Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.uns allein der Ausdrucksweise und Erklärungi Schillers zu be¬ uns allein der Ausdrucksweise und Erklärungi Schillers zu be¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0122" n="109"/> uns allein der Ausdrucksweise und Erklärungi Schillers zu be¬<lb/> dienen hätten. Entweder, sagt dieser, ist die Natur und das<lb/> Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses<lb/> als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand<lb/> der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erste<lb/> giebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester<lb/> Bedeutung. Hier ist nun sofort auf das gemeinsame Merkmal<lb/> jener beiden Vorstellungen in der Operngenesis aufmerksam<lb/> zu machen, dass in ihnen das Ideal nicht als unerreicht, die<lb/> Natur nicht als verloren empfunden wird. Es gab nach dieser<lb/> Empfindung eine Urzeit des Menschen, in der er am Herzen<lb/> der Natur lag und bei dieser Natürlichkeit zugleich das Ideal<lb/> der Menschheit, in einer paradiesischen Güte und Künstler¬<lb/> schaft, erreicht hatte: als von welchem vollkommnen Ur¬<lb/> menschen wir alle abstammen sollten, ja dessen getreues<lb/> Ebenbild wir noch wären: nur müssten wir Einiges von uns<lb/> werfen, um uns selbst wieder als diesen Urmenschen zu er¬<lb/> kennen, vermöge einer freiwilligen Entäusserung von über¬<lb/> flüssiger Gelehrsamkeit, von überreicher Cultur. Der Bildungs¬<lb/> mensch der Renaissance liess sich durch seine opernhafte<lb/> Imitation der griechischen Tragödie zu einem solchen Zu¬<lb/> sammenklang von Natur und Ideal, zu einer idyllischen Wirk¬<lb/> lichkeit zurückgeleiten, er benutzte diese Tragödie, wie Dante<lb/> den Virgil benutzte, um bis an die Pforten des Paradieses<lb/> geführt zu werden: während er von hier aus selbständig noch<lb/> weiter schritt und von einer Imitation der höchsten griechischen<lb/> Kunstform zu einer »Wiederbringung aller Dinge«, zu einer<lb/> Nachbildung der ursprünglichen Kunstwelt des Menschen über¬<lb/> ging. Welche zuversichtliche Gutmüthigkeit dieser verwe¬<lb/> genen Bestrebungen, mitten im Schoosse der theoretischen<lb/> Cultur! — einzig nur aus dem tröstenden Glauben zu erklären,<lb/> dass »der Mensch an sich« der ewig tugendhafte Opernheld,<lb/> der ewig flötende oder singende Schäfer sei, der sich endlich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [109/0122]
uns allein der Ausdrucksweise und Erklärungi Schillers zu be¬
dienen hätten. Entweder, sagt dieser, ist die Natur und das
Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses
als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand
der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erste
giebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester
Bedeutung. Hier ist nun sofort auf das gemeinsame Merkmal
jener beiden Vorstellungen in der Operngenesis aufmerksam
zu machen, dass in ihnen das Ideal nicht als unerreicht, die
Natur nicht als verloren empfunden wird. Es gab nach dieser
Empfindung eine Urzeit des Menschen, in der er am Herzen
der Natur lag und bei dieser Natürlichkeit zugleich das Ideal
der Menschheit, in einer paradiesischen Güte und Künstler¬
schaft, erreicht hatte: als von welchem vollkommnen Ur¬
menschen wir alle abstammen sollten, ja dessen getreues
Ebenbild wir noch wären: nur müssten wir Einiges von uns
werfen, um uns selbst wieder als diesen Urmenschen zu er¬
kennen, vermöge einer freiwilligen Entäusserung von über¬
flüssiger Gelehrsamkeit, von überreicher Cultur. Der Bildungs¬
mensch der Renaissance liess sich durch seine opernhafte
Imitation der griechischen Tragödie zu einem solchen Zu¬
sammenklang von Natur und Ideal, zu einer idyllischen Wirk¬
lichkeit zurückgeleiten, er benutzte diese Tragödie, wie Dante
den Virgil benutzte, um bis an die Pforten des Paradieses
geführt zu werden: während er von hier aus selbständig noch
weiter schritt und von einer Imitation der höchsten griechischen
Kunstform zu einer »Wiederbringung aller Dinge«, zu einer
Nachbildung der ursprünglichen Kunstwelt des Menschen über¬
ging. Welche zuversichtliche Gutmüthigkeit dieser verwe¬
genen Bestrebungen, mitten im Schoosse der theoretischen
Cultur! — einzig nur aus dem tröstenden Glauben zu erklären,
dass »der Mensch an sich« der ewig tugendhafte Opernheld,
der ewig flötende oder singende Schäfer sei, der sich endlich
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