- als Ursache voraus¬
gegangen sein muss; denn wie könnte man die Natur zum
Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch,
dass man ihr siegreich widerstrebt, d. h. durch das Unnatür¬
liche? Diese Erkenntniss sehe ich in jener entsetzlichen Drei¬
heit der Oedipusschicksale ausgeprägt: derselbe, der das
Räthsel der Natur -- jener doppeltgearteten Sphinx -- löst,
muss auch als Mörder des Vaters und Gatte der Mutter die
heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja, der Mythus scheint
uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade die
dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der,
welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der
Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der
Natur zu erfahren habe. "Die Spitze der Weisheit kehrt
sich gegen den Weisen: Weisheit ist ein Verbrechen an der
Natur": solche schreckliche Sätze ruft uns der Mythus zu:
der hellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahl
die erhabene und furchtbare Memnonssäule des Mythus,
so dass er plötzlich zu tönen beginnt -- in sophokleischen
Melodieen!

Der Glorie der Passivität stelle ich jetzt die Glorie der
Activität gegenüber, welche den Prometheus des Aeschylus
umleuchtet. Was uns hier der Denker Aeschylus zu sagen
hatte, was er aber als Dichter durch sein gleichnissartiges
Bild uns nur ahnen lässt, das hat uns der jugendliche Goethe
in den verwegenen Worten seines Prometheus zu enthüllen
gewusst:

aus Incest geboren werden könne: was wir uns, im Hinblick
auf den räthsellösenden und seine Mutter freienden Oedipus,
sofort so zu interpretieren haben, dass dort, wo durch weis¬
sagende und magische Kräfte der Bann von Gegenwart und Zu¬
kunft, das starre Gesetz der Individuation, und überhaupt der
eigentliche Zauber der Natur gebrochen ist, eine ungeheure
Naturwidrigkeit — wie dort der Incest — als Ursache voraus¬
gegangen sein muss; denn wie könnte man die Natur zum
Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch,
dass man ihr siegreich widerstrebt, d. h. durch das Unnatür¬
liche? Diese Erkenntniss sehe ich in jener entsetzlichen Drei¬
heit der Oedipusschicksale ausgeprägt: derselbe, der das
Räthsel der Natur — jener doppeltgearteten Sphinx — löst,
muss auch als Mörder des Vaters und Gatte der Mutter die
heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja, der Mythus scheint
uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade die
dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der,
welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der
Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der
Natur zu erfahren habe. »Die Spitze der Weisheit kehrt
sich gegen den Weisen: Weisheit ist ein Verbrechen an der
Natur«: solche schreckliche Sätze ruft uns der Mythus zu:
der hellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahl
die erhabene und furchtbare Memnonssäule des Mythus,
so dass er plötzlich zu tönen beginnt — in sophokleischen
Melodieen!

Der Glorie der Passivität stelle ich jetzt die Glorie der
Activität gegenüber, welche den Prometheus des Aeschylus
umleuchtet. Was uns hier der Denker Aeschylus zu sagen
hatte, was er aber als Dichter durch sein gleichnissartiges
Bild uns nur ahnen lässt, das hat uns der jugendliche Goethe
in den verwegenen Worten seines Prometheus zu enthüllen
gewusst:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0059" n="46"/>
aus Incest geboren werden könne: was wir uns, im Hinblick<lb/>
auf den räthsellösenden und seine Mutter freienden Oedipus,<lb/>
sofort so zu interpretieren haben, dass dort, wo durch weis¬<lb/>
sagende und magische Kräfte der Bann von Gegenwart und Zu¬<lb/>
kunft, das starre Gesetz der Individuation, und überhaupt der<lb/>
eigentliche Zauber der Natur gebrochen ist, eine ungeheure<lb/>
Naturwidrigkeit &#x2014; wie dort der Incest &#x2014; als Ursache voraus¬<lb/>
gegangen sein muss; denn wie könnte man die Natur zum<lb/>
Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch,<lb/>
dass man ihr siegreich widerstrebt, d. h. durch das Unnatür¬<lb/>
liche? Diese Erkenntniss sehe ich in jener entsetzlichen Drei¬<lb/>
heit der Oedipusschicksale ausgeprägt: derselbe, der das<lb/>
Räthsel der Natur &#x2014; jener doppeltgearteten Sphinx &#x2014; löst,<lb/>
muss auch als Mörder des Vaters und Gatte der Mutter die<lb/>
heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja, der Mythus scheint<lb/>
uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade die<lb/>
dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der,<lb/>
welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der<lb/>
Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der<lb/>
Natur zu erfahren habe. »Die Spitze der Weisheit kehrt<lb/>
sich gegen den Weisen: Weisheit ist ein Verbrechen an der<lb/>
Natur«: solche schreckliche Sätze ruft uns der Mythus zu:<lb/>
der hellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahl<lb/>
die erhabene und furchtbare Memnonssäule des Mythus,<lb/>
so dass er plötzlich zu tönen beginnt &#x2014; in sophokleischen<lb/>
Melodieen!</p><lb/>
        <p>Der Glorie der Passivität stelle ich jetzt die Glorie der<lb/>
Activität gegenüber, welche den <hi rendition="#i">Prometheus</hi> des Aeschylus<lb/>
umleuchtet. Was uns hier der Denker Aeschylus zu sagen<lb/>
hatte, was er aber als Dichter durch sein gleichnissartiges<lb/>
Bild uns nur ahnen lässt, das hat uns der jugendliche Goethe<lb/>
in den verwegenen Worten seines Prometheus zu enthüllen<lb/>
gewusst:<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0059] aus Incest geboren werden könne: was wir uns, im Hinblick auf den räthsellösenden und seine Mutter freienden Oedipus, sofort so zu interpretieren haben, dass dort, wo durch weis¬ sagende und magische Kräfte der Bann von Gegenwart und Zu¬ kunft, das starre Gesetz der Individuation, und überhaupt der eigentliche Zauber der Natur gebrochen ist, eine ungeheure Naturwidrigkeit — wie dort der Incest — als Ursache voraus¬ gegangen sein muss; denn wie könnte man die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch, dass man ihr siegreich widerstrebt, d. h. durch das Unnatür¬ liche? Diese Erkenntniss sehe ich in jener entsetzlichen Drei¬ heit der Oedipusschicksale ausgeprägt: derselbe, der das Räthsel der Natur — jener doppeltgearteten Sphinx — löst, muss auch als Mörder des Vaters und Gatte der Mutter die heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja, der Mythus scheint uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade die dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der, welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren habe. »Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Weisen: Weisheit ist ein Verbrechen an der Natur«: solche schreckliche Sätze ruft uns der Mythus zu: der hellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahl die erhabene und furchtbare Memnonssäule des Mythus, so dass er plötzlich zu tönen beginnt — in sophokleischen Melodieen! Der Glorie der Passivität stelle ich jetzt die Glorie der Activität gegenüber, welche den Prometheus des Aeschylus umleuchtet. Was uns hier der Denker Aeschylus zu sagen hatte, was er aber als Dichter durch sein gleichnissartiges Bild uns nur ahnen lässt, das hat uns der jugendliche Goethe in den verwegenen Worten seines Prometheus zu enthüllen gewusst:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/59
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/59>, abgerufen am 23.11.2024.