sischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt, verbürgen! Es ist nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Herakles ewig im üppigen Frohndienste der Omphale erschlafft. Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Cultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Cultur als das Schrecklich-Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feind¬ selige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vor¬ nehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben. Was vermag die erkenntnisslüsterne Sokratik unserer Tage günstigsten Falls mit diesem aus unerschöpflichen Tiefen emporsteigenden Dämon zu beginnen? Weder von dem Zacken- und Arabeskenwerk der Opernmelodie aus, noch mit Hülfe des arithmetischen Rechenbretts der Fuge und der contrapunktischen Dialektik will sich die Formel finden lassen, in derem dreimal gewaltigen Licht man jenen Dämon sich unterwürfig zu machen und zum Reden zu zwingen ver¬ möchte. Welches Schauspiel, wenn jetzt unsere Aesthetiker, mit dem Fangnetz einer ihnen eignen "Schönheit", nach dem vor ihnen mit unbegreiflichem Leben sich tummelnden Musik¬ genius schlagen und haschen, unter Bewegungen, die nach der ewigen Schönheit ebensowenig als nach dem Erhabenen beurtheilt werden wollen. Man mag sich nur diese Musik¬ gönner einmal leibhaft und in der Nähe besehen, wenn sie so unermüdlich Schönheit! Schönheit! rufen, ob sie sich dabei wie die im Schoosse des Schönen gebildeten und verwöhnten Lieblingskinder der Natur ausnehmen oder ob sie nicht viel¬ mehr für die eigne Rohheit eine lügnerisch verhüllende Form, für die eigne empfindungsarme Nüchternheit einen ästhetischen Vorwand suchen: wobei ich z. B. an Otto Jahn denke. Vor der deutschen Musik aber mag sich der Lügner und Heuchler
sischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt, verbürgen! Es ist nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Herakles ewig im üppigen Frohndienste der Omphale erschlafft. Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Cultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Cultur als das Schrecklich-Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feind¬ selige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vor¬ nehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben. Was vermag die erkenntnisslüsterne Sokratik unserer Tage günstigsten Falls mit diesem aus unerschöpflichen Tiefen emporsteigenden Dämon zu beginnen? Weder von dem Zacken- und Arabeskenwerk der Opernmelodie aus, noch mit Hülfe des arithmetischen Rechenbretts der Fuge und der contrapunktischen Dialektik will sich die Formel finden lassen, in derem dreimal gewaltigen Licht man jenen Dämon sich unterwürfig zu machen und zum Reden zu zwingen ver¬ möchte. Welches Schauspiel, wenn jetzt unsere Aesthetiker, mit dem Fangnetz einer ihnen eignen »Schönheit«, nach dem vor ihnen mit unbegreiflichem Leben sich tummelnden Musik¬ genius schlagen und haschen, unter Bewegungen, die nach der ewigen Schönheit ebensowenig als nach dem Erhabenen beurtheilt werden wollen. Man mag ſich nur diese Musik¬ gönner einmal leibhaft und in der Nähe besehen, wenn sie so unermüdlich Schönheit! Schönheit! rufen, ob sie sich dabei wie die im Schoosse des Schönen gebildeten und verwöhnten Lieblingskinder der Natur ausnehmen oder ob sie nicht viel¬ mehr für die eigne Rohheit eine lügnerisch verhüllende Form, für die eigne empfindungsarme Nüchternheit einen ästhetischen Vorwand suchen: wobei ich z. B. an Otto Jahn denke. Vor der deutschen Musik aber mag sich der Lügner und Heuchler
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sischen Geistes in unserer gegenwärtigen Welt, verbürgen! Es
ist nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Herakles ewig
im üppigen Frohndienste der Omphale erschlafft. Aus dem
dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht
emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen
Cultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären
noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Cultur als
das Schrecklich-Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feind¬
selige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vor¬
nehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu
Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.
Was vermag die erkenntnisslüsterne Sokratik unserer Tage
günstigsten Falls mit diesem aus unerschöpflichen Tiefen
emporsteigenden Dämon zu beginnen? Weder von dem
Zacken- und Arabeskenwerk der Opernmelodie aus, noch
mit Hülfe des arithmetischen Rechenbretts der Fuge und der
contrapunktischen Dialektik will sich die Formel finden lassen,
in derem dreimal gewaltigen Licht man jenen Dämon sich
unterwürfig zu machen und zum Reden zu zwingen ver¬
möchte. Welches Schauspiel, wenn jetzt unsere Aesthetiker,
mit dem Fangnetz einer ihnen eignen »Schönheit«, nach dem
vor ihnen mit unbegreiflichem Leben sich tummelnden Musik¬
genius schlagen und haschen, unter Bewegungen, die nach
der ewigen Schönheit ebensowenig als nach dem Erhabenen
beurtheilt werden wollen. Man mag ſich nur diese Musik¬
gönner einmal leibhaft und in der Nähe besehen, wenn sie so
unermüdlich Schönheit! Schönheit! rufen, ob sie sich dabei
wie die im Schoosse des Schönen gebildeten und verwöhnten
Lieblingskinder der Natur ausnehmen oder ob sie nicht viel¬
mehr für die eigne Rohheit eine lügnerisch verhüllende Form,
für die eigne empfindungsarme Nüchternheit einen ästhetischen
Vorwand suchen: wobei ich z. B. an Otto Jahn denke. Vor
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/125>, abgerufen am 16.02.2025.
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