dieses Handeln wird ein höherer magischer Kreis von Wirk¬ ungen gezogen, die eine neue Welt auf den Ruinen der um¬ gestürzten alten gründen. Das will uns der Dichter, insofern er zugleich religiöser Denker ist, sagen: als Dichter zeigt er uns zuerst einen wunderbar geschürzten Prozessknoten, den der Richter langsam, Glied für Glied, zu seinem eigenen Ver¬ derben löst; die echt hellenische Freude an dieser dialektischen Lösung ist so gross, dass hierdurch ein Zug von überlegener Heiterkeit über das ganze Werk kommt, der den schauder¬ haften Voraussetzungen jenes Prozesses überall die Spitze abbricht. Im "Oedipus auf Kolonos" treffen wir diese selbe Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklärung emporgehoben: dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greise gegen¬ über, der allem, was ihn betrifft, rein als Leidender preisge¬ geben ist -- steht die überirdische Heiterkeit, die aus gött¬ licher Sphäre herniederkommt und uns andeutet, dass der traurige Held in seinem rein passiven Verhalten seine höchste Activität erlangt, die weit über sein Leben hinausgreift, während sein bewusstes Tichten und Trachten im früheren Leben ihn nur zur Passivität geführt hat. So wird der für das sterbliche Auge unauflöslich verschlungene Prozessknoten der Oedipusfabel langsam entwirrt -- und die tiefste mensch¬ liche Freude überkommt uns bei diesem göttlichen Gegenstück der Dialektik. Wenn wir mit dieser Erklärung dem Dichter gerecht geworden sind, so kann doch immer noch gefragt werden, ob damit der Inhalt des Mythus erschöpft ist: und hier zeigt sich, dass die ganze Auffassung des Dichters nichts ist als eben jenes Lichtbild, welches uns, nach einem Blick in den Abgrund, die heilende Natur vorhält. Oedipus der Mörder seines Vaters, der Gatte seiner Mutter, Oedipus der Räthsellöser der Sphinx! Was sagt uns die geheimnissvolle Dreiheit dieser Schicksalsthaten? Es giebt einen uralten, be¬ sonders persischen Volksglauben, dass ein weiser Magier nur
dieses Handeln wird ein höherer magischer Kreis von Wirk¬ ungen gezogen, die eine neue Welt auf den Ruinen der um¬ gestürzten alten gründen. Das will uns der Dichter, insofern er zugleich religiöser Denker ist, sagen: als Dichter zeigt er uns zuerst einen wunderbar geschürzten Prozessknoten, den der Richter langsam, Glied für Glied, zu seinem eigenen Ver¬ derben löst; die echt hellenische Freude an dieser dialektischen Lösung ist so gross, dass hierdurch ein Zug von überlegener Heiterkeit über das ganze Werk kommt, der den schauder¬ haften Voraussetzungen jenes Prozesses überall die Spitze abbricht. Im »Oedipus auf Kolonos« treffen wir diese selbe Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklärung emporgehoben: dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greise gegen¬ über, der allem, was ihn betrifft, rein als Leidender preisge¬ geben ist — steht die überirdische Heiterkeit, die aus gött¬ licher Sphäre herniederkommt und uns andeutet, dass der traurige Held in seinem rein passiven Verhalten seine höchste Activität erlangt, die weit über sein Leben hinausgreift, während sein bewusstes Tichten und Trachten im früheren Leben ihn nur zur Passivität geführt hat. So wird der für das sterbliche Auge unauflöslich verschlungene Prozessknoten der Oedipusfabel langsam entwirrt — und die tiefste mensch¬ liche Freude überkommt uns bei diesem göttlichen Gegenstück der Dialektik. Wenn wir mit dieser Erklärung dem Dichter gerecht geworden sind, so kann doch immer noch gefragt werden, ob damit der Inhalt des Mythus erschöpft ist: und hier zeigt sich, dass die ganze Auffassung des Dichters nichts ist als eben jenes Lichtbild, welches uns, nach einem Blick in den Abgrund, die heilende Natur vorhält. Oedipus der Mörder seines Vaters, der Gatte seiner Mutter, Oedipus der Räthsellöser der Sphinx! Was sagt uns die geheimnissvolle Dreiheit dieser Schicksalsthaten? Es giebt einen uralten, be¬ sonders persischen Volksglauben, dass ein weiser Magier nur
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dieses Handeln wird ein höherer magischer Kreis von Wirk¬
ungen gezogen, die eine neue Welt auf den Ruinen der um¬
gestürzten alten gründen. Das will uns der Dichter, insofern
er zugleich religiöser Denker ist, sagen: als Dichter zeigt er
uns zuerst einen wunderbar geschürzten Prozessknoten, den
der Richter langsam, Glied für Glied, zu seinem eigenen Ver¬
derben löst; die echt hellenische Freude an dieser dialektischen
Lösung ist so gross, dass hierdurch ein Zug von überlegener
Heiterkeit über das ganze Werk kommt, der den schauder¬
haften Voraussetzungen jenes Prozesses überall die Spitze
abbricht. Im »Oedipus auf Kolonos« treffen wir diese selbe
Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklärung emporgehoben:
dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greise gegen¬
über, der allem, was ihn betrifft, rein als Leidender preisge¬
geben ist — steht die überirdische Heiterkeit, die aus gött¬
licher Sphäre herniederkommt und uns andeutet, dass der
traurige Held in seinem rein passiven Verhalten seine höchste
Activität erlangt, die weit über sein Leben hinausgreift,
während sein bewusstes Tichten und Trachten im früheren
Leben ihn nur zur Passivität geführt hat. So wird der für
das sterbliche Auge unauflöslich verschlungene Prozessknoten
der Oedipusfabel langsam entwirrt — und die tiefste mensch¬
liche Freude überkommt uns bei diesem göttlichen Gegenstück
der Dialektik. Wenn wir mit dieser Erklärung dem Dichter
gerecht geworden sind, so kann doch immer noch gefragt
werden, ob damit der Inhalt des Mythus erschöpft ist: und
hier zeigt sich, dass die ganze Auffassung des Dichters nichts
ist als eben jenes Lichtbild, welches uns, nach einem Blick
in den Abgrund, die heilende Natur vorhält. Oedipus der
Mörder seines Vaters, der Gatte seiner Mutter, Oedipus der
Räthsellöser der Sphinx! Was sagt uns die geheimnissvolle
Dreiheit dieser Schicksalsthaten? Es giebt einen uralten, be¬
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/58>, abgerufen am 25.07.2024.
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