vom Blick in's Grauen der Nacht zu erlösen und das Subject durch den heilenden Balsam des Scheins aus dem Krampfe der Willensregungen zu retten -- zu einer leeren und zerstreuenden Ergetzlichkeitstendenz entarten werde? Was wird aus den ewigen Wahrheiten des Dionysischen und des Apollinischen, bei einer solchen Stilvermischung, wie ich sie am Wesen des stilo rappresentativo dargelegt habe? wo die Musik als Diener, das Textwort als Herr betrachtet, die Musik mit dem Körper, das Textwort mit der Seele ver¬ glichen wird? wo das höchste Ziel bestenfalls auf eine um¬ schreibende Tonmalerei gerichtet sein wird, ähnlich wie ehedem im neuen attischen Dithyrambus? wo der Musik ihre wahre Würde, dionysischer Weltspiegel zu sein, völlig entfremdet ist, so dass ihr nur übrig bleibt, als Sclavin der Erscheinung, das Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen und in dem Spiele der Linien und Proportionen eine äusserliche Ergetzung zu erregen. Einer strengen Betrachtung fällt dieser verhäng¬ nissvolle Einfluss der Oper auf die Musik geradezu mit der gesammten modernen Musikentwicklung zusammen; dem in der Genesis der Oper und im Wesen der durch sie repräsen¬ tirten Cultur lauernden Optimismus ist es in beängstigender Schnelligkeit gelungen, die Musik ihrer dionysischen Welt¬ bestimmung zu entkleiden und ihr einen formenspielerischen, vergnüglichen Charakter aufzuprägen: mit welcher Veränderung nur etwa die Metamorphose des äschyleischen Menschen in den alexandrinischen Heiterkeitsmenschen verglichen werden dürfte.
Wenn wir aber mit Recht in der hiermit angedeuteten Exemplification das Entschwinden des dionysischen Geistes mit einer höchst auffälligen, aber bisher unerklärten Um¬ wandlung und Degeneration des griechischen Menschen in Zusammenhang gebracht haben -- welche Hoffnungen müssen in uns aufleben, wenn uns die allersichersten Auspicien den umgekehrten Process, das allmähliche Erwachen des diony¬
vom Blick in's Grauen der Nacht zu erlösen und das Subject durch den heilenden Balsam des Scheins aus dem Krampfe der Willensregungen zu retten — zu einer leeren und zerstreuenden Ergetzlichkeitstendenz entarten werde? Was wird aus den ewigen Wahrheiten des Dionysischen und des Apollinischen, bei einer solchen Stilvermischung, wie ich sie am Wesen des stilo rappresentativo dargelegt habe? wo die Musik als Diener, das Textwort als Herr betrachtet, die Musik mit dem Körper, das Textwort mit der Seele ver¬ glichen wird? wo das höchste Ziel bestenfalls auf eine um¬ schreibende Tonmalerei gerichtet sein wird, ähnlich wie ehedem im neuen attischen Dithyrambus? wo der Musik ihre wahre Würde, dionysischer Weltspiegel zu sein, völlig entfremdet ist, so dass ihr nur übrig bleibt, als Sclavin der Erscheinung, das Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen und in dem Spiele der Linien und Proportionen eine äusserliche Ergetzung zu erregen. Einer strengen Betrachtung fällt dieser verhäng¬ nissvolle Einfluss der Oper auf die Musik geradezu mit der gesammten modernen Musikentwicklung zusammen; dem in der Genesis der Oper und im Wesen der durch sie repräsen¬ tirten Cultur lauernden Optimismus ist es in beängstigender Schnelligkeit gelungen, die Musik ihrer dionysischen Welt¬ bestimmung zu entkleiden und ihr einen formenspielerischen, vergnüglichen Charakter aufzuprägen: mit welcher Veränderung nur etwa die Metamorphose des äschyleischen Menschen in den alexandrinischen Heiterkeitsmenschen verglichen werden dürfte.
Wenn wir aber mit Recht in der hiermit angedeuteten Exemplification das Entschwinden des dionysischen Geistes mit einer höchst auffälligen, aber bisher unerklärten Um¬ wandlung und Degeneration des griechischen Menschen in Zusammenhang gebracht haben — welche Hoffnungen müssen in uns aufleben, wenn uns die allersichersten Auspicien den umgekehrten Process, das allmähliche Erwachen des diony¬
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vom Blick in's Grauen der Nacht zu erlösen und das
Subject durch den heilenden Balsam des Scheins aus dem
Krampfe der Willensregungen zu retten — zu einer leeren und
zerstreuenden Ergetzlichkeitstendenz entarten werde? Was
wird aus den ewigen Wahrheiten des Dionysischen und des
Apollinischen, bei einer solchen Stilvermischung, wie ich sie
am Wesen des stilo rappresentativo dargelegt habe? wo die
Musik als Diener, das Textwort als Herr betrachtet, die
Musik mit dem Körper, das Textwort mit der Seele ver¬
glichen wird? wo das höchste Ziel bestenfalls auf eine um¬
schreibende Tonmalerei gerichtet sein wird, ähnlich wie ehedem
im neuen attischen Dithyrambus? wo der Musik ihre wahre
Würde, dionysischer Weltspiegel zu sein, völlig entfremdet
ist, so dass ihr nur übrig bleibt, als Sclavin der Erscheinung,
das Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen und in dem
Spiele der Linien und Proportionen eine äusserliche Ergetzung
zu erregen. Einer strengen Betrachtung fällt dieser verhäng¬
nissvolle Einfluss der Oper auf die Musik geradezu mit der
gesammten modernen Musikentwicklung zusammen; dem in
der Genesis der Oper und im Wesen der durch sie repräsen¬
tirten Cultur lauernden Optimismus ist es in beängstigender
Schnelligkeit gelungen, die Musik ihrer dionysischen Welt¬
bestimmung zu entkleiden und ihr einen formenspielerischen,
vergnüglichen Charakter aufzuprägen: mit welcher Veränderung
nur etwa die Metamorphose des äschyleischen Menschen in den
alexandrinischen Heiterkeitsmenschen verglichen werden dürfte.
Wenn wir aber mit Recht in der hiermit angedeuteten
Exemplification das Entschwinden des dionysischen Geistes
mit einer höchst auffälligen, aber bisher unerklärten Um¬
wandlung und Degeneration des griechischen Menschen in
Zusammenhang gebracht haben — welche Hoffnungen müssen
in uns aufleben, wenn uns die allersichersten Auspicien den
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/124>, abgerufen am 09.02.2025.
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