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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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immer als solchen wiederfinden müsse, falls er sich selbst
irgendwann einmal wirklich auf einige Zeit verloren habe, einzig
die Frucht jenes Optimismus, der aus der Tiefe der sokra¬
tischen Weltbetrachtung hier wie eine süsslich verführerische
Duftsäule emporsteigt.

Es liegt also auf den Zügen der Oper keinesfalls jener
elegische Schmerz eines ewigen Verlustes, vielmehr die Heiter¬
keit des ewigen Wiederfindens, die bequeme Lust an einer
idyllischen Wirklichkeit, die man wenigstens sich als wirklich
in jedem Augenblicke vorstellen kann: wobei man vielleicht
einmal ahnt, dass diese vermeinte Wirklichkeit nichts als ein
phantastisch läppisches Getändel ist, dem jeder, der es an
dem furchtbaren Ernst der wahren Natur zu messen und mit
den eigentlichen Urscenen der Menschheitsanfänge zu ver¬
gleichen vermöchte, mit Ekel zurufen müsste: Weg mit dem
Phantom! Trotzdem würde man sich täuschen, wenn man
glaubte, ein solches tändelndes Wesen, wie die Oper ist,
einfach durch einen kräftigen Anruf, wie ein Gespenst, ver¬
scheuchen zu können. Wer die Oper vernichten will, muss den
Kampf gegen jene alexandrinische Heiterkeit aufnehmen, die
sich in ihr so naiv über ihre Lieblingsvorstellung ausspricht,
ja deren eigentliche Kunstform sie ist. Was ist aber für die
Kunst selbst von dem Wirken einer Kunstform zu erwarten,
deren Ursprünge überhaupt nicht im ästhetischen Bereiche
liegen, die sich vielmehr aus einer halb moralischen Sphäre
auf das künstlerische Gebiet hinübergestohlen hat und über
diese hybride Entstehung nur hier und da einmal hin¬
wegzutäuschen vermochte? Von welchen Säften nährt sich
dieses parasitische Opernwesen, wenn nicht von denen
der wahren Kunst? Wird nicht zu muthmaassen sein,
dass, unter seinen idyllischen Verführungen, unter seinen
alexandrinischen Schmeichelkünsten, die höchste und wahr¬
haftig ernst zu nennende Aufgabe der Kunst -- das Auge

immer als solchen wiederfinden müsse, falls er sich selbst
irgendwann einmal wirklich auf einige Zeit verloren habe, einzig
die Frucht jenes Optimismus, der aus der Tiefe der sokra¬
tischen Weltbetrachtung hier wie eine süsslich verführerische
Duftsäule emporsteigt.

Es liegt also auf den Zügen der Oper keinesfalls jener
elegische Schmerz eines ewigen Verlustes, vielmehr die Heiter¬
keit des ewigen Wiederfindens, die bequeme Lust an einer
idyllischen Wirklichkeit, die man wenigstens sich als wirklich
in jedem Augenblicke vorstellen kann: wobei man vielleicht
einmal ahnt, dass diese vermeinte Wirklichkeit nichts als ein
phantastisch läppisches Getändel ist, dem jeder, der es an
dem furchtbaren Ernst der wahren Natur zu messen und mit
den eigentlichen Urscenen der Menschheitsanfänge zu ver¬
gleichen vermöchte, mit Ekel zurufen müsste: Weg mit dem
Phantom! Trotzdem würde man sich täuschen, wenn man
glaubte, ein solches tändelndes Wesen, wie die Oper ist,
einfach durch einen kräftigen Anruf, wie ein Gespenst, ver¬
scheuchen zu können. Wer die Oper vernichten will, muss den
Kampf gegen jene alexandrinische Heiterkeit aufnehmen, die
sich in ihr so naiv über ihre Lieblingsvorstellung ausspricht,
ja deren eigentliche Kunstform sie ist. Was ist aber für die
Kunst selbst von dem Wirken einer Kunstform zu erwarten,
deren Ursprünge überhaupt nicht im ästhetischen Bereiche
liegen, die sich vielmehr aus einer halb moralischen Sphäre
auf das künstlerische Gebiet hinübergestohlen hat und über
diese hybride Entstehung nur hier und da einmal hin¬
wegzutäuschen vermochte? Von welchen Säften nährt sich
dieses parasitische Opernwesen, wenn nicht von denen
der wahren Kunst? Wird nicht zu muthmaassen sein,
dass, unter seinen idyllischen Verführungen, unter seinen
alexandrinischen Schmeichelkünsten, die höchste und wahr¬
haftig ernst zu nennende Aufgabe der Kunst — das Auge

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[110/0123] immer als solchen wiederfinden müsse, falls er sich selbst irgendwann einmal wirklich auf einige Zeit verloren habe, einzig die Frucht jenes Optimismus, der aus der Tiefe der sokra¬ tischen Weltbetrachtung hier wie eine süsslich verführerische Duftsäule emporsteigt. Es liegt also auf den Zügen der Oper keinesfalls jener elegische Schmerz eines ewigen Verlustes, vielmehr die Heiter¬ keit des ewigen Wiederfindens, die bequeme Lust an einer idyllischen Wirklichkeit, die man wenigstens sich als wirklich in jedem Augenblicke vorstellen kann: wobei man vielleicht einmal ahnt, dass diese vermeinte Wirklichkeit nichts als ein phantastisch läppisches Getändel ist, dem jeder, der es an dem furchtbaren Ernst der wahren Natur zu messen und mit den eigentlichen Urscenen der Menschheitsanfänge zu ver¬ gleichen vermöchte, mit Ekel zurufen müsste: Weg mit dem Phantom! Trotzdem würde man sich täuschen, wenn man glaubte, ein solches tändelndes Wesen, wie die Oper ist, einfach durch einen kräftigen Anruf, wie ein Gespenst, ver¬ scheuchen zu können. Wer die Oper vernichten will, muss den Kampf gegen jene alexandrinische Heiterkeit aufnehmen, die sich in ihr so naiv über ihre Lieblingsvorstellung ausspricht, ja deren eigentliche Kunstform sie ist. Was ist aber für die Kunst selbst von dem Wirken einer Kunstform zu erwarten, deren Ursprünge überhaupt nicht im ästhetischen Bereiche liegen, die sich vielmehr aus einer halb moralischen Sphäre auf das künstlerische Gebiet hinübergestohlen hat und über diese hybride Entstehung nur hier und da einmal hin¬ wegzutäuschen vermochte? Von welchen Säften nährt sich dieses parasitische Opernwesen, wenn nicht von denen der wahren Kunst? Wird nicht zu muthmaassen sein, dass, unter seinen idyllischen Verführungen, unter seinen alexandrinischen Schmeichelkünsten, die höchste und wahr¬ haftig ernst zu nennende Aufgabe der Kunst — das Auge

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/123>, abgerufen am 22.11.2024.