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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Leiden zu büssen gezwungen war. Das herrliche "Können"
des grossen Genius, das selbst mit ewigem Leide zu gering
bezahlt ist, der herbe Stolz des Künstlers -- das ist Inhalt
und Seele der äschyleischen Dichtung, während Sophokles
in seinem Oedipus das Siegeslied des Heiligen präludirend
anstimmt. Aber auch mit jener Deutung, die Aeschylus
dem Mythus gegeben hat, ist dessen erstaunliche Schreckens¬
tiefe nicht ausgemessen: vielmehr ist die Werdelust des Künst¬
lers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen
Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich
auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt. Die Pro¬
metheussage ist ein ursprüngliches Eigenthum der gesammten
arischen Völkergemeinde und ein Document für deren Be¬
gabung zum Tiefsinnig-Tragischen, ja es möchte nicht ohne
Wahrscheinlichkeit sein, dass diesem Mythus für das arische
Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung innewohnt,
die der Sündenfallmythus für das semitische hat, und dass
zwischen beiden Mythen ein Verwandtschaftsgrad existiert,
wie zwischen Bruder und Schwester. Die Voraussetzung
jenes Prometheusmythus ist der überschwängliche Werth, den
eine naive Menschheit dem Feuer beilegt als dem wahren
Palladium jeder aufsteigenden Cultur: dass aber der Mensch
frei über das Feuer waltet und es nicht nur durch ein Ge¬
schenk vom Himmel, als zündenden Blitzstrahl oder wärmen¬
den Sonnenbrand empfängt, erschien jenen beschaulichen
Ur-Menschen als ein Frevel, als ein Raub an der göttlichen
Natur. Und so stellt gleich das erste philosophische Problem
einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischen Mensch
und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die
Pforte jeder Cultur. Das Beste und Höchste, dessen die
Menschheit theilhaftig werden kann, erringt sie durch einen
Frevel und muss nun wieder seine Folgen dahinnehmen,
nämlich die ganze Fluth von Leiden und von Kümmernissen,

Leiden zu büssen gezwungen war. Das herrliche »Können«
des grossen Genius, das selbst mit ewigem Leide zu gering
bezahlt ist, der herbe Stolz des Künstlers — das ist Inhalt
und Seele der äschyleischen Dichtung, während Sophokles
in seinem Oedipus das Siegeslied des Heiligen präludirend
anstimmt. Aber auch mit jener Deutung, die Aeschylus
dem Mythus gegeben hat, ist dessen erstaunliche Schreckens¬
tiefe nicht ausgemessen: vielmehr ist die Werdelust des Künst¬
lers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen
Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich
auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt. Die Pro¬
metheussage ist ein ursprüngliches Eigenthum der gesammten
arischen Völkergemeinde und ein Document für deren Be¬
gabung zum Tiefsinnig-Tragischen, ja es möchte nicht ohne
Wahrscheinlichkeit sein, dass diesem Mythus für das arische
Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung innewohnt,
die der Sündenfallmythus für das semitische hat, und dass
zwischen beiden Mythen ein Verwandtschaftsgrad existiert,
wie zwischen Bruder und Schwester. Die Voraussetzung
jenes Prometheusmythus ist der überschwängliche Werth, den
eine naive Menschheit dem Feuer beilegt als dem wahren
Palladium jeder aufsteigenden Cultur: dass aber der Mensch
frei über das Feuer waltet und es nicht nur durch ein Ge¬
schenk vom Himmel, als zündenden Blitzstrahl oder wärmen¬
den Sonnenbrand empfängt, erschien jenen beschaulichen
Ur-Menschen als ein Frevel, als ein Raub an der göttlichen
Natur. Und so stellt gleich das erste philosophische Problem
einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischen Mensch
und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die
Pforte jeder Cultur. Das Beste und Höchste, dessen die
Menschheit theilhaftig werden kann, erringt sie durch einen
Frevel und muss nun wieder seine Folgen dahinnehmen,
nämlich die ganze Fluth von Leiden und von Kümmernissen,

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[48/0061] Leiden zu büssen gezwungen war. Das herrliche »Können« des grossen Genius, das selbst mit ewigem Leide zu gering bezahlt ist, der herbe Stolz des Künstlers — das ist Inhalt und Seele der äschyleischen Dichtung, während Sophokles in seinem Oedipus das Siegeslied des Heiligen präludirend anstimmt. Aber auch mit jener Deutung, die Aeschylus dem Mythus gegeben hat, ist dessen erstaunliche Schreckens¬ tiefe nicht ausgemessen: vielmehr ist die Werdelust des Künst¬ lers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt. Die Pro¬ metheussage ist ein ursprüngliches Eigenthum der gesammten arischen Völkergemeinde und ein Document für deren Be¬ gabung zum Tiefsinnig-Tragischen, ja es möchte nicht ohne Wahrscheinlichkeit sein, dass diesem Mythus für das arische Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung innewohnt, die der Sündenfallmythus für das semitische hat, und dass zwischen beiden Mythen ein Verwandtschaftsgrad existiert, wie zwischen Bruder und Schwester. Die Voraussetzung jenes Prometheusmythus ist der überschwängliche Werth, den eine naive Menschheit dem Feuer beilegt als dem wahren Palladium jeder aufsteigenden Cultur: dass aber der Mensch frei über das Feuer waltet und es nicht nur durch ein Ge¬ schenk vom Himmel, als zündenden Blitzstrahl oder wärmen¬ den Sonnenbrand empfängt, erschien jenen beschaulichen Ur-Menschen als ein Frevel, als ein Raub an der göttlichen Natur. Und so stellt gleich das erste philosophische Problem einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischen Mensch und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die Pforte jeder Cultur. Das Beste und Höchste, dessen die Menschheit theilhaftig werden kann, erringt sie durch einen Frevel und muss nun wieder seine Folgen dahinnehmen, nämlich die ganze Fluth von Leiden und von Kümmernissen,

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/61>, abgerufen am 22.11.2024.